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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kindesmisshandlung So viele Kinder in Deutschland werden misshandelt
Kevin, Lea Sofie und Jason. Diese drei Namen stehen für Fälle von tödlicher Kindesmisshandlung, die die Menschen in Deutschland schockiert haben. Sie stehen aber auch stellvertretend für 100.000 Babys, Kindern und Jugendlichen in Deutschland, bei denen die Jugendämter Hinweisen auf Kindesmisshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch nachgingen. Bei rund 17.000 Kindern bestätigte sich der Verdacht.
Rund 107.000 Mal überprüften die Jugendämter im vergangenen Jahr in Deutschland, ob das Wohl eines Kindes in Gefahr war. Besser vorstellbar ist diese Relation: von 10.000 Minderjährigen waren das ungefähr 82. "Eine hohe Zahl", sagt Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds. Allerdings fehlten Vergleichszahlen. Das Gesetz schreibt die amtliche Erhebung für 2012 zum ersten Mal vor.
Frühe Hilfe ist der beste Schutz vor Kindesmisshandlung
Eine Kindeswohlgefährdung liegt nach offizieller Definition vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes bereits eingetreten ist oder mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist und dies von den Sorgeberechtigten nicht abgewendet wird. Deutlicher ausgedrückt: Wenn die Jugendämter Hinweise auf Hunger, Schläge, Dreck, sexueller Missbrauch und psychische Gewalt bekommen, müssen sie das Risiko der betroffenen Kinder einschätzen und handeln.
"Besonders schwierig ist es, wenn die Eltern nicht bereit und in der Lage sind mitzuhelfen", sagt Inge Büttner vom Frankfurter Jugend- und Sozialamt. "Frühe Hilfen sind die beste Chance, die Häufigkeit von Misshandlung und Vernachlässigung in der Bevölkerung zu senken", sagt Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (dji)
17.000 Kinder vernachlässigt oder misshandelt
Eine akute Gefährdung erkannten die Jugendämter bei ungefähr 17.000 Kindern. Dazu gehören beispielsweise Säuglinge, die nicht genug Nahrung bekommen, und schwer misshandelte Kinder, wie Büttner sagt. Bei 21.000 Minderjährigen sahen die Behörden eine latente Gefährdung. Bei 68.000 Jungen und Mädchen stellten die Fachkräfte keine Anzeichen für eine Gefährdung fest, allerdings war sie der Hälfte dieser Kinder Hilfe oder Unterstützung durch das Jugendamt angeraten.
Zwei von drei Kindern, bei denen demnach eine akute oder latente Gefährdung vorlag, wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf. In 26 Prozent der Fälle gab es Hinweise für psychische Misshandlung, fast gleich viele Kinder zeigten Zeichen körperlicher Misshandlung. Fünf Prozent wurden Opfer sexueller Gewalt. Jedes vierte der knapp 107.000 Kinder war jünger als drei Jahre, jedes fünfte im Kindergartenalter. Der Anteil Jugendlicher betrug 15 Prozent.
Vorbeugung und Früherkennung funktioniert noch nicht lückenlos
Die Fachleute setzen gegen Misshandlung und Vernachlässigung auf Prävention und möglichst frühe Hilfen: "Präventionsketten, also immer an bestimmten Stellen des Lebens der Kinder wertschätzende, hilfsbereite, aufsuchende Sozialarbeit", nennt Hilgers als Schlüssel. Netzwerke früher Hilfen - mit Gynäkologen, Hebammen und Kinderärzten - seien inzwischen vorgeschrieben, es gebe aber noch Umsetzungsbedarf. "Das wird bei weitem noch nicht überall gemacht."
"Wichtig ist aber auch, dass man die richtigen Hilfen anbietet", betont Hilgers. Wenn der Bedarf an einer Familienhelferin festgestellt werde, die nächste aber erst in zwei Jahren frei sei, verursache dies eher eine Katastrophe als dass es helfe.
Die Herausforderung: Hilfe, die in den Familien richtig ankommt
"In Deutschland haben wir kein Problem mehr mit dem guten Willen. Es gibt viel Handlungsbereitschaft", sagt Kindler. Schwierig sei es jedoch, frühe Hilfen und ambulante Familienhilfen so zu gestalten, dass sie auch etwas bewirkten. Geld und die Bereitschaft reichten nicht, notwendig sei auch Wirkungsforschung. In diese werde bislang aber recht wenig investiert. "Das hindert uns, was die langfristigen Erfolge angeht. Die Herausforderung für Deutschland besteht darin, einen wissenschaftlich begleiteten Lernfortschritt zu organisieren."
Experten: Erstmals wird deutlich, wie viele Kinder betroffen sind
Am häufigsten haben Polizei, Gericht und Staatsanwaltschaft (17 Prozent) die Jugendämter auf eine mögliche Gefährdung der Kinder aufmerksam gemacht. In 14 Prozent der Fälle kam der Hinweis von Bekannten oder Nachbarn, in 13 Prozent von Schulen oder Kitas. Gut jeder zehnte der rund 100.000 Hinweise war anonym.
"Das europäische Ausland berichtet - soweit es Zahlen gibt - deutlich höhere Zahlen von Kindesmissbrauch", sagt Kindler. Ein möglicher Grund: "In Deutschland liegt die Schwelle, Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen zu können, bewusst unterhalb der Gefährdung. Das ist nicht überall in Europa so." Die neue Statistik ist nach Einschätzung von Kindler und Hilgers ein guter Einstieg. "Wir wussten ja lange überhaupt nicht, wie viele Kinder im Jahr solche Überprüfungen erleben", sagt Psychologe Kindler. Allerdings seien längere Zeitreihen notwendig, um genauere Aussagen treffen zu können, sind sich beide Fachleute einig.