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Ian Kershaw zum Brexit: "Theresa May könnte bald weg vom Fenster sein"


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Ian Kershaw zum Brexit
"Der Brexit kann der Anfang vom Ende der EU werden"

InterviewVon Florian Harms und Marc von Lüpke

Aktualisiert am 24.09.2022Lesedauer: 9 Min.
Theresa May beim Brexit-Gipfel der EU in Brüssel: Ian Kershaw nimmt die britische Premierministerin für ihr Verhalten in die Kritik.Vergrößern des Bildes
Theresa May beim Brexit-Gipfel der EU in Brüssel: Ian Kershaw nimmt die britische Premierministerin für ihr Verhalten in die Kritik. (Quelle: Yves Herman/reuters)

Der Brexit ist zum Chaos ausgeartet: Historiker Ian Kershaw erklärt, warum die EU bei vielen Briten so verhasst ist – und was das mit dem Zweiten Weltkrieg und der Flüchtlingskrise 2015 zu tun hat.

Dreimal ist Theresa May im Unterhaus mit ihrem Brexit-Vertrag gescheitert, nun ist der 31. Oktober die neue Gnadenfrist der EU. Der britische Historiker Ian Kershaw erklärt im Interview mit t-online.de, warum Mays Niederlagen und der neue Aufschub gut sind.

Das Chaos um den Brexit und die tiefe Abneigung vieler Briten gegenüber Europa erscheinen vielen Deutschen unverständlich – auch dafür hat Kershaw Erklärungen. Ein Gespräch über den Niedergang eines Empire, Enttäuschung über die Eliten und das Versagen der Politik.

t-online.de: Professor Kershaw, die meisten Deutschen verstehen das Chaos in Großbritannien beim Brexit nicht mehr. Können Sie es erklären?

Ian Kershaw: Im Prinzip ist es sehr einfach: Die britische Bevölkerung ist beim Thema Brexit tief gespalten, das Parlament wiederum ist die Vertretung des Volkes. Insofern ist es kein Wunder, dass auch das Unterhaus in dieser Frage uneins ist.

Wegen der mehrmaligen Ablehnung des Brexit-Vertrages wird das Unterhaus stark kritisiert.

Das Unterhaus ist in der Tat ziemlich in die Schusslinie gekommen. Die Abgeordneten können sich nicht entscheiden, lautet der Vorwurf vieler Briten, sie würden ein Chaos verursachen. Ich verteidige das Parlament aber entschieden.

Das müssen Sie erklären.

Die Aufgabe eines Parlaments besteht darin, die Arbeit der Regierung zu kontrollieren. Und genau das tut das Unterhaus doch gerade mit Erfolg. Zumindest aufseiten der Labour-Party. Daneben gibt es natürlich noch die Brexit-Hardliner bei den Konservativen, die überhaupt nicht zufrieden gestellt werden können.

Ian Kershaw, geboren 1943, lehrte bis zu seiner Emeritierung Modern History an der Universität Sheffield. Seine zweibändige Hitler-Biografie ist ein Standardwerk zur Geschichte des Nationalsozialismus, 2002 wurde der Historiker von der Queen zum Ritter geschlagen. Mit "Höllensturz" veröffentlichte Kershaw 2016 den ersten Band seiner Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, kürzlich folgte mit "Achterbahn. Europa 1950 bis heute" der zweite Teil.

Diese Erfahrung hat auch die Premierministerin gemacht.

Es ist fatal, dass Theresa May gleich zu Beginn ihrer Amtszeit ausgerechnet auf diese Leute gesetzt hat. Eigentlich wäre es viel vernünftiger gewesen, wenn die Premierministerin nach Kompromissmöglichkeiten gesucht hätte. Gerade angesichts des sehr knappen Ergebnisses des Brexit-Referendums von 2016. Stattdessen hat May gleich den Schulterschluss mit den Hardlinern in ihrer Partei gesucht. Einfach um die Konservativen zusammenzuhalten.

Was viele Deutsche erstaunt ist, dass Theresa May in ihrer vorherigen Zeit als Ministerin gegen den Brexit war.

May behauptet, dass sie für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hat. Nach kurzer Zeit entwickelte sie aber den Eifer der Konvertitin für den Brexit. Und legte ganz früh ihre roten Linien dafür fest: raus aus der Zollunion, raus aus dem Binnenmarkt. Damit hat sie sich allerdings selbst in die Ecke gedrängt. Wenn sie damals etwas flexibler gewesen wäre und bereit zur Verständigung mit der Opposition, dann wären wir aller Voraussicht nach niemals in der heutigen Situation gelandet.

Ist das gegenwärtige Brexit-Chaos also die Folge eines Politikversagens?

Absolut. Aber die Politik versagte ursprünglich bereits bei der Vorbereitung des Brexit-Referendums. Dabei wurde eine sehr einfache Antwort auf eine sehr komplizierte Frage verlangt: "Verbleib in der Europäischen Union – Ja oder Nein?" Es wurde keinerlei Rücksicht genommen auf die teils erheblichen Unterschiede in Großbritannien zwischen England, Wales, Schottland und Nordirland. Bei einer so existentiellen Frage hätte man etwa auch die notwendige Zustimmungsrate für den Brexit auf 60 Prozent festlegen können.

Diesen Fehler kann man aber nicht Theresa May anlasten.

Das war ganz klar das historische Versagen ihres Vorgängers David Cameron. Bei Camerons Entscheidung zum Brexit-Referendum spielte schlichtweg Arroganz eine Rolle. 2014 hatten die Schotten für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt, also glaubte Cameron, dass er spielend auch noch das Brexit-Referendum überstehen würde. Um damit im Rücken noch bessere Konditionen bei den Verhandlungen mit den anderen EU-Ländern für Großbritannien rausschlagen zu können. Für Warnungen war er völlig unempfänglich: Dabei war jedem klar, der sich damals mit der Stimmung im Lande beschäftigte, dass die Abstimmung sehr knapp ausgehen würde.

David Cameron war arrogant, aber wie lässt sich Theresa May charakterisieren?

Theresa May ist nicht arrogant, ihr Verhalten ist aber borniert. Sie hat geglaubt, den Brexit einfach durch Hartnäckigkeit durchziehen zu können. Und das ohne Beteiligung des Parlaments. Dann entschied sie sich 2017 auch noch für Neuwahlen, um ein stärkeres Mandat für ihre Politik zu erhalten. Und ist jetzt völlig von der nordirischen Democratic Unionist Party abhängig. Zehn Abgeordnete, die noch nicht einmal die Mehrheitsmeinung in Nordirland vertreten. Geschweige denn die in Großbritannien. Das war eine krasse Fehlkalkulation von May.

Sprechen wir über die Stimmung in Großbritannien. Warum ist die Europäische Union bei vielen Briten geradezu verhasst?

Als wir 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitraten, befand sich das Land in einer wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeit. Großbritannien ist der EU also aus Schwäche beigetreten. Und sehr halbherzig. Bei den meisten Briten war keinerlei Idealismus für Europa vorhanden. Der Beitritt war gewissermaßen eine wirtschaftliche Transaktion: Es hat sich halt gelohnt, dem gemeinsamen Markt beizutreten.

Europa entwickelte sich allerdings zu mehr als einer reinen Wirtschaftsunion.

Es war vor allem der EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, der die Idee einer politischen Integration Ende der Achtzigerjahre vorantrieb. Unsere damalige Premierministerin Margaret Thatcher war empört und hat das rundweg abgelehnt. "No, no, no", sagte sie im Unterhaus dazu. Das war der Beginn der großen Aversion der Briten gegen die EU. Der Vertrag von Maastricht 1992 machte diese Abneigung dann noch größer und brachte die Gruppe der Euroskeptiker innerhalb der Konservativen Partei hervor. Aber eigentlich ist diese Bezeichnung falsch. Diese Leute sind geradezu europhob.

Großbritannien war einst eine Großmacht, dann folgte ein Jahrzehnte währender Niedergang. Spielt das eine Rolle?

In gewissem Sinn. Dabei ist es gar nicht die Erinnerung an das alte Empire, sondern eher an den Zweiten Weltkrieg, die bei manchen älteren Leuten und Konservativen die Aversionen gegenüber der EU vergrößert. Diese Menschen denken an das Jahr 1940, als Großbritannien Hitler und die Wehrmacht erfolgreich abwehrte. Auf diese Leistung ist man stolz, auch wenn wir nach dem Krieg quasi bankrott und vollständig von den USA abhängig waren. Manche Briten denken heutzutage noch: Wir haben Europa von den Nazis befreit – und die Europäer sind nicht einmal dankbar dafür.

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Gibt es auch Gründe in der jüngeren Vergangenheit, die die Zahl der Brexit-Befürworter vergrößerte?

In der Tat. Großbritannien hat seit 2000 im Grunde eine dreifache Krise erlebt. Zunächst die sogenannte Zuwanderungskrise. Seit der Osterweitung der EU kamen zahlreiche Menschen vor allem aus Polen in das Vereinigte Königreich, das schürte bei vielen Briten die Angst vor einem Identitätsverlust.


Und vergrößerte auch die Abneigung gegen Europa.

Richtig. Dann kam 2008 die große Finanz- und Wirtschaftskrise, die zu einer rigorosen Sparpolitik der konservativen-liberalen Regierung unter David Cameron führte. Die Kürzungen trafen vor allem die britische Unter- und Mittelschicht. Und das verstärkt in den ehemaligen Industriegebieten, wo die Menschen ohnehin nicht sehr europafreundlich sind.

Was war die dritte Krise?

Die Flüchtlingskrise 2015, die Großbritannien natürlich nicht direkt betraf. Aber viele Briten schauten fassungslos auf das Chaos auf dem Festland – und waren nun überzeugt, dass Großbritannien die EU verlassen müsse, um die Einwanderung wieder kontrollieren zu können. Das alles führte dazu, dass die britische Zugehörigkeit zur Europäischen Union zum dominierenden Thema wurde.

Tatsächlich wird die EU aber auch für Fehler haftbar gemacht, die eigentlich die britische Politik begangen hat.

Für unpopuläre Entscheidungen oder Fehler sucht man gerne einen Sündenbock – und den findet man meist in Brüssel. Die EU ist allerdings auch ein bisschen selbst schuld daran, weil ihre Kommunikation schlecht ist. Viele Menschen sehen nicht, welche Vorteile die EU den Menschen bringt.

Trotzdem lässt sich aus Ihren Aussagen schlussfolgern, dass die Briten im Prinzip nicht allein mit der EU hadern, sondern vor allem mit ihren eigenen Eliten.

Man muss vorsichtig sein: Populisten konstruieren diesen vermeintlichen Gegensatz für ihre eigenen Zwecke. Es ist aber in der Tat so, dass der empfundene Abstand zwischen den sogenannten Eliten und dem Volk, so schwierig dieses auch zu definieren ist, im Laufe der Zeit bei uns immer größer wurde. Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie keinerlei Vorteil aus der derzeitigen Politik ziehen, seit Beginn der Sparpolitik 2010 ist das natürlich noch viel gravierender geworden.

Früher war "Made in England" ein weit verbreitetes Siegel auf Produkten, mittlerweile ist Großbritannien auf dem besten Weg ein postindustrielles Land zu werden. Wie denken die Briten darüber?

Die Menschen sind sich bewusst, dass wir in England kaum mehr etwas herstellen. Natürlich gibt es etwa noch eine Automobilindustrie, aber die Eigentümer stammen in der Regel aus dem Ausland. Der Anteil der verarbeitenden Industrie ist auf etwa 20 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts gesunken. Das ist insbesondere für die Leute in den Industriegebieten alles andere als eine positive Entwicklung.

Im Bereich der umstrittenen Finanzprodukte ist London immer noch ein Spitzenreiter.

Als Finanzmarkt ist London natürlich sehr stark – aber was hat denn etwa Nordengland davon? Das Leben in der City von London unterscheidet sich stark von dem des übrigen Landes. Die Hauptstadt spielt eine derart dominierende Rolle in Großbritannien, nicht zu vergleichen etwa mit Berlin. Alles zentralisiert sich in London, viele Menschen im Rest des Landes fühlen sich aber vernachlässigt von den dort lebenden Eliten.

Werden die Gegensätze in Großbritannien irgendwann wieder schwinden?

Es wird sicher Generationen dauern. Nehmen wir das Beispiel Manchester, wo ich lebe. Dort haben 2016 mehr als 60 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt. In meiner Geburtsstadt Oldham, etwa zehn Kilometer entfernt, haben dagegen mehr als 60 Prozent für den Brexit gestimmt. Wenn Sie dorthin fahren, sehen Sie warum: Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen dem armen Oldham und dem relativ wohlhabenden Manchester. Und das ist das große Unheil: In anderen ehemaligen Industriegebieten in Großbritannien sieht es ähnlich aus.

Kommen wir noch einmal auf das derzeitige Chaos um den Brexit zurück. Wird der nun gewährte Aufschub bis zum 31. Oktober eine Lösung bringen?

Das hoffe ich. Man braucht die zusätzliche Zeit, um sich ein neues Konzept auszudenken, um entweder den Brexit oder auch einen Verbleib in der EU vorzubereiten. Vielleicht auch ein neues Referendum, das dann ein anderes Ergebnis bringt. Es gibt beim Brexit also Hoffnung. Was am Ende herauskommt, weiß niemand. Auch nicht Theresa May.

Für Mays Brexit-Vertrag in der bisherigen Form besteht keine Hoffnung?

Wahrscheinlich nicht. Er wurde dreimal im Unterhaus abgelehnt, dadurch kam es endlich zu der dringend notwendigen Debatte im Unterhaus über den Brexit. Und zu Gesprächen mit der Opposition.

Wird dabei ein Kompromiss herauskommen? Und wird Theresa May politisch überleben?

Theresa May könnte bald weg vom Fenster sein und durch einen Hardliner – möglicherweise Boris Johnson – ersetzt werden. Dann ist alles wieder offen. Es ist zudem nicht unmöglich, aber wenig wahrscheinlich, dass das Parlament zu einer Einigung gelangt. Die Kluft zwischen Labour und den Konservativen ist einfach zu groß. Unser tradiertes politisches System ist auf Gegensätzen gebaut, die Kompromissbereitschaft nicht sehr ausgeprägt. Ganz anders als etwa in Deutschland. Nehmen sie das Unterhaus, da sitzen sich Opposition und Regierung frontal in geringem Abstand gegenüber. Auch dies trägt dazu bei, dass jede Diskussion schnell in einer Konfrontation endet. Wenn jemand von Labour dies sagt, fühlt sich ein Konservativer gezwungen zu widersprechen.

Was bedeutet der Brexit Ihrer Ansicht nach für Europa?

Der Brexit ist ein Zeichen dafür, dass Europa derzeit bröckelt. Es ist natürlich kein Ruhmesblatt für die EU, wenn ihr ein derart großes Land den Rücken kehrt. Also können wir schon von einer kritischen Phase für Europa sprechen.

Vor dem Hintergrund des Brexit: Wie wird sich Europa entwickeln?

Als Historiker liegt meine Kompetenz natürlich eher in der Bewertung der Vergangenheit als in Prognosen, was künftig geschieht. Vielleicht so viel gesagt: Im schlimmsten Fall kann der Brexit der Anfang des Endes der EU werden. Es kann aber ebenso gut sein, dass sich das übrige Europa enger zusammenschließt. Genauso gut könnte eine mehrgleisige EU entstehen, mit Ländern aus der Eurozone, die eine ganz enge Verbindung suchen, sowie Ländern, die einen geringeren Grad der Vernetzung haben.

Wenn Großbritannien tatsächlich aus der EU austritt: Halten Sie es für möglich, dass die Briten irgendwann wieder zurückkehren werden?

Möglich ist alles. Aber es ist sehr unwahrscheinlich. Wir Briten haben in der EU sehr gute Bedingungen genossen, von vielen Ausnahmeregelungen profitiert. Würden wir die wieder bekommen, wenn wir einen neuen Aufnahmeantrag stellen? Eher nicht.


Welche Eigenschaften wünschen Sie den europäischen Staats- und Regierungschefs in der Brexit-Krise?

Weisheit, Geduld und Weitsicht.

Keine Kompromissbereitschaft?

Kompromissbereitschaft ist doch eine Selbstverständlichkeit. Die allerdings bei den Brexit-Hardlinern kaum vorkommt. Nehmen Sie Theresa May: Kompromissbereitschaft ist bei ihr kaum festzustellen, Weisheit war bislang auch nicht zu erkennen.

Tragisch.

In der Tat.

Professor Kershaw, vielen Dank für das Gespräch.

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