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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Impfkampagne beschleunigen So könnte die Delta-Variante ausgebremst werden
Impfen gegen die Zeit: Angesicht der ansteckenderen Delta-Variante muss das Impftempo beschleunigt werden. Doch wie kann das gelingen? Experten und Politiker haben verschiedene Lösungsansätze.
Über die Hälfte der Bundesbürger (53,3 Prozent) hat bereits die Erstimpfung gegen das Coronavirus erhalten, über ein Drittel auch schon die zweite Spritze (34,8 Prozent, Stand 28. Juni). "Bis Ende Juli wird jeder Erwachsene in Deutschland, der geimpft werden will, auch eine erste Impfung erhalten haben können; wenn die Lieferungen so weitergehen, vielleicht noch ein Stück früher", sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Samstag in einer Diskussionsrunde in Berlin.
Die Hersteller der Impfstoffe von Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson kündigten zusätzliche Lieferungen an. Doch all das scheint nicht genug, denn der Gegner ist gefährlicher geworden. Die erstmals in Indien entdeckte, wesentlich ansteckendere Delta-Variante des Virus könnte alle Anstrengungen durchkreuzen.
Aktuell jede zweite Infektion mit Delta-Variante
"Fest steht, dass die Delta-Variante sich auch hierzulande durchsetzen wird, einfach weil die höhere Ansteckungsrate ein Selektionsvorteil ist", erklärt Markus Scholz, Epidemiologe an der Universität Leipzig, im Gespräch mit t-online. "Das Coronavirus findet in der Delta-Variante mehr Wirte, kann sich also besser vermehren. Damit wird diese Variante die dominierende werden."
Das Robert Koch-Institut schätzt, dass aktuell 50 Prozent der Neuinfektionen auf die Delta-Variante zurückzuführen sein dürften.
Scholz' Team hat modelliert, was in Deutschland passieren würde, wenn alle Maßnahmen zur Viruseindämmung aufgehoben würden. "Wir haben simuliert, wie die Fallzahlen durch die Delta-Variante steigen werden und prognostizieren: Würden sofort alle Einschränkungen aufgehoben, wären wir bereits Ende Juli / Anfang August in der vierten Welle. Wenn im Herbst der eindämmende Effekt warmer Temperaturen wegfällt, rechnen wir auf jeden Fall mit einer vierten Welle. Die aktuelle Impfgeschwindigkeit reicht nicht aus, das aufzuhalten, zumal weiterhin Impfstoffknappheit besteht."
Forderungen nach Änderungen der Impfintervalle
Angesichts des Mangels an Vakzindosen empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) derzeit ein Intervall von sechs Wochen zwischen Erst- und Zweitimpfung bei den mRNA-Impfstoffen (Biontech und Moderna) und zwölf Wochen bei Astrazeneca. Am Wochenende forderten Oppositionspolitiker, dieses Intervall zu verkürzen.
Bei den mRNA-Impfstoffen solle die Zweitimpfung bereits nach drei Wochen erfolgen, sagte der Grünen-Politiker Janosch Dahmen der "Welt am Sonntag". Es gebe "harte Daten", dass dies gegen die Delta-Variante sehr wirksam sei. Zu einer früheren Zweitimpfung mit dem Impfstoff von Astrazeneca liege noch nichts vor. Der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann sagte: "Die Ständige Impfkommission sollte ihre Empfehlung zu den Impfintervallen überarbeiten und den Zeitpunkt der Zweitimpfung vorziehen."
Dem widersprach der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, im ZDF-"Morgenmagazin". Er rät aktuell nicht dazu, den Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfungen zu verkürzen. Wenn das derzeitige Tempo der Impfkampagne beibehalten werde, dürften im September auch sämtliche Zweitimpfungen verabreicht worden sein. Wenn mehr Impfstoff geliefert werde, gehe das auch schneller.
Nur Zweitimpfung bietet Schutz
Klar ist: Der Impfturbo muss angeworfen werden. Doch Hausärzte beobachten ein anderes Phänomen: Immer mehr Impftermine werden abgesagt. "Absagen oder No-Shows nehmen auch in den Hausarztpraxen zu", sagte der Vorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Offenbar betrifft dies zunehmend auch Termine für die Zweitimpfung. Doch ohne sie ist der Schutz auch und vor allem gegen die Delta-Variante nicht ausreichend. In Großbritannien, wo auf flächendeckende Erstimpfungen gesetzt wurde, mussten Lockdown-Lockerungen angesichts wegen der Delta-Variante in die Höhe schnellender Infektionszahlen verschoben werden.
"Wichtig ist, daran zu appellieren, sich unbedingt zweifach impfen zu lassen mit den drei Impfstoffen, bei denen dies nötig ist, um einen ausreichenden Schutz aufzubauen", erklärt Epidemiologe Scholz. Sein Vorschlag: "Vielleicht wäre es auch nötig, proaktiv auf die Menschen zuzugehen, die ihren zweiten Impftermin absagen. Haus- und Betriebsärzte oder Impfzentren sollten diese Menschen kontaktieren und sie auf die Dringlichkeit der zweiten Impfung hinweisen."
Testpflicht für Reiserückkehrer
Um die noch schnellere Ausbreitung der Delta-Variante in Deutschland zu verhindern, drängten verschiedene Länderregierungschefs auf die Verschärfung von Test- und Quarantänepflichten bei der Einreise nach Deutschland. "Wer nach Deutschland kommt, der sollte aktuell negativ getestet sein", sagte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) am Montag in Hannover. Nicht nur bei Flugreisen, sondern auch bei den vielen Landübertritten, etwa mit dem Zug oder Auto, sollten Corona-Tests verpflichtend sein.
Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) forderte in der "Welt" eine fünftägige Quarantäne für alle nicht geimpften Reiserückkehrer aus Risikogebieten und Hochinzidenzgebieten. Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach unterstützt den Appell. Verschiedene Reisekonzerne hatten ihre Pauschalreisen nach Portugal nach der Einstufung des Landes als Virusvariantengebiet sogar ganz abgesagt. Dennoch entschieden Bund und Länder gestern, vorerst keine schärferen Corona-Regeln bei der Einreise oder Rückkehr nach Deutschland zu verhängen.
Derzeit muss bei Rückreisen aus Risikogebieten mit einem negativen Test keine Quarantäne angetreten werden. Nach einem Aufenthalt in Hochinzidenzgebieten kann eine Testung frühestens fünf Tage nach Einreise vorgenommen werden. Nach Aufenthalt in Virusvariantengebieten dauert die Quarantäne 14 Tage, und eine vorzeitige Beendigung der Quarantäne ist nicht möglich.
Debatte über Impfungen von Kindern
Ein weiterer Knackpunkt bleibt die Impfung von Kindern. Scholz sagt: "Die vierte Welle wird vor allem die Gruppen betreffen, die bis dahin nicht vollständig geimpft sind oder nicht geimpft werden können, wie Kinder und Jugendliche." Bislang hat die Ständige Impfkommission keine generelle Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ausgesprochen. Sie empfiehlt Impfungen nur für 12- bis 17-Jährige mit bestimmten Vorerkrankungen.
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach fordert, dies zu überdenken. "In Großbritannien sind bereits viele Kinder mit Covid in der Klinik. Die Ständige Impfkommission argumentiert, dass Covid für Kinder harmlos sei. Für die Delta-Variante gilt dies meiner Ansicht nach aber nicht", sagte Lauterbach der "Rheinischen Post". Die Durchseuchung der Kinder mit der Delta-Variante sei zu riskant. "Und Wechselunterricht ist keine Lösung."
Im Schutz der Schulen sieht auch Markus Scholz eine vorrangige Aufgabe, gerade unter der Prämisse, dass es bislang keine Impfempfehlung für Kinder gibt. "Um die Schulen zu schützen, muss jetzt gehandelt werden. Raumluftfilter sind zwar teuer, wären aber hilfreich. Und: Die Testpflicht an Schulen muss bei steigenden Inzidenzen unbedingt wieder eingeführt werden. Wir haben gesehen, dass in der dritten Welle knapp die Hälfte der Infektionen bei schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen über Schultests entdeckt werden konnten."
Und er appelliert auch an die Erwachsenen: "Einzufordern wäre jetzt auch die umgekehrte Solidarität der Erwachsenen. Die Kinder haben auf viel verzichtet, um die Erwachsenen und die Risikogruppen zu schützen. Jetzt sollte man ihnen etwas zurückgeben, indem man sich impfen lässt. So wird diese große ungeimpfte Gruppe indirekt geschützt, um neue Einschränkungen im Schulbereich möglichst zu vermeiden."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Markus Scholz (25. Juni)
- Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherche