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Weshalb Lügen zu Unrecht einen schlechten Ruf haben | Kolumne


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Es geht nicht ohne
Weshalb Lügen zu Unrecht einen schlechten Ruf haben

Eine Kolumne von Ulrike Scheuermann

Aktualisiert am 05.09.2021Lesedauer: 5 Min.
Lügen: Lügen können Vertrauen zerstören und Freundschaften gefährden.Vergrößern des Bildes
Lügen: Sie können Vertrauen zerstören und Freundschaften gefährden. (Quelle: Cirilopoeta/getty-images-bilder)
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Lügen gelten als verwerflich. In der Psychologie wirft man einen differenzierteren Blick darauf. Denn Lügen gehören zum Alltag, keiner kommt ohne sie aus – und sie können sogar allen nützen.

Pinocchio wächst zur Strafe für das Lügen eine lange Nase. Ich stellte mir als Kind zu dem Spruch "Lügen haben kurze Beine" Menschen mit krummen Stummelbeinchen vor. So wollte ich natürlich nicht aussehen.

Lügen sind verpönt. Sie scheinen nur negative Folgen zu haben. Es stimmt ja: Lügen können Vertrauen und die Zusammenarbeit zerstören, Freundschaften und Partnerschaften gefährden oder gar unwiderruflich beenden. "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht."

Das schlechte Image von Lügen ist unberechtigt

Doch Lügen haben zu Unrecht ein so schlechtes Image. Sie erfüllen unter bestimmten Bedingungen einen wichtigen Nutzen für die Gemeinschaft. Fast jeden Tag wird ein bisschen geschwindelt. Es gibt Flunkereien, die Streit und Konflikt vermeiden und dem Gegenüber mehr nutzen als schaden. Gäbe es diesen Vorteil für unser Zusammenleben nicht, wären Lügen vermutlich schon längst aus unserem Verhaltensrepertoire verschwunden.

Sechs von zehn Deutschen lügen täglich, im Durchschnitt lügen wir alle zweimal pro Tag. Das ist deutlich weniger als die 200 Mal, die im Internet als Zahl kursieren. Und: Mehr als die Hälfte der Deutschen lügt, um jemanden aufzumuntern oder der anderen Person eine Freude zu bereiten, 37 Prozent wollen Trost spenden.

Warum wir lügen

"Superleckeres Essen", schwärmt das Paar gegenüber den Gastgebern, obwohl beide Rosenkohl noch nie mochten. "Tolles Oberteil", bemerkt der Mann kurz vor dem Ausgehen liebevoll zu seiner Frau, obwohl ihm die Farbe des Shirts nicht gefällt. "Eine schöne Zeichnung hast du gemacht", sagt der Lehrer zu dem künstlerisch nicht sonderlich begabten Schüler, der sich aber bemüht hat. Der Lehrer will ihn ermutigen.

Lügen sind ein Fundament unseres Zusammenlebens, ein sozialer Kitt und sogar überlebenswichtig, denn sie halten die Gemeinschaft zusammen. Mit Flunkern, Schwindeln, Täuschen und Verschweigen funktionieren Gesellschaften. Das ist das Fazit mehrerer Studien zu den Motiven und dem Nutzen von Lügen. Man vermutet eine evolutionär sinnvolle Anpassungsstrategie an komplexe soziale Situationen.

Wissenschaftler haben außerdem nachgewiesen, dass es keine typischen Lügner gibt. Stattdessen wird Unehrlichkeit durch ein typisches Umfeld geprägt. Die Neigung zu Unehrlichkeit hängt davon ab, wie Lügen von der Familie, Freunden, Kollegen und Nachbarn bewertet wird. Wird dort etwa "Geld um jeden Preis" höher bewertet als Ehrlichkeit und Gemeinschaftssinn, so wird man auch eher lügen. Unter bestimmten anderen Bedingungen sind Menschen ebenfalls unehrlich, etwa wenn sie unter hohem Leistungsdruck stehen und sich rechtfertigen müssen.

In kollektivistischen Kulturen hat das Gemeinwohl eine höhere Bedeutung. Die eher ehrlichere, direktere Art der westlichen Kultur widerstrebt zum Beispiel den meisten Asiaten, wo folglich das Beschönigen und Verschweigen deutlich stärker ausgeprägt ist als hierzulande.

Kinder lernen Schwindeln schon früh, am Anfang aus egoistischen Motiven: "Hast du die Schokolade aus dem Schrank genommen?" – "Nein, das war ich nicht." Sie wollen damit Ärger vermeiden. Größere Kinder lügen dann auch schon aus sozialeren Motiven. So bestätigen sie im psychologischen Experiment eine andere Person, wenn diese sich unglücklich über ein missratenes Bild äußert, was sie gerade gemalt hat, mit einer gut gemeinten Lüge: "Ich finde dein Bild schön."

Weiße und blaue Lügen helfen anderen

In einer Computersimulation haben Wissenschaftler eine Gruppe von 100 Personen untersucht. Lügen waren in der Simulation erlaubt, hatten aber negative Konsequenzen, nämlich eine geschwächte Bindung zum Belogenen. Dennoch gab es Personen, die mehr als andere flunkerten.

Egoistische Lügner waren allerdings selten. Und diese Personen gerieten sozial ins Abseits, waren also immer weniger in die Gemeinschaft integriert. Dagegen waren diejenigen besonders gut sozial integriert, die nur moderat logen, also Komplimente schwindelten und die Wahrheit ein wenig zu ihren eigenen Gunsten verdrehten. Sie hatten lockeren Kontakt zu Personen verschiedener Gruppen und bauten damit sogar besonders erfolgreich Brücken zwischen verschiedenen Personengruppen.

Die Wissenschaft spricht von "weißen Lügen", wenn Unwahrheiten positive Folgen für andere haben und das Zusammenleben erleichtern. Es geht um eine Art gut gemeinte Notlüge. Millionen von "Gefällt mir"-Likes in den sozialen Medien sind sicher weiße Lügen. Man will bestätigen, bestärken, erfreuen, Wertschätzung ausdrücken und eine gute Stimmung erzeugen. Diese Art von Schummeleien schweißt zusammen.

Es gibt auch "blaue Lügen", die Menschen helfen sollen. Man lügt oder verschweigt etwas, um jemand anderen nicht zu verraten. "Nein, meine Freundin war nicht dabei, als der rassistische Spruch an die Tafel geschrieben wurde." Auch dies geschieht in erster Linie aus nicht-egoistischen Motiven, man bringt sich dadurch sogar selbst in Gefahr, als Lügner dazustehen.

Schwarze Lügen sind egoistisch

Selbstsüchtige Lügen dagegen geschehen aus egoistischen Motiven. Man verspricht sich davon einen persönlichen Nutzen und nimmt den Schaden für andere in Kauf. Diese sogenannten schwarzen Lügen dienen nur dem Lügner. Mit harmlosen schwarzen Lügen stellt man sich in ein besseres Licht. 40 Prozent der Deutschen täuschen Fleiß oder Engagement vor oder stellen sich erfolgreicher, sportlicher und attraktiver dar, als sie es tatsächlich sind.

Der Schaden hält sich in Grenzen, auch wenn man damit befördert, dass sich andere beispielsweise in den sozialen Medien im Vergleich minderwertig fühlen. Ein Klassiker, aber nicht harmlos, sind dagegen zum Beispiel falsche Angaben bei der Steuererklärung: Sie nutzen dem Lügner, schaden aber der Gemeinschaft.

Diese Betrüger geraten leicht ins soziale Abseits, denn früher oder später fliegen schwarze Lügen auf und sorgen für Empörung, Ächtung und Ausgrenzung. Wir kennen das, wenn Lügen oder Betrügereien von Prominenten oder Politikern in den Medien bekannt werden. Oft müssen sie ihre Position dann aufgeben und verlieren ihr Ansehen.

"Es dauert 20 Jahre, um sich einen guten Ruf aufzubauen, aber nur fünf Minuten, um ihn zu ruinieren", sagte der amerikanische Großinvestor Warren Buffett. Ich denke, er hat recht. Dagegen stimmt der Spruch "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert" in der Regel nicht. Er soll eher das Gewissen beruhigen, als dass er eine Voraussage für die Zukunft trifft.

Soziale Verträglichkeit geht vor Wahrheit

Nehmen wir den Klassiker: den Seitensprung. Hier sollte man differenziert betrachten, wie die Situation ist. Das fängt schon bei der Frage an, ob etwas verschwiegen oder ob direkt gelogen wird, etwa auf Nachfrage des Partners.

Ob es sinnvoll ist, die Wahrheit zu sagen, hängt zum Beispiel auch von der emotionalen Bedeutung und den möglichen Folgen des Seitensprungs sowie den Absprachen des Paares ab.

Die Wahrheit zu erzählen oder etwas zu verschweigen oder zu lügen, ist auch hier eine Gewissensentscheidung, die wiederum mit den eigenen Motiven zusammenhängt: Sage ich die Wahrheit, um mein Gewissen zu entlasten, also aus einem egoistischen Motiv, oder schade ich mit dem Verheimlichen wirklich der anderen Person und der Beziehung?

Wir sollten genau darauf achten, aus welchen Beweggründen wir lügen. Stellen Sie sich die folgenden Fragen:

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  • Wollen Sie nur selbst gut dastehen und sich Vorteile verschaffen, die womöglich anderen schaden? Dann lassen Sie es lieber.
  • Wollen Sie anderen etwas Gutes tun? Dann können Sie kleine, verhaltene Schwindeleien ruhig bewusst und ohne schlechtes Gewissen einsetzen, um das soziale Miteinander zu stärken und damit – so befremdlich es klingen mag – etwas zum Gemeinwohl beizutragen.

Mein Fazit zum Thema: Soziale Verträglichkeit geht vor Wahrheit.

Ulrike Scheuermann ist Diplom-Psychologin und Bestsellerautorin. Seit 25 Jahren hilft sie Menschen dabei, gut für sich zu sorgen. Ihre Self-Care-Programme finden in ihrer Akademie in Berlin statt.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
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