"Menschen hautnah"-Reportage Jeder Klaps trifft die Seele
In Deutschland dürfen Eltern ihre Kinder nicht schlagen, das verbietet seit 2000 ein Gesetz. Sie tun es trotzdem. Um die Gründe und die Folgen ging es am Donnerstagabend in der WDR-Reihe "Menschen hautnah".
Die Redaktion von t-online.de greift das Thema auf und lädt die Leser an diesem Freitag um 13 Uhr zu einem Debattenblog ein.
Für ihre Reportage "Nur ein Klaps auf den Po?" hat TV-Autorin Erika Fehse mit Menschen gesprochen, die in verschiedenen Rollen mit Gewalt in der Erziehung zu tun haben: Eltern, Kinder, Lehrerinnen, Sozialpädagogen, Erziehungswissenschaftler, Ärzte und Kriminologen. Ihr Fazit "Schläge bringen nichts Gutes."
Dennoch halten viele Deutsche Popoklaps und Ohrfeige immer noch für harmlose Strafen. In einer Umfrage der Elternredaktion von t-online.de stimmten im Juni 2014 rund 47 Prozent der Leser der Aussage zu, dass Ohrfeigen als Erziehungsmaßnahme in Ordnung sind. Das ist fast schon jeder zweite. Trotzdem fand Fehse nur wenige Eltern, die bereit waren, diese Haltung vor laufender TV-Kamera zu vertreten. Nur eine Familien wollte offen darüber sprechen, warum Eltern die Hand gegen ihre Kinder heben.
"Worte helfen in dem Alter nicht viel"
Katrin und Tobias haben zwei Söhne, ein und drei Jahre alt. Der dreijährige Lukas ist sehr quirlig und ignoriert oft die Mahnungen seiner Eltern. Wenn er immer wieder davonläuft oder aus Trotz nach der Mutter tritt, "kriegt er halt mal eine auf den Hintern", sagt Katrin. Oft geschieht das in Stresssituationen, in denen sie überfordert ist.
Für Katrin ist der Klaps ein Erziehungsmittel: "Ich denke, Worte helfen in dem Alter noch nicht besonders viel." Dass sich bei Lukas einer anderer Lerneffekt festsetzen könnte, nämlich dass Schläge eine Form der Kommunikation sind, bestreitet sie.
Ihr Mann Tobias sieht das skeptisch. Auch ihm sei ist bei Lukas schon einmal die Hand ausgerutscht, was er sofort bereut habe, erzählt er. Tobias wurde als Kind von seinem Vater brutal geschlagen. "Sowas sollten meine Kinder nie erleben", lautet sein Vorsatz.
Vater prügelt den Sohn, Sohn prügelt die Schwester
Nicht immer gelingt es Opfern elterlicher Gewalt, das Schema zu durchbrechen. Ein Experte des kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen zitiert aus der Statistik. Geprügelte Kinder entwickeln sich demnach fünfmal so häufig zu Mehrfachgewalttätern wie Kinder ohne Gewalterfahrung.
Im zweiten Fallbeispiel der Reportage misshandelte der Vater über Jahre hinweg seine beiden Kinder, während die Mutter arbeiten war. Der Sohn, inzwischen ein junger Mann, schildert die Folgen. Als Kind zog er sich gedemütigt und verängstigt zurück, als Jugendlicher reagierte er seine lange unterdrückte Wut an seiner Schwester ab. Hinterher war er erschrocken über seine Prügelattacken, wollte doch nie so werden wie der Vater. Eine Therapie hilft ihm heute, mit seiner Aggression umzugehen.
Kinder suchen die Schuld bei sich
Eine Erkenntnis von Fehses Recherchen ist, dass Kinder die Schuld bei sich selbst suchen, wenn Eltern sie schlagen. Das TV-Team besucht eine Gesamtschule in Gelsenkirchen, Schüler verschiedener Jahrgänge diskutieren über Gewalt. Frage in die Runde: Wer hat schon mal von den Eltern einen Klaps bekommen? Alle Hände gehen hoch.
Fast alle sagen: "Es hat weh getan und ich habe mich dabei schlecht gefühlt. Aber es war ja auch meine eigene Schuld." Ein Klaps sei gerechtfertigt, wenn Kinder Grenzen überschreiten. Nur ein Mädchen denkt weiter: "Das zeigt aber auch, dass meine Eltern nicht mit mir reden können und das mit Gewalt lösen."
Erschreckend ist, wie hoch die Schüler die Schwelle zur Gewalt in der Erziehung ansetzen: Brüche, Blut und Prellungen.
"Leidende und schweigende Opfer"
Die blauen Flecken, die Ärzte bei Kindern zu sehen bekommen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Im WDR-Film wird die bundesweite Datenbank "Riskid" erwähnt, die es Ärzten ermöglichen soll, Auffälligkeiten bei kleinen Patienten zu dokumentieren und wiederholte Misshandlung zu erkennen, auch wenn die Eltern dies durch häufigen Arztwechsel vertuschen wollen.
Die Mehrheit der betroffenen Kinder leide allerdings unauffällig, sagt der Erziehungswissenschaftler Holger Ziegler im Gespräch mit TV-Autorin Erika Fehse. "Es sind leidende und schweigende Opfer."
Maßstab ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung
Körperliche und seelische Gewalt hat viele Abstufungen. In dieser Folge von "Menschen hautnah" werden Popoklaps und Prügeln fast in einem Atemzug genannt. Ist es vermessen, beides zu vergleichen? Vermessen ist allerdings auch die Verharmlosung "nur ein Klaps". Als unumstößlicher Maßstab gilt der Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der Kindern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung zusichert.
Wie gut der Paragraf Kinder hinter verschlossenen Wohnungstüren schützt, ist umstritten. "Ein Gesetz kann innerfamiliäre Gewalt nicht eindämmen", glaubt ein Sozialpädagoge, der Jugendliche aus zerrütteten Familienverhältnissen betreut. Dennoch sei das Gesetz ein wichtiger Fingerzeig für die Gesellschaft.
Was hilft Kindern wirklich? Eine pragmatische Antwort bekam das WDR-Team von Mitarbeitern eines Kinderschutzzentrums in Dortmund. Es reiche nicht, die Polizei einzuschalten oder Eltern zu erklären, dass Schläge verboten sind. Mit der Erziehung überforderte Eltern bräuchten schnelle und wirksame Hilfe. "Sie brauchen Unterstützung, damit die Misshandlungen aufhören können."