Das Tabu im Tabu Das Tabu im Tabu: Kindemissbrauch durch Mütter
"Frauen machen sowas nicht." Das hat sogar der erste Therapeut behauptet, dem sich Axel anvertraute, um den sexuellen Missbrauch durch seine Mutter nach jahrzehntelangem Verdrängen endlich aufzuarbeiten. Kindesmissbrauch durch Mütter ist ein Tabu, das erst langsam öffentlich thematisiert wird. Experten schätzen, dass 15 bis 20 Prozent der Fälle von sexuellem Missbrauch durch Mütter begangen werden. Die am 14. Februar ausgestrahlte Reportage "Mama, hör auf damit" aus der WDR-Reihe "Menschen hautnah" schildert das Schicksal von zwei Betroffenen, einem Mann und einer Frau.
Alex und Andrea sind heute beide Ende 40. Vor der Kamera ist ihnen deutlich anzumerken, wie stark sie immer noch unter dem Missbrauch leiden, wie schwer es fällt, das Ungeheuerliche in Worte zu fassen. Sie stammen aus völlig verschiedenen Familienverhältnissen, der eine hat den Missbrauch als Sohn, die andere als Tochter erlitten - und doch gibt es viele Parallelen, die der Film herausarbeitet: Die Scham, der Ekel, das Ausgeliefertsein, das Verdrängen, die Panik vor Sexualität und die unauflösbare Bindung an eine Mutter, die gleichzeitig Täterin ist.
Fall Axel: Kindesmissbrauch hinter der Fassade der heilen Familie
Axel wächst in einem kleinen Dorf auf, in dem die Eltern hohes Ansehen genießen. Eine äußerlich heile Welt. Seine erste Erinnerung an sexuellen Missbrauch durch die Mutter reicht ins Kleinkindalter zurück. Sein Bettnässen dient der Mutter als Vorwand, sein Geschlechtsteil zu berühren und zu untersuchen. Bis ins Grundschulalter "assistiert" sie ihm beim Wasserlassen. Rückblickend schildert Axel einen unerträglichen Gefühlszustand: "Die Mutter meint es bestimmt gut, aber es fühlt sich falsch an." Dabei bleibt es nicht. Erst gelegentlich, bald täglich zieht die Mutter ihn ins Bett und zwingt ihn mit Schlägen, sie zu befriedigen."
Die Mutter mutiert zu einem existenzbedrohendem Wesen
"Die Mutter ist plötzlich ein anderes Wesen geworden, das gefährlich für mich war, richtig existenzbedrohlich." Dieses Gefühl verfestigt sich. Als junger Mann empfindet Axel Angst, sogar Panik vor Mädchen, verbindet Sex mit Lebensgefahr. Es dauert lange, bis er sich zum ersten Mal überwinden kann, mit seiner Freundin und späteren Frau zu schlafen.
Hilfe von Vater, Polizei, Jugendamt - Fehlanzeige
Als Schulkind hat Axel versucht, sich dem Vater anzuvertrauen. Sein Hilferuf geht nach hinten los: Der Vater will ihm zunächst nicht glauben, dann stellt er seine Frau hinter verschlossener Tür zu Rede, und schließlich überziehen beide das Kind mit Vorwürfen und Prügel. Axel hätte die Mutter verführt. So verkehren die Eltern die Schuldfrage, und so macht es schnell im Dorf die Runde. Das Kind wird gehänselt und ausgegrenzt.
Als die Polizei vor dem Haus auftaucht, wird der Junge schnell weggeschafft. Das löst bei ihm Schuldgefühle aus, die Mutter könnte verhaftet werden, der kleine Bruder verhungern, die Familie wegen ihm zerstört werden. Ermittlungen verlaufen im Sande, auch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes kann nichts Auffälliges feststellen und fortan wird das Thema Missbrauch totgeschwiegen.
Das Schweigen hilft Axel, das Trauma zu verdrängen und innerhalb der Familie weiterzuleben. Erst als er selbst Kinder bekommt, bricht alles wieder auf, als sich seine Mutter zum Babysitten anbietet. Über Nacht schreibt er sich die Erinnerungen in einem Brief an die Mutter von der Seele. Damit fängt der Verarbeitungsprozess erst an. Der 49-Jährige beschreibt, wie er später in einer Therapiesitzung "eine Stunde am Papierkorb gestanden und gekotzt" hat.
Fall Andrea: Schuldzuweisungen von Geburt an
Andrea wird in schwierige Familienverhältnisse hineingeboren. Ihre Mutter wurde mit 17 von einem Besatzungssoldaten schwanger. Damals ein Skandal, wenn auch kein seltener Fall. Andrea wird als "Bastard" beschimpft und lernt ihren Vater nie kennen. Die junge Mutter ist völlig überfordert, vermittelt der Tochter einerseits ein negatives Männerbild, macht sie andererseits dafür verantwortlich, dass sie keinen neuen Partner finden kann.
Grenze zwischen mütterlicher Fürsorge und Missbrauch
Auch Andreas Mutter überschreitet - für das Kind nicht begreifbar - die Grenzen zwischen Körperpflege und sexueller Berührung, zwischen mütterlicher Nähe und Missbrauch. Das Mädchen fühlt sich buchstäblich unangenehm berührt, später wird es von der Mutter zu sexuellen Handlungen genötigt - als sie klein ist durch die Drohung, verlassen zu werden, später durch Schläge. "Ich hab mich dabei so eklig gefühlt." Wenn Andrea vor der Kamera andeutet, wie sich die Mutter an ihr verging, schüttelt sie sich und kann das Erlebte kaum in Worte fassen.
Schock beim Blick in den Spiegel
Scham und Ekel prägen das Verhältnis zur Mutter und zum eigenen Körper. Als Jugendliche will Andrea "bloß nicht sexy wirken", will ihre Weiblichkeit nicht annehmen. Nach jahrelangem Verdrängen wird die erwachsene Frau nun täglich mit der Erinnerung konfrontiert: "Ich gucke in den Spiegel und sehe sie. Im Alter sehe ich ihr immer ähnlicher." Das ist eine besonders tückische Dimension des Missbrauchs von Müttern an Töchtern: Die körperliche Ähnlichkeit, zuweilen bis zu den Gesichtszügen, macht es unmöglich, sich "durch die Andersartigkeit der Körpers abzugrenzen", wie es eine Psychologin in der Reportage ausdrückt.
Sexueller Missbrauch zieht sich oft über Generationen
Die Psychologin erklärt, was sexueller Missbrauch durch Eltern bedeutet: Nicht nur Familie und Wohnung sind kein sicherer Rückzugsort für das Kind, sondern nicht einmal der eigene Körper. Dadurch erlebt es die Situation als ausweglos. Zudem wird kleineren Kindern oft weisgemacht, dass solche Berührungen normal seien, dass alle Eltern sowas mit ihren Kindern täten.
Was bringt Eltern dazu, die eigenen Kinder sexuell zu missbrauchen? Einige Erklärungsversuche gibt es. Grundsätzlich sei fehlendes Mitgefühl die Voraussetzung für Missbrauch, sagt die Expertin. Häufig stellt sich heraus, dass Mütter und Väter, die sich sexuell an ihren Kindern vergehen, selbst missbraucht worden sind. So war es auch bei Axel. Seine Mutter war Opfer ihrer Mutter - und einmal ist auch Axel von der Oma missbraucht worden.
"Opfer werden oft zu Tätern. Aber nicht immer. Manche verharren lebenslang in der Opferrolle, denn sie haben ja gelernt, dass Gegenwehr zwecklos ist," erklärt die Psychologin. Axel und Andrea haben sich nicht mit der Opferrolle abgefunden, auch wenn es lange gedauert hat, bis sie in der Lage waren, sich in Therapien mit dem tief verdrängten Missbrauch auseinanderzusetzen. Axel hat erkannt: "Ich will und muss das verarbeiten, damit ich das nicht selbst an meine Kinder weitergebe." Er hat eine Website