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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schmerzgedächtnis Wenn sich Schmerzen ins Gehirn brennen
Chronische Schmerzen können die Reizverarbeitung im Gehirn so verändern, dass sich ein Schmerzgedächtnis ausbildet.
Dann empfindet man Schmerzen auch dann, wenn es keinen Auslöser mehr gibt. Das Gehirn hat den Schmerz "gelernt" und reagiert auf kleinste Reize mit starken Schmerzsignalen. Das Schmerzgedächtnis zu löschen, ist ein langer Weg – und kann unter Umständen scheitern.
Wie funktioniert Schmerz?
Schmerzreize werden an der Haut, den Gelenken, den Nervenzellen oder inneren Organen ausgelöst. Sticht beispielsweise eine Wespe in die Haut oder kommt es zu einer Verletzung, wird der Schmerzreiz über die in der Haut befindlichen Nerven zum Rückenmark und von dort auf den Bahnen des Rückenmarkes zum Gehirn geleitet.
Im Gehirn angekommen, wird das Schmerzsignal so verarbeitet, dass man den Schmerz wahrnimmt. Anhaltende starke Schmerzen führen auf Dauer dazu, dass nozizeptive Nervenzellen (Schmerzrezeptoren) empfindlicher für Schmerzreize werden. Dann werden Schmerzreize verstärkt an das Gehirn weitergeleitet und falsch bewertet.
Solche Fehlinformationen werden schließlich erlernt und verändern das Gedächtnis. So kommt es, dass bei bestimmten Reizen die Schmerzreaktion vom Gehirn immer wieder abgerufen wird – selbst dann, wenn es keinen wirklichen Grund für ein Schmerzempfinden gibt.
Gut zu wissen
Die den Schmerz aufnehmenden Sensoren heißen Nozizeptoren. Diese freien Nervenendigungen befinden sich unter anderem in der Haut, aber auch in fast jedem anderen Gewebe.
Chronische Schmerzen verändern das Gedächtnis
"Hat sich ein Schmerzgedächtnis ausgebildet, ist aus dem Symptom Schmerz ein eigenständiges Krankheitsbild geworden", erklärt Professor Gereon Nelles, Facharzt für Neurologie am Neuromed Campus Hohenlind, Lehrbeauftragter der Klinik für Neurologie an der Universität Duisburg und Vorstandsmitglied des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN).
"Über eine lange Zeit empfundener intensiver Schmerz kann die schmerzleitenden Nervenfasern so überreizen, dass biochemische Vorgänge stattfinden, die Schaltkreise im Gehirn dahingehend verändern, dass sich ein anhaltend gesteigertes Schmerzempfinden ausbildet. So kann bei manchen Betroffenen sogar Watte auf der Haut intensive Schmerzreaktionen auslösen."
Welche Erkrankungen begünstigen ein Schmerzgedächtnis?
Nicht jeder Schmerz birgt das Risiko eines Schmerzgedächtnisses. Die Wahrscheinlichkeit ist zum Beispiel bei intensiven, anhaltenden Nervenschmerzen (neuropathischen Schmerzen) erhöht, wie sie nach Verletzungen oder Durchtrennungen der Nerven auftreten können, etwa aufgrund eines schweren Unfalls.
Auch im Rahmen einer Polyneuropathie, bei der die peripheren Nerven in Armen und Beinen nicht mehr richtig funktionieren, kann sich ein Schmerzgedächtnis ausbilden. Ursachen für eine Polyneuropathie können unter anderem Infektionen, Autoimmunerkrankungen, Krebs oder ein Diabetes sein.
"Auch Phantomschmerzen sind Schmerzen, bei denen Neurologen von Schmerzgedächtnis sprechen", sagt Nelles. "Beim Phantomschmerz nehmen Patienten Schmerzen in einem amputierten Körperteil wahr, obwohl dieser nicht mehr vorhanden ist. Phantomschmerzen zeigen sehr deutlich, wie das Gehirn Schmerz lernt und abrufen kann, auch wenn der Schmerzauslöser nicht mehr besteht."
Sind manche Menschen anfälliger?
Nicht nur die Schmerzursache, etwa zerstörte Nervenfasern, spielt eine Rolle bei der Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses. Laut dem Facharzt für Neurologie ist die Ausbildung des Schmerzgedächtnisses ein sehr individueller Prozess.
"Es kommt zudem darauf an, wie die individuelle Konstitution ist: Wie kann der Mensch mit Schmerzen umgehen? In welcher Lebenslage befindet er sich? Wie ist seine körperliche und seelische Konstitution? Das alles spielt zusammen. Häufig zeigen Betroffene zum Beispiel seelische Vorerkrankungen", erklärt Nelles. "Ob und wann sich ein Schmerzgedächtnis ausbildet, ist nicht vorhersehbar. Auch gibt es keine zeitliche Festlegung, ab wann das Risiko erhöht ist."
Symptome für erlernten Schmerz
Auf erlernten Schmerz deuten vor allem drei Faktoren hin:
- Es besteht eine deutlich gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie).
- Der Körper reagiert bereits bei geringsten Reizen mit Schmerzen (Hyperalgesie).
- Der Schmerz besteht auch dann noch, wenn der Schmerzreiz weg ist.
"Man kann sagen, dass sich bei einem ausgebildeten Schmerzgedächtnis der Schmerz verselbständigt", erklärt Nelles.
Prof. Dr. med. Gereon Nelles ist Lehrbeauftragter der Klinik für Neurologie an der Universität Duisburg, Facharzt für Neurologie am Neuromed Campus Hohenlind und Vorstandsmitglied des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN).
Schmerzgedächtnis lässt sich nicht leicht löschen
Den erlernten Schmerz aus dem Gedächtnis zu bekommen, ist gar nicht so leicht. Was sich einmal ins Schmerzgedächtnis eingebrannt hat, lässt sich nicht ohne Weiteres löschen. Betroffene sind oft über Monate bis Jahre in Behandlung und werden von Schmerztherapeuten, Neurologen und Psychotherapeuten begleitet. Ziel der Therapie ist, eine Desensibilisierung zu erreichen, also die Überreaktion auf bestimmte Reize zu hemmen.
Schmerzlindernde Medikamente spielen eine wichtige Rolle bei der Schmerzgedächtnis-Behandlung. Diese wirken anders als "normale" Schmerzmittel mit Wirkstoffen wie Ibuprofen, Paracetamol und Acetylsalicylsäure, welche an die Schmerzrezeptoren andocken und das Schmerzempfinden blockieren.
Die Medikamente sollen die Nervenmembranen und Nervenstränge stabilisieren und die Leitungsbereitschaft drosseln, sodass sie weniger reizbar sind. Pregabalin beispielsweise ist ein eingesetzter Wirkstoff, der die Erregbarkeit der Neuronen im zentralen Nervensystem senkt. Er gehört zu den Antikonvulsiva, die unter anderem zur Behandlung epileptischer Anfälle Anwendung finden.
Chronische Schmerzen verändern Menschen
Auch Antidepressiva können gegen die Schmerzen verordnet werden. "Hervorzuheben sind vor allem die sogenannten Trizyklischen Antidepressiva, welche eine schmerzdistanzierende und schmerzreduzierende Wirkung besitzen, da sie die Schmerzweiterleitung hemmen", sagt Nelles. "Antidepressiva finden auch deshalb häufig Anwendung, weil Patienten mit chronischen Schmerzen anfälliger für psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen sind."
Durch den Versuch, schmerzverursachende oder schmerzverstärkende Handlungen zu vermeiden, kann es zu einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten kommen. Das wiederum wirkt sich auf den Antrieb, die Stimmung, das Denken und die persönliche Einstellung und Wahrnehmung aus. Viele ziehen sich zunehmend aus dem sozialen Umfeld zurück. Durch den Schmerz können Anspannungszustände entstehen, die in psychischen Erkrankungen münden.
Schmerzgedächtnis vorbeugen
Experten raten, anhaltende Schmerzen frühzeitig behandeln zu lassen, um zu verhindern, dass diese Spuren im Gehirn hinterlassen. Mit einer fachärztlichen Schmerzbehandlung können Schmerzen in der Regel so therapiert werden, dass der Bildung eines Schmerzgedächtnisses vorgebeugt werden kann.
"Wird der Schmerz nicht entsprechend behandelt und entwickelt sich ein Schmerzgedächtnis, besteht die Gefahr, dass eine völlige Schmerzfreiheit nicht mehr erreicht werden kann", so der Schmerzexperte.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- awmf.org: "Chronischer Schmerz". S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. AWMF-Registernr.: 053-036. (Stand 2018)
- awmf.org: "Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen". S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). AWMF-Registernr.: 030-114. (Stand: Mai 2019)
- msdmanuals.com: "Polyneuropathie". Online-Information von MSD Manual. (Stand: Dezember 2020)
- ruedersdorf.immanuel.de: "Antidepressiva in der Schmerztherapie – Antidepressiva als Schmerzmittel". Online-Information der Immanuel Klinik Rüdersdorf. Schmerzzentrum. (Stand: Aufgerufen am 30. September 2022)
- gesundheit.gv.at: "Schmerz: Was ist das?". Online-Information des öffentlichen Gesundheitsportals Österreichs. (Stand: 20. Februar 2018)
- schmerzgesellschaft.de: "Was ist Schmerz?". Online-Information der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. (Stand: Aufgerufen am 30. September 2022)
- rki.de: "Übersicht Schmerzen". Online-Information des Robert Koch-Instituts (RKI). (Stand: Aufgerufen am 30. September 2022)