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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Falsche Strategie in Deutschland? "Längst überfällig": Hausärzte fordern Umdenken bei Impfungen
Die Corona-Impfungen in Deutschland kommen schleppend voran. Insbesondere der Impfstoff von Astrazeneca stößt bei vielen auf Skepsis – Tausende Dosen bleiben ungenutzt. Und nun?
Der Corona-Impfstoff von Astrazeneca stößt in Deutschland auf Akzeptanzprobleme. Experten zufolge bestehen keine Zweifel an der Qualität und Wirksamkeit des Mittels. Die neuesten Daten aus Großbritannien, wo bereits seit Ende Dezember großflächig mit Astrazeneca geimpft wird, bescheinigen dem Impfstoff eine hohe Wirksamkeit – auch bei älteren Menschen.
Doch die anfänglich diffuse Datenlage verunsichert offenbar weiter viele Menschen. Die Folge: Impfkapazitäten bleiben ungenutzt, es bahnt sich ein "Impfstau" an. Das wiederum bremst die Pandemiebekämpfung erheblich aus.
Astrazeneca-Impfstoff: Akzeptanz steigt nur langsam
Laut einer RTL-Forsa-Umfrage von Anfang März würden die meisten Deutschen zwar den Biontech-Impfstoff bevorzugen, sie würden Astrazeneca aber nicht ablehnen, wenn ihnen kein anderer Impfstoff angeboten würde. Der Mehrheit sei es laut der Umfrage egal, welchen Impfstoff sie angeboten bekommen.
Viele Menschen in Deutschland würden sich demnach gern gegen Corona impfen lassen – auch mit Astrazeneca. Doch die Impfverordnung lässt das momentan nicht zu. Politiker und Corona-Experten fordern nun, die Impfstrategie erneut anzupassen, um mit dem Impfen schneller voranzukommen. Doch welche konkreten Wege könnte Deutschland gehen? Wir stellen vier Möglichkeiten vor.
Möglichkeit 1: Astrazeneca für alle Altersgruppen freigeben
Die Ständige Impfkommission in Deutschland (Stiko) empfiehlt den Astrazeneca-Impfstoff – anders als die EU-Arzneimittelbehörde Ema – bisher nur für Menschen zwischen 18 und 64 Jahren. Die Begründung: Bislang fehlten ausreichend Daten zur Wirkung bei Älteren.
Der Stiko-Chef Thomas Mertens hat nun aber eine aktualisierte Empfehlung zum Astrazeneca-Impfstoff angekündigt. "Wir werden bald zu einer neuen aktuellen Empfehlung kommen", sagte er kürzlich im ZDF. Mertens betonte, dass die Stiko das Astrazeneca-Präparat für einen "sehr guten" Impfstoff halte.
Zuvor waren bereits Forderungen lautgeworden, Astrazeneca wegen positiver Studiendaten für alle Altersgruppen freizugeben. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach etwa hatte dies auf Twitter gefordert. Das würde "viele Menschenleben retten", so Lauterbach. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, der gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe ebenfalls dafür plädierte, den ungenutzten Impfstoff von Astrazeneca für alle Bürger zugänglich zu machen, sprach allerdings die große Herausforderung dieser Idee an. "Man muss aber auch klären, wie das konkret gehen soll."
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Möglichkeit 2: Strenge Impfreihenfolge lockern
Wegen des liegengebliebenen Corona-Impfstoffs von Astrazeneca mehren sich auch die Forderungen nach einer Lockerung der Impfreihenfolge. Drei Länderchefs haben sich bereits konkret dafür ausgesprochen, das Astrazeneca-Mittel flexibler verabreichen zu können. Es solle für alle freigegeben werden, die sich impfen lassen wollen.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schlug in der "Bild am Sonntag" vor, hunderttausende ungenutzte Dosen aus den Depots der Bundesländer zur Impfung für alle freizugeben. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) forderte, den Zugang zum Impfstoff für alle Bevölkerungsgruppen zu öffnen, solange einige Vakzine auf Vorbehalte stoßen.
"Die Priorisierung ist unbedingt wichtig – zumindest solange der Impfstoff noch Mangelware ist. Zugleich können wir es uns nicht leisten, dass Impfstoff herumsteht und nicht verimpft wird, weil Teile der Berechtigten ihn ablehnen. Dann müssen wir dieses strenge Regiment auflockern und Menschen impfen, die nach der Priorisierung noch nicht an der Reihe wären", sagte Kretschmann der "Welt am Sonntag".
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) forderte ebenfalls eine Aufhebung der Priorisierung bei Astrazeneca. "Die Priorisierung ist ein Mittel der Mangelverwaltung", sagte er der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". "Jetzt sehen wir, dass mehr davon vorhanden ist, als kurzfristig verimpft werden kann." Mit der Öffnung ließen sich schnell Fortschritte erzielen.
Doch was sagen die Corona-Experten zu dem Vorstoß? Der Charité-Virologe Christian Drosten bekundete auf Twitter ebenfalls die Meinung, man brauche eine schnelle Versorgung der sofort Impfbereiten. Dennoch ist für ihn klar: "Prioritätsgruppen brauchen Priorität." SPD-Experte Karl Lauterbach machte dazu in den Zeitungen der Funke Mediengruppe bereits einen konkreten Vorschlag: Der Impfstoff von Astrazeneca sollte für alle unter 65-Jährigen in den ersten drei Prioritätsgruppen der Impfverordnung "sofort zur Verfügung gestellt werden" und "sofort eingesetzt werden".
Möglichkeit 3: Zweite Impfdosis verzögern
Eine weitere Möglichkeit, um die Impfkampagne zu beschleunigen und das Vertrauen gegenüber dem Astrazeneca-Wirkstoff zu erhöhen: Die zweite Impfdosis verzögern und somit einen größeren Teil der Bevölkerung schneller impfen. Gestützt wird diese Idee durch eine neue Untersuchung.
Die Studie fand kürzlich heraus, dass das Astrazeneca-Vakzin noch besser wirkt, wenn der Impfabstand erhöht wird. Forscher der britischen Universität Oxford berichteten, dass ein dreimonatiges Intervall zwischen erster und zweiter Dosis statt den üblichen sechs Wochen zu einer höheren Schutzwirkung führte. Mit möglichst vielen Erstimpfungen könnte es gelingen, mehr Menschen vor schwerer Krankheit zu bewahren, so die Forscher. Auch die Ansteckungsgefahr reduziere sich bereits nach der ersten Dosis.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die neuen Daten bereits berücksichtigt und empfiehlt für den Astrazeneca-Impfstoff nun einen zwölfwöchigen Abstand. Die britische Impfkommission hat daraufhin eine Verschiebung der zweiten Astrazeneca-Dosis auf bis zu drei Monate erlaubt.
In Deutschland hat die Ständige Impfkommission (Stiko) festgelegt, dass die zweite Dosis des Astrazeneca-Impfstoffs neun bis zwölf Wochen nach der ersten zu verabreichen ist. Ob die Regelung nun angepasst wird, ist noch offen. Stiko-Chef Mertens hat aber schon signalisiert, dass es möglich sei, das Intervall zwischen Erst- und Zweitimpfung zeitlich zu strecken.
Möglichkeit 4: Mehr Impfkapazitäten schaffen
Feststeht aber schon jetzt: Die Impfzentren werden in Zukunft nicht ausreichen, um genügend Menschen zu impfen. Die Hersteller Biontech/Pfizer, Moderna und Astrazeneca werden in den nächsten Wochen immer mehr Impfdosen liefern, die Zulassung eines vierten Vakzins von Johnson & Johnson könnte bald folgen.
Die Impfstrategie sieht darum vor, dass ab März in einigen Bundesländern Hausärzte Corona-Impfungen in ihren Praxen vornehmen. Nach diesen vereinzelten Probeläufen soll spätestens ab Mai bundesweit in den Arztpraxen mit dem Biontech-Wirkstoff gegen das Coronavirus geimpft werden. Das teilte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mit.
Doch das geht manchen Kritikern nicht weit genug. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder etwa forderte Gesundheitsminister Jens Spahn auf, sofort die Verimpfung von Astrazeneca-Dosen über Hausärzte möglich zu machen. "Wir müssen jetzt mehr Tempo machen", sagt der CSU-Chef.
Auch der Deutsche Hausärzteverband hält Impfungen gegen Corona in den Praxen für "längst überfällig". Auf Anfrage von t-online sagte Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Verbands: "Das Impfen ist entscheidend, um die Bevölkerung vor dem Coronavirus zu schützen und der Gesellschaft wieder eine Perspektive abseits des Lockdowns zu geben". Umso unbegreiflicher sei es, wenn aktuell Impfstoffdosen von Astrazeneca ungenutzt liegen bleiben oder sogar wegen mangelnder Haltbarkeit vernichtet werden würden.
Seit Wochen würde der Deutsche Hausärzteverband anregen, die Impfungen in den Praxen zuzulassen, denn jeder Tag zähle. "Es ist völlig unsinnig, wenn Hausarztpraxen nun irgendwelche Atteste ausstellen sollen, um die Impfreihenfolge zu bestätigen. Diese Zeit wäre besser investiert, wenn wir die Patientinnen und Patienten einfach impfen würden", so Weigeldt. Für den Ausbau der Impfkapazitäten muss jedoch zunächst eine Verordnung der Bundesregierung erfolgen.
Andere Länder wie Israel bieten derweil Corona-Impfungen im Vorbeigehen an, zum Beispiel im Ikea-Möbelhaus. Auch hierzulande werden Stimmen lauter, die neue Impfstandorte fordern. Ein solches oder ähnliches Angebot in Deutschland scheint aber bislang noch fern.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Ärztezeitung: "STIKO prüft aktualisierte Empfehlung zu AstraZeneca-Vakzin", 28.02.2021
- tagesschau: "Politik will Impfreihenfolge lockern", 28.02.2021
- RTL-Forsa-Umfrage: "Welchen Impfstoff würden Sie wählen?"
- Twitterprofil von Karl Lauterbach
- Nachrichtenagenturen dpa, Reuters
- Eigene Recherche