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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Italiens radikale Weigerung Auf einmal hat sie Rückenwind
Die italienische Regierung bricht europäisches Recht, verärgert Frankreich – und feiert dennoch in der EU einen Erfolg. Wie es dazu kommen konnte.
Es ist ein großes Versprechen, das Italiens neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ihrem Volk gemacht hat: Sie will die illegale Migration stoppen. Im Wahlkampf wetterte sie gegen die Migrationspolitik der EU, gegen die der vorherigen Regierungen – und ging wohl unter anderem auch deshalb mit ihrer Partei, der postfaschistischen Fratelli d'Italia, als Siegerin aus den vorgezogenen Parlamentswahlen hervor.
Bis sie ernst machte, dauerte es nach ihrem Amtsantritt Ende Oktober nicht lange. In einem radikalen Schritt verweigerte ihre Regierung Anfang November privaten Rettungsschiffen die Einfahrt in italienische Häfen – gegen geltendes Recht. Und obwohl das zu einem diplomatischen Zerwürfnis mit Frankreich führte, erhält Meloni nun sogar Rückenwind von der EU. Wie konnte es so weit kommen?
Rettungsschiff wird zu europäischem Politikum
Zeitsprung in die zweite Novemberwoche: Schiffe von privaten Seenotrettern lagen mit mehreren Hundert Menschen an Bord bereits tagelang vor der italienischen Küste. Die Situationen an Bord spitzten sich zu:
Auf der deutschen "Humanity 1" waren rund 30 Migranten in einen Hungerstreik getreten, von der norwegischen "Geo Barents" sprangen drei Menschen ins Hafenbecken von Catania, um an Land zu schwimmen. Während die Menschen auf diesen beiden Schiffen schlussendlich auf Veranlassung der Gesundheitsbehörden an Land gehen durften, entwickelte sich um ein drittes Schiff, die norwegische "Ocean Viking", ein europäisches Politikum.
Zunächst schaltete sich die EU-Kommission ein und forderte Italien in scharfem Ton auf, dem Schiff unverzüglich einen Hafen zuzuweisen. "Die rechtliche Verpflichtung zur Rettung und zur Gewährleistung der Sicherheit des Lebens auf See ist klar und eindeutig – unabhängig von den Umständen, die die Menschen in Not versetzen", hieß es in der Mitteilung.
Wie viel Symbolpolitik seitens Italiens dahintersteckt, zeigten derweil die Schiffe der italienischen Küstenwache: Während die privaten Seenotretter vor der Küste lagen, brachten sie ungestört Gerettete an Land. Ohnehin kommt nur der kleinste Teil der Migranten über Rettungsschiffe an – ein Großteil erreicht Italien mit eigenen Booten.
Italien verärgert Frankreich
Kurz darauf verkündete die italienische Regierung einen Erfolg: Die Nachrichtenagentur Ansa berichtete, dass Meloni am Rande des Klimagipfels einen Deal mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eingefädelt habe: Das Schiff dürfe einen französischen Hafen ansteuern.
Meloni bedankte sich öffentlich bei Macron, und der Koalitionspartner, die rechtspopulistische Lega, schickte einen Jubel-Tweet in die Welt: "Die harte Linie zahlt sich aus: Die Franzosen öffnen ihre Türen", hieß es darin. Dazu teilte die Partei eine Bildcollage mit dem lachenden Parteichef Matteo Salvini vor dem Rettungsboot. Der heutige Infrastrukturminister wurde mit den Worten zitiert: "L'aria è cambiata", frei übersetzt etwa: "Der Wind dreht sich".
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Doch glaubt man der französischen Regierung, hat es diese Zusage nie gegeben. Dementsprechend wütend reagierte sie: "Die italienische Haltung ist inakzeptabel", sagte ein Sprecher im französischen Fernsehen. Er verwies darauf, dass Rettungsschiffe das Recht haben, in den nächstgelegenen Hafen zu fahren – und schickte eine weitere Breitseite hinterher. "Die europäischen Regeln sind sehr deutlich und wurden von Italien akzeptiert, das zudem der größte Empfänger einer solidarischen EU-Finanzhilfe ist." Das Schiff lief dennoch am 11. November die französische Hafenstadt Toulon an.
Frankreich legt Abkommen auf Eis
Dass die französische Regierung solch scharfe Worte wählt, ist recht ungewöhnlich. Doch dabei blieb es nicht. Der französische Innenminister Gérald Darmanin warnte die italienische Regierung nicht nur vor "äußerst schwerwiegenden Folgen für unsere bilateralen Beziehungen". Wie auch Italien setzte er die Asylbewerber als Spielball ein und legte ein Abkommen auf Eis, nach dem Frankreich Italien Asylbewerber hätte abnehmen sollen. Meloni wiederum sprach von Verrat und Salvini kommentierte: "Eigentlich müsste es Italien sein, das protestiert".
Damit sprach Salvini einen wunden Punkt an. Denn ein Großteil der Migranten kommt in südeuropäischen Staaten an, einen Umverteilungsmechanismus in der EU gibt es aber nicht. Im Sommer hatten sich dann Frankreich, Deutschland und elf weitere EU-Staaten freiwillig bereit erklärt, Italien und anderen Hauptankunftsstaaten Asylbewerber abzunehmen, um diese zu entlasten. Das wurde als große Einigung gefeiert, von einem "wichtigen Durchbruch" sprach die deutsche Innenministerin Nancy Faeser. Allein Deutschland und Frankreich wollten je 3.500 Menschen umsiedeln.
EU kommt Italien entgegen
Doch passiert ist bislang kaum etwas. "Wir haben Zusagen für mehr als 8.000 Umsiedlungen, aber bis heute wurden nur etwa 100 umgesiedelt", bilanzierte die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson Anfang der Woche. Die Kommission legte zudem einen Aktionsplan vor, in dem sie fordert, dass der sogenannte Solidaritätsmechanismus besser genutzt werden müsse. Von einem Scheitern des Abkommens will sie nicht sprechen, es müsse aber an der Geschwindigkeit gearbeitet werden.
Zudem deutet sich ein Kurswechsel bei den privaten Seenotrettern an: "Die heutige Situation mit den privaten Schiffen, die auf See operieren, ist ein Szenario, dem es noch an ausreichender Klarheit mangelt", sagte Johansson. "Diese aktuelle Herausforderung wurde nicht bedacht, als das Seerecht zum ersten Mal vereinbart wurde."
Sie rief zu mehr Kooperation zwischen den Staaten, unter deren Flaggen die Schiffe laufen, und den Mittelmeerstaaten auf. Auch in diesem Punkt kommt die EU der italienischen Position entgegen: Innenminister Matteo Piantedosi hatte zuvor gefordert, erstere Staaten müssten komplett für die geretteten Migranten verantwortlich sein.
Fronten bleiben verhärtet
Auf Druck Italiens wurde zudem für diesen Freitag ein EU-Sondergipfel der Innenminister angesetzt. Dort zeigte sich, wie verhärtet die Fronten zwischen Frankreich und Italien sind. Darmanin warf Italien nochmals vor, mit der Schließung seiner Häfen für Rettungsschiffe das "Seerecht zu missachten". Damit gebe es für Frankreich wie auch für Deutschland weiter "keinen Grund", Asylbewerber zu übernehmen. Innenministerin Faeser selbst war bei dem Treffen aus Termingründen nicht dabei.
EU-Innenkommissarin Johansson verzichtete in einem Statement vor dem Treffen jedoch darauf, Italien für den Rechtsbruch zu kritisieren. Auf den Streit zwischen Frankreich und Italien angesprochen, sagte sie, die Gespräche befänden sich auf einer konstruktiven Ebene. Die italienische Regierung dürfte das als Erfolg verbuchen.
- Eigene Recherche
- Mit Material aus den Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
- audiovisual.ec.europa.eu: Extraordinary Home Affairs Council