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Zum journalistischen Leitbild von t-online.West Highland Way Allein durchs schottische Hochland
Einfach weiterlaufen, egal was ist. Wandern in Schottland macht den Kopf frei, ist traumhaft schön, extrem nass und am besten, wenn man ganz allein ist.
"Girls don’t do that“ – Mädchen machen so was nicht, sagt die amerikanische Touristin zu mir. Ich sitze im wohl ältesten Pub von Drymen, dem ersten Etappenziel des West Highland Way, und warte auf einen Tisch. Nicht nur zeigt sich meine Gesprächspartnerin verwundert über die Tatsache, dass ich mich als Frau allein in einem Pub befinde, noch schlimmer ist für sie die Vorstellung, dass ich ganz allein auf Reisen bin und dann auch noch meine, tagelang durch die Natur wandern zu müssen. Sie erklärte mir, dass "devastatet, angry people“ in den USA den Appalachian Trail laufen und lädt mich ein, mich an den Tisch ihrer organisierten Busreise zu setzen – gegen die Einsamkeit. Ich erkläre ihr, dass ich gar nicht frustriert bin und meine Zeit allein sehr zu schätzen weiß. Ihr Fazit: "You obvioulsy hate people“. Du hasst Menschen.
Ich mag Menschen, viele zumindest. Ich will mich nicht neu erfinden, suche keine Erleuchtung. Der West Highland Way ist herrlich unspirituell. Ich will meine Ruhe haben, draußen sein, den Kopf frei bekommen. All das geht hier. Das wollen die anderen Wanderer auch.
Von Milngavie nach Drymen – Whiskygenuss im Grenzgebiet
Der 154 Kilometer lange West Highland Way beginnt noch in den Lowlands. Ausgangspunkt ist Milngavie, ein Vorort nördlich von Glasgow. Von hier aus führt er gen Norden bis nach Fort William. Ein Obelisk im Zentrum markiert den Ausgangspunkt des bekanntesten Fernwanderwegs Schottlands. In dem Moment, als ich ihn erreiche, beginnt es zu regnen.
Unspektakulär flach ist es zunächst. Neben dem Weg dröhnt eine Schnellstraße. Am Wegesrand wachsen Brombeeren. Etwa nach der Hälfte der Tagesetappe erreicht man eine Whiskydestillerie. Die Glengoyne Destillerie produziert Highland Whisky. Dabei liegt sie exakt auf der Grenze zwischen den Highlands und den Lowlands. Da der Produktionsteil der Destillerie in den Highlands liegt, darf er sich dennoch Highland Whisky nennen. Leicht beschwingt verlasse ich diese letzte Attraktion vor dem Abtauchen in die schottische Wildnis in Richtung Drymen.
Von Drymen nach Rowardennen – Bäume heilen am Loch Lomond
Am zweiten Tag geht es von Drymen nach Rowardenen am Loch Lomond. Kühe stehen gemütlich auf dem Weg herum, kurz bevor es an den Aufstieg des Conic Hill geht, der einen ersten, spektakulären Ausblick über Schottlands größten See bietet. Ganz schön groß diese Kühe. Kann ich jetzt einfach weitergehen? Keine andere Option in Sicht, also schiebe ich mich durch die Kühe hindurch. Die gucken mich nur nett an. Also alles okay. Oben auf dem Conic Hill angekommen brechen die Wolken auf und geben einen weiten, klaren Blick über den Loch Lomond frei.
"Tree Surgery“ will der Ranger machen. Bäume heilen. Das erklärte er mir und vier weiteren Wanderern, die in der Ben Lomond Lodge bei Rowardennen für die Nacht untergekommen sind. In tiefstem schottischen Akzent erzählt er uns, einige seiner besten Freunde seien Bäume. So esoterisch das zunächst anmutet, so verständlich ist diese Aussage inmitten des urig bewaldeten Nationalparks am Loch Lomond.
In der Gegend um den Rowardennen wurde der Wald stark gerodet. Im heutigen Naturschutzgebiet "Loch Lomond and the Tossachs“ arbeiten die Ranger daran, den Baumbestand zu pflegen und wieder aufzuforsten. Nachts kommen noch eine Rangerin und eine Gärtnerin an, die am nächsten Tag mitarbeiten werden. Sie müssen auf Bäume klettern. Wie genau das geht, wird morgens am Frühstückstisch intensiv besprochen. "In 200 Jahren ist es hier dann noch viel schöner. Dann musst du zurückkommen.“ Verabschieden sie mich, als ich weiterlaufe.
Rowardennan nach Crianlarich – Und Rob Roy singt uns sein Lied
Es regnet. Es regnet viel in Schottland. Von oben tropft es. Unten am Boden stehen Farne. Ein wahrlicher Regenwald. Hin und wieder führt ein Wasserfall über den Weg, oder der Weg selbst wird zu einem Wasserlauf. Springt man nicht weit genug, werden die Füße nass.
Dieser Teil des Weges gilt als einer der anspruchsvollsten. Das liegt nicht an zu überwindenden Höhenmetern, er verläuft wunderschön gelegen entlang des Ufers des Loch Lomond. Herausfordernd sind die großen feuchten und dadurch rutschigen Steine, über die es zu klettern gilt. Direkt neben dem Weg geht es mitunter steil hinab gen See. Jeder Schritt und jeder Griff wollen gut überlegt sein. Inmitten der Kletterei erscheint ein kulturelles Highlight des Weges – Rob Roys Höhle. Der schottische Robin Hood des 17. Jahrhunderts, ein geächteter Rinderdieb soll sich vielleicht einmal hier versteckt haben. Vor der Höhle stehend dringt ein Flüstern an mein Ohr. Ist es Rob Roy? Nein, hin und wieder schallen Ansagen der im Nebel unsichtbaren Touristenbootstouren über den See und unterbrechen die Konzentration. Sie sind geisterhafte Schemen einer ganz anderen Art von Schottlandreise.
Keinen Schritt kann ich mehr laufen, als ich in Crianlarich ankomme. Der Pub nebenan erscheint plötzlich meilenweit entfernt. Das Abendessen muss ausfallen. Wie soll ich morgen nur weiterlaufen?
Crianlarich nach Bridge of Orchy - Das Tock Tock Tock der Wanderstöcke der anderen
Schottlands Landschaft gleicht inzwischen einem surrealen Traum. Regen, Sturm, Sonnenschein, das ändert sich alle paar Minuten, kann einen überraschen und führt manches Mal zu Fehleinschätzungen und totaler Durchnässung. Dennoch tut der Regen der landschaftlichen Schönheit keinen Abbruch, verstärkt sie gar noch und lässt die Natur dramatischer erscheinen.
Ein fortwährender Kampf mit dem eigenen Körper lässt keine Zeit für zu viele Gedanken an Alltagsprobleme. Wenn jeder Schritt schmerzt, der Körper bis auf die Haut durchnässt ist, die Blasen im Nass der Schuhe aufquellen, ist das alles, woran man denkt. Durchhalten, Zähne zusammenbeißen, weiterlaufen. Jedes Gramm Gepäck auf dem Rücken ist eins zu viel. Ein löchriges T-Shirt muss weg, ein Paar nicht mehr wohlriechende Wandersocken auch. Leichter wird das Gepäck nicht wirklich. Neid kommt auf. Gut haben es die, die den Gepäckservice gebucht haben. Aber irgendwie wäre das ja nicht das ganze Abenteuer. Tock tock tock machen die Wanderstöcke der anderen.
In Bridge of Orchy leben ganze sieben Menschen. Das Bahnofshäuschen ist mein Hostel. Es gibt einen Raum mit zwölf Schlafplätzen und viel zu wenig Platz zum Aufhängen der nassen Kleidung. Denn jetzt ist wirklich alles nass. Ich bin froh, dass ich aufs Zelten entlang des Weges verzichte und in festen Unterkünften schlafe.
Bridge of Orchy nach Kinlochleven – Im Tal der Regenbögen
34 Kilometer sind weit. Sehr weit sogar. In der tolkinesken Umgebung, in der ein Regenbogen den anderen jagt, sind die 34 Kilometer doch gut machbar. Die Durchquerung des einsamen und malerisch bräunlichen Rannoch Hochmoors auf dem vollkommen ungeschützten Weg kann eine Herausforderung sein. Doch wie durch ein Wunder regnet es gerade jetzt öfters mal nicht. An den äußersten Rändern des Moors angelangt, tut sich plötzlich ein gigantisches Tal vor mir auf.
Das Glen Coe Tal ist gar nicht hübsch. Wie ein ödes, grünbraunes Kraterloch klafft es vor mir auf. Trotzdem ist es beeindruckend. Das haben auch schon Menschen gedacht, die auf der Suche nach wirklich spektakulären Bildern waren. Hier sind Szenen von Harry Potter und James Bond gedreht worden. Hinter dem Tal gilt es noch einen Pass zu überwinden, zu dem etwas führt, das sich Devil‘s Staircase nennt. Die Treppen des Teufels erweisen sich glücklicherweise als nicht ganz so teuflisch wie erwartet, dennoch ist der Aufstieg steil und anstrengend.
In Kinlochleven angekommen quäle ich mich zum nächstgelegenen Pub. "Alles besetzt. Das wird heute nichts mehr“, knurrt der Wirt. Ich bestelle mir einen Cider. Plötzlich gibt es dann aber doch noch einen Tisch. Zeit für Haggis, denke ich mir. Was könnte es nach einem anstrengenden Wandertag Schöneres geben, als braunen Brei aus zerhackten Innereien. Während ich mich bei diesem kulinarischen Hochgenuss auf die nächste Etappe vorbereite, steht unvermittelt eine Frau neben mir. Ob ich denn etwa allein dort sei, will sie wissen und blickt mich erschrocken an.
Von Kinlochleven nach Fort William – Es war einmal ein Wald
Fast etwas Morbides hat die letzte Etappe. Vorbei an den Ruinen einer Farm und durch die Reste eines gerodeten Waldes geht es. Am Fuße des mächtigen Ben Nevis, des mit 1.344 Metern höchsten Berges in Großbritannien, endet die Wanderung.
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Erleichterung, Erschöpfung und auch ein wenig Stolz machen sich breit, als ich das Denkmal des müden Wanderers, das offizielle Ende des Weges, in der High Street von Fort William erreiche. Abends im Pub treffe ich auf eine alte Bekannte. Die Frau vom Vortag zeigt sich erleichtert, dass ich es tatsächlich geschafft habe. So ganz allein, sogar als Frau.
Ich werde es wieder tun, denke ich, und vielleicht, ganz vielleicht wird sich irgendwann niemand mehr wundern. Vielleicht, ganz vielleicht wird sich der Gemeinschaftszwang der Urlaubserfahrung auflösen und ich darf ohne Erklärung ganz allein die Natur genießen und das sogar als Frau.