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Chefarzt über Corona: "Wir haben ein viel infektiöseres Virus als vor einem Jahr"


Interview
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Chefarzt warnt
"Unsere Sorge ist, dass die Zahlen jetzt nach oben schnellen"

InterviewVon Sandra Simonsen

Aktualisiert am 16.09.2021Lesedauer: 8 Min.
Corona-Intensivstation: Durch die Delta-Variante stecken sich aktuell mehr Menschen an als noch vor einem Jahr.Vergrößern des Bildes
Corona-Intensivstation: Durch die Delta-Variante stecken sich aktuell mehr Menschen an als noch vor einem Jahr. (Quelle: Reichwein/imago-images-bilder)
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Inzidenz über 80, mehr als 1.000 Covid-Intensivpatienten, Tausende tägliche Neuinfektionen: Welche Lehren sollten wir aus den Zahlen ziehen? t-online hat mit einem Chefarzt und Intensivmediziner gesprochen.

Als die Corona-Zahlen zuletzt so hoch waren wie aktuell, steckte Deutschland noch mitten im Lockdown. Doch obwohl gerade die Delta-Variante grassiert und die Zahlen teils rapide steigen, scheint zunächst kein erneuter Lockdown zu drohen. Gleichzeitig läuft die Impfkampagne nur noch schleppend.

Was erwartet uns im Herbst, werden die Intensivstationen überlastet? Wie können Impfskeptiker überzeugt werden? Und welche Zahlen sollten künftig eine wichtige Rolle in der Pandemie spielen? t-online hat zu diesen und weiteren Fragen mit Prof. Uwe Janssens gesprochen. Er ist Chefarzt und ehemaliger Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) und kritisiert unter anderem den aktuellen "Flickenteppich" an Regelungen in Deutschland.

t-online: Wie ist die aktuelle Situation auf den Corona-Intensivstationen? Gerade wurden wieder mehr als 1.000 Corona-Patienten vermeldet, ist das schon spürbar?

Prof. Uwe Janssens: Man muss ganz klar sagen, dass die Stationen das jetzt natürlich merken. Wir haben jeden Tag mehr Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es absolut noch überschaubar. Uns ist ja während der zweiten und vor allem der dritten Welle vorgeworfen worden, wir würden "Alarmismus" machen. Aber es geht hier um die Verhinderung von zum Teil schweren Krankheitsverläufen. Wenn Sie einen Darmkrebs oder andere bösartige Erkrankungen bekommen, ist das naturgegeben. Diese Krankheiten entstehen in Ihrem Körper durch Entartung von Zellen.

Aber so eine Corona-Infektion ist prinzipiell schon durch einfache Maßnahmen verhinderbar. Und wenn ein bestimmter Prozentsatz der Patienten auf der Intensivstation landet, ist das der bedauerliche Endpunkt einer prinzipiell durch die Unterbrechung der Infektionskette verhinderbaren Krankheit. Vergessen Sie nicht: Covid-19 Patienten sind Behandlungsfälle, die wir ohne die Corona-Pandemie sonst nicht im Krankenhaus und auf den Intensivstationen behandeln müssten. Wenn wir also jetzt 1.500 Covid-Patienten haben, ist das sicherlich im Augenblick eine beherrschbare Situation. Aber unsere Sorge ist natürlich, dass die Zahlen jetzt noch nach oben schnellen. Und wir haben natürlich auch Gebiete, die stärker oder auch weniger stark betroffen sind. Wir müssen also immer sehr genau auch regional schauen, wie die Lage ist. Und da gab es teilweise schon erhebliche Schwierigkeiten. Ein kritischer Punkt ist auch das Personal.

(Quelle: Jürgen Heinrich)


Prof. Dr. med. Uwe Janssens ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, die er seit 2005 leitet. In der Divi engagiert sich Janssens bereits früh. Von 2019 bis 2020 war er Präsident der Divi.

Hat sich im Laufe der Pandemie etwas an der Personallage auf den Intensivstationen verändert?

Das Personal war schon vor der Corona-Krise nicht ausreichend auf den Intensivstationen. Deshalb gab es ja Personaluntergrenzen, die dann sogar noch verschärft worden sind. Ein Covid-19-Patient, der beatmet wird und auf dem Bauch liegt, braucht eine Pflegekraft, die ihn kontinuierlich betreut. Und wenn Sie dann eine Station wie beispielsweise in der Charité in Berlin mit bis zu 140 beatmeten Patienten haben, ist das eine große Schwierigkeit. Und das ist auch ein Verständnis, das vielen noch fehlt: Wir haben zwar die Betten, aber nicht das Personal, um die Patienten in diesen Betten ausreichend zu versorgen.

Uns liegen zwar noch keine klaren Zahlen dazu vor, wie hoch die Abwanderung beim Personal ist. In einer Umfrage vom April mit rund 1.500 Teilnehmern aus Pflegepersonal und Ärzten gaben 63 Prozent der Befragten an, sich überlastet zu fühlen. Auf die Frage, ob sie ihren Dienst in den kommenden zwölf Monaten verlassen wollen, haben rund 26 Prozent "ja" geantwortet. Und das ist auch unsere große Sorge. Denn wenn wir keine Pflegekräfte mehr haben, können wir so viele Intensivbetten und Beatmungsgeräte haben, wie wir wollen: Dann werden wir handlungsunfähig.

Wir haben die Zahlen (Inzidenzen, Intensivbelegung, Todesfälle) von jetzt mit denen von vor einem Jahr verglichen: Wie erklären Sie sich, dass aktuell alle Werte höher liegen, obwohl bereits so viele Menschen geimpft sind?

Genau, wir sind vor einem Jahr erst etwa Ende Oktober da gewesen, wo wir jetzt sind. Dafür gibt es viele Faktoren. Nordrhein-Westfalen war als erstes besonders betroffen – dort gibt es natürlich viele Metropolen, viele Menschen auf engem Raum. Aber auch die Reiserückkehrer spielen eine Rolle – ein Viertel der Urlauber haben das Virus mitgebracht.

Und wir haben ein viel infektiöseres Virus als vor einem Jahr. Im Herbst, wenn es kälter und nass wird, verstärkt sich die Infektiosität nochmals deutlich. Und man muss auch sagen: Die Signale aus der Politik im Sommer waren verständlicherweise positiv und haben vermittelt, die Pandemie wäre jetzt voll im Griff. Vielleicht haben diese Botschaften bei dem einen oder anderen zu einer Nachlässigkeit bei den Hygieneregeln geführt. Die Compliance der Menschen ist zum Teil schlechter geworden. Sie werden aber nicht nur einen Grund für diese Entwicklung finden. Ein Hauptgrund ist allerdings die alles beherrschende Delta-Variante.

Wie können wir dafür sorgen, dass die Zahlen auf den Intensivstationen nicht noch weiter ansteigen?

Natürlich ist gerade die Frage, wie wir die Zahlen senken oder stabil halten können. Zunächst einmal bleibt die alte Regel AHA+L wichtig. Ob 2G oder 3G soll die Politik entscheiden – absolute Priorität haben aus meiner Sicht die Impfungen. Wir kommen jetzt in die Phase, in der wir noch nicht genau wissen, wie es mit der Drittimpfung (der sogenannten Boosterimpfung) aussieht.

Ältere und immungeschwächte, vorerkrankte Menschen haben natürlich ein schwächeres Immunsystem und die große Sorge ist, dass gerade bei diesen vulnerablen Gruppen, die Antikörperspiegel jetzt schon abfallen, da sie schon sehr früh im Jahr geimpft wurden. Wir müssen also auch altersbezogene Daten zugrunde legen. In der Tiefe erfassen wir in Deutschland bisher nicht die Daten, die in anderen Ländern bereits vorliegen. Das können wir auf die Schnelle nicht ändern.

Das Kabinett plant, künftig neben der Inzidenz je nach Altersgruppe auch die Lage auf den Intensivstationen und die Impfquote für neue Maßnahmen zugrunde zu legen. Halten Sie das für richtig?

Die Inzidenz bleibt weiterhin ein wichtiger Wert – diesen abzuschaffen, wäre aus meiner Sicht grundlegend falsch. Denn die Inzidenz ist ja der erste Indikator und spiegelt die Infektionssituation wider. Die Krankenhausaufnahme findet erst zehn bis 14 Tage später statt. Schauen wir also nur auf die Krankenhausaufnahmen, haben wir schon alles verschlafen. Wir müssen den Dreiklang beobachten, den wir immer wieder predigen: Sieben-Tage-Inzidenz, Sieben-Tage-Hospitalisierungs-Inzidenz, Intensivbettenbelegungsrate. Das machen Berlin und Niedersachsen beispielsweise bereits sehr schön.

Zusätzlich dazu wäre der R-Wert wichtig, die Impfquote und die Altersstruktur. Und dann wird es auch schon so, dass es kaum noch verständlich ist. Aber die Werte könnten grafisch verständlich dargestellt werden. Was ich allerdings wirklich kritisiere, ist, dass wir jetzt wieder einen Flickenteppich in Deutschland haben. Es gibt keine klare Regelung, was wo gilt. Eine klare Aufgabe der Politik wäre es, festzulegen, was wir denn eigentlich machen, wenn alle Werte "rot" anzeigen. Was gilt denn dann?

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Immer wieder gibt es Diskussionen über die Corona-Todeszahlen: Wie erklären Sie, dass es nicht immer einen direkten Zusammenhang zwischen Erkrankung und Tod gibt?

Das ist im Grunde ja immer so: Sie haben einen schweren Unfall – beispielsweise fahren Sie gegen einen Baum – erleiden Hirnverletzungen und sterben etwa ein halbes Jahr später. Juristisch gesehen zählt das aber dann als kausaler Zusammenhang. Und der besteht natürlich auch. Das Problem ist, dass die Zahl der Corona-Toten wahrscheinlich nicht über- sondern eher unterschätzt ist.

Wenn beispielsweise ein junger Mensch schwer an Corona erkrankt, beatmet werden muss und auf der Intensivstation landet. Dann überlebt er, kommt schwer geschädigt in eine Langzeitrehabilitation und 40 Wochen später erleidet er eine schwere Lungenembolie und stirbt. Dann zählt er wahrscheinlich nicht als Covid-Opfer – aber er ist eins. Das ist weltweit bekannt, dass es eher eine Unter- als eine Überschätzung gibt. Deshalb ist der Blick auf die Übersterblichkeit so wichtig.

Mehr als 90 Prozent der Patienten auf den Intensivstationen sollen mittlerweile Ungeimpfte sein – wie wichtig ist die Impfquote aus Ihrer Sicht?

Eine logische Schlussfolgerung aus dieser Tatsache ist natürlich, dass die Impfquote eine große Rolle spielt. Wir haben das auch publiziert – Christian Karagiannidis und Andreas Schuppert – wie die Steigerung der Impfquote die Inzidenzen absinken lässt und dann in der Konsequenz auch die Krankenhausaufnahmen. Das heißt, es gibt da immer noch einen linearen Zusammenhang. Und jetzt breitet es sich vor allem bei den Ungeimpften aus – bei den Jüngeren.

Und wer glaubt, dass die Jüngeren nur einen Husten und Schnupfen bekommen: Nein, das ist nicht so. Auch die bekommen einen schweren Verlauf und werden beatmet. Mittlerweile sind über 50 Prozent der behandelten Intensivpatienten unter 60 Jahre alt. Und das wollen wir doch nicht. Das ist verhinderbar – und deshalb sind die Impfungen so wichtig.

Wie könnten wir jetzt die Impfquoten steigern und Impfskeptiker abholen?

Grundsätzlich ist das eine politische Entscheidung. Aber man muss sich sehr genau anschauen, wer aus welchen Gründen noch nicht geimpft ist. Wir müssen uns beispielsweise langsam fragen, was wir in den Altenheimen machen – mit den Betreuten, aber auch mit den Betreuern. Gibt es hier nicht eine professionsethische Verpflichtung zur Impfung? Wenn ich in so einem Beruf arbeite, setze ich doch eigentlich alles daran, die Patienten, die ich betreue, nicht zu schädigen. Das ist mein oberstes Gebot, als Arzt, als Pflegekraft, als medizinische Fachkraft. Ich darf meinen Patienten, der mir anvertraut ist, nicht schädigen. Natürlich können Geimpfte sich auch anstecken und ansteckend sein – das Risiko ist aber deutlich geringer.

Eine gesetzliche Verpflichtung zur Impfung ist wahrscheinlich nicht umsetzbar, aber jeder in einem solchen Beruf sollte sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Und wir können Menschen auch mit guten Argumenten überzeugen. Indem wir jeden einzelnen Impfskeptiker fragen: Warum lässt du dich nicht impfen? Da wird es viele Leute geben, die wir noch mitnehmen können. Impfskeptiker sollte man auf keinen Fall in die Ecke stellen und mit dem Finger auf sie zeigen. Deshalb sollten wir alles daran setzen, sie von der hervorragenden Wirkung der Impfung, dem dadurch erzeugten Schutz vor schweren Krankheitsverläufen und von der guten Verträglichkeit zu überzeugen: Mit Hausärzten oder indem wir dorthin gehen, wo die Menschen sind. Nicht mit Druck, sondern mit Aufklärung. Man muss den Menschen Sicherheit geben und ihnen ihre Ängste nehmen.

Mittlerweile trifft Corona besonders viele junge Menschen: Wie alt sind die Patienten aktuell im Schnitt?

Aktuell erkranken vor allem die Jüngeren, das ist richtig. Wir sehen jetzt auch, dass bei den Hospitalisierungen rund 40 Prozent über 60 Jahre alt sind, aber 40 Prozent eben auch zwischen 18 und 59 Jahren alt sind. Die Kinder spielen tatsächlich noch keine ganz große Rolle – aber trotzdem: Auch in dieser Altersgruppe wissen wir nicht, was mit Long-Covid passiert. Auch da sollten wir vorsichtig sein. Dass der Anteil der vielen älteren Patienten mit schweren Verläufen auf den Intensivstationen so zurückgegangen ist, ist aber ganz klar auch ein deutlicher Erfolg der Impfungen.

Betreffen die aktuellen Fälle Sie und Ihre Mitarbeiter auf den Intensivstationen persönlicher, da es mehr jüngere Patienten, beispielsweise junge Väter oder Mütter sind?

Jeder Fall betrifft uns – ganz egal ob ein 30-Jähriger, eine 50-Jährige oder ein 80-Jähriger. Es ist natürlich eine gewisse Emotionalität damit verbunden, wenn Jüngere so schwer erkranken, da alle Beteiligten wissen, wie hoch beispielsweise die Sterblichkeit ist. Zudem ist die Behandlungsdauer der jüngeren Patienten deutlich länger – das bedeutet automatisch eine zusätzliche Belastung der Mitarbeiter. Trotzdem berührt uns jedes Schicksal – auch die Älteren haben natürlich Schicksale und auch da muss man komplexe Entscheidungen treffen.

Wie stehen Sie zum Thema Dritte Impfung – halten Sie diese für sinnvoll und wenn ja, für wen?

Grundsätzlich sollten wir alles daransetzen, die Menschen abzuholen, damit sie sich impfen lassen. Und wenn wir da zum Thema Drittimpfung kommen, wird es noch komplizierter. Daher denke ich, dass es wichtiger ist, erst einmal die Zielpopulationen durchzuimpfen. Aber danach müssen wir uns zügig darum kümmern, wer die Drittimpfung bekommen soll. Ältere sicherlich – aber die Stiko müsste sich dazu erst einmal eindeutig äußern.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Janssens!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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