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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zwei Jahre nach Börsenbeben "Diese Leben hat Wirecard zerstört"
Vor zwei Jahren auf den Tag genau stürzte die Wirecard-Aktie ab, der Konzern implodierte kurze Zeit später. Der Schaden geht in die Milliarden. Doch die Anleger von Wirecard sitzen immer noch auf ihrem Verlust.
Um 10.43 Uhr am 18. Juni vor zwei Jahren veröffentlicht Wirecard die entscheidende Nachricht: Der Konzernabschluss 2019 muss erneut verschoben werden. Die Meldung sollte das Ende des einstigen Aufsteigerunternehmens besiegeln.
Die Abschlussprüfer von Wirecard, EY, hätten "über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro" noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise erlangt, heißt es in der Ad-Hoc-Mitteilung.
Auf Deutsch: EY hat Zweifel daran, dass es knapp zwei Milliarden Euro aus der Bilanz gab. Das war immerhin ein Viertel der gesamten Bilanzsumme.
Zack. Die Nachricht schlägt in den Markt ein wie eine Bombe.
Der Aktienkurs bricht innerhalb der nächsten Minuten drastisch ein. Am Ende des Tages kostet ein Wirecard-Anteil 38 Euro, knapp 65 Euro weniger als noch am Vortag.
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Eine Woche später meldet das Unternehmen Insolvenz an; die 1,9 Milliarden Euro existierten wohl nie. Wirecard war ein einziger Betrug. Die Aktie ist nun nichts mehr wert, der entstandene Schaden für Investoren geht in die Milliarden. Zehntausende Privatanleger haben ihr Geld verloren.
"Es geht zum Teil um sechsstellige Beträge"
Einer, der die Schicksale kennt und für ihr Geld kämpft, ist Christopher Kress. Der Fachanwalt für Kapitalmarktrecht vertritt gemeinsam mit Kollegen in seiner Esslinger Kanzlei mehr als 1.000 Wirecard-Geschädigte.
"Menschen, die wenige Hundert Euro in die Aktie investiert haben. Aber auch Menschen, die ihre gesamte Altersvorsorge durch den Wirecard-Betrug verloren haben, es geht hier zum Teil um sechsstellige Beträge", sagt er. "Diese Leben hat Wirecard zerstört."
Kress und seine Kanzleipartner wollen daher Schadensersatz. Und zwar von EY, dem früheren Wirtschaftsprüfer Wirecards. Jahrelang hatte EY die Abschlüsse abgenickt, während Wirecard nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bereits die Bilanzen gefälscht haben soll. Erst als Testüberweisungen von den Treuhandkonten ausblieben, meldete EY Zweifel an den Büchern an – und das Wirecard-Kartenhaus brach in sich zusammen.
Kress sagt: "Die Klage gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY erscheint uns am erfolgversprechendsten." Die Wirtschaftsprüfer hätten es über Jahre versäumt, den Betrug bei Wirecard aufzudecken. "Im Gegenteil: Die Prüfer haben geschludert und geschlafen."
Wambach-Bericht zeigt EY-Mängel
Wie gravierend die Mängel waren, zeigt der sogenannte Wambach-Bericht. Im Auftrag des Wirecard-U-Ausschusses, angefertigt von Martin Wambach, Vorstand des Instituts der Wirtschaftsprüfer, werden auf 168 Seiten die Probleme der EY-Prüfung deutlich.
Dieser Artikel ist Teil einer Mini-Serie von t-online zum Wirecard-Skandal. Anlass ist der Absturz des Konzerns vor zwei Jahren. In weiteren Artikeln beschäftigen wir uns mit den gefallenen Wirecard-Managern und den politischen Konsequenzen aus dem Fall Wirecard. Haben Sie Fragen oder Anmerkungen? Schreiben Sie uns gerne eine Mail an wirtschaft-finanzen@stroeer.de.
So heißt es beispielsweise, die Qualität der dokumentierten Prüfungsnachweise, auf die sich der Abschlussprüfer stützt, "ist in den von uns untersuchten Ermittlungsbereichen nicht durchgehend von hoher Verlässlichkeit". Zum Teil hat sich EY also auf mündliche Auskünfte vom Vorstand verlassen.
EY bestreitet die Vorwürfe in dem geheimen Bericht, den das "Handelsblatt" dennoch veröffentlichte. EY stellte daraufhin Strafanzeige gegen Unbekannt.
Allein: Warum wollen die Anwälte von EY Schadensersatz sehen? Und nicht etwa von den Wirecard-Managern, die in den Betrug verwickelt waren?
Die Antwort ist recht simpel. Ex-Vorstand Markus Braun streitet sämtliche Vorwürfe ab, das Verfahren gegen ihn ist noch nicht eröffnet. Ex-Asienvorstand Jan Marsalek, der maßgeblich für den Betrug in den Tochterfirmen Wirecards verantwortlich gewesen sein soll, ist seit zwei Jahren auf der Flucht. Keiner weiß so recht, wo er sich befindet.
Abgesehen davon sei eine Klage gegen Privatpersonen "nahezu aussichtslos", so Kress. "Im Zweifelsfall gehen Markus Braun oder Jan Marsalek einfach in die Privatinsolvenz." Auch gegen den Wirecard-Konzern als juristische Person bringe eine Klage laut Kress wenig. Immerhin ist er insolvent, besteht letztlich nur noch als rechtliche Hülle.
Hoffnung auf Musterklage
Eine große Hoffnung setzt Kress daher auf ein Musterverfahren gegen EY, das im Sommer eröffnet wird. "Dann haben Geschädigte sechs Monate Zeit, um ihre Ansprüche anzumelden. Wir gehen davon aus, dass sich noch deutlich mehr Kläger anschließen werden", sagt er.
Denn: Eine Musterklage, wie etwa gegen VW im Abgasskandal, ist für die geschädigten Anleger deutlich günstiger, als wenn sie allein gegen EY vor Gericht ziehen. Mehrere Hundert seiner Mandaten versuchten dies dennoch, sagt Anwalt Kress.
Rückenwind für die Klagen gegen EY hätten die Anleger durch das Landgericht München I bekommen, so Kress. "Es hat die von EY geprüften Bilanzen der Wirecard AG der Jahre 2017 und 2018 für nichtig erklärt." Nichtig sind damit auch die Dividendenbeschlüsse für die beiden Jahre.
Braun war auch Großaktionär
Geklagt hatte Insolvenzverwalter Michael Jaffé. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte er die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe von den Aktionären zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern.
Der Insolvenzverwalter machte jedoch deutlich, dass er bei möglichen Dividendenrückforderungen Braun und andere große Anleger ins Visier nehmen will, nicht jedoch die Kleinaktionäre. Denn Braun war nicht nur Vorstandschef, sondern mit acht Prozent der Anteile auch Großaktionär.
EY betonte in einer Stellungnahme hingegen, die Arbeit der Prüfer sei nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen: "EY Deutschland beziehungsweise EY-Mitarbeiter sind nicht Partei beziehungsweise Beklagte dieses Rechtsstreits."
Stiftungslösung soll Vergleich bringen
Neben Muster- und Individualklagen gibt es noch eine dritte Möglichkeit, um Schadensersatz zu erhalten: einen Vergleich. Dafür haben die Anlegerschützer der DSW eine Stiftung gegründet, in den Niederlanden. Gemeinsam mit der Frankfurter Rechtsanwaltskanzlei Nieding + Barth sowie einer holländischen Kanzlei.
Konkret funktioniert diese "neuartige Strategie", wie Klaus Nieding, der auch DSW-Vizepräsident ist, die Stiftungslösung nennt, so: Die Stiftung der Anlegerschützer klagt im Namen der betroffenen Anleger gegen EY Deutschland sowie ihr Mutterunternehmen, EY Global. So wollen die Anlegerschützer den Druck auf EY erhöhen, einem Vergleich zuzustimmen.
Außerdem: "Die finanziellen Mittel von EY Deutschland würden bei Weitem nicht ausreichen, die Anleger zu entschädigen. Daher klagen wir auch gegen EY Global", so Nieding. Das aber ist bei dem Musterverfahren nicht möglich, hier richten sich die Klagen nur gegen die deutsche Tochter.
Wirecard-Anleger weltweit könnten sich einem Vergleich anschließen
Sämtliche Kosten für die Klagen gegen EY bezahlt ein Prozessfinanzierer aus London. Im Falle eines Erfolgs bekommt er 25 Prozent der Vergleichssumme. Falls die Klagen scheitern sollte, geht er leer aus, trägt also das volle Risiko.
Zentraler Vorteil laut Nieding: "Für die geschädigten Anleger ist dieses Verfahren zu 100 Prozent kostenfrei. Außerdem dürfte es bei Weitem nicht so lange dauern, bis der Vergleich getroffen ist. Wie der Fall Deutsche Telekom gezeigt hat, kann ein Musterverfahren in einer solchen Dimension gut und gerne 20 Jahre dauern."
Und mehr noch: "Sollten wir einen Vergleich schließen, kann dieser nach holländischem Recht für allgemeinverbindlich erklärt werden." Dann könnten sich geschädigte Wirecard-Anleger auf der ganzen Welt dem Vergleich anschließen.
DSW-Vize Nieding sieht auch Vorteile für die Wirtschaftsprüfer selbst: "Für EY muss die Causa Wirecard irgendwann zu Ende sein. Es ist daher auch im Interesse von EY, einem Vergleich zuzustimmen, um das Thema aus der Welt zu räumen."
Erste Gesprächskontakte mit den Wirtschaftsprüfern bestünden bereits, sagt er. "Ich bin optimistisch, dass ein Vergleich mit EY zustande kommt, damit Anleger ihren Schadensersatz erhalten."
Verjährung droht
Welcher der drei Wege für Privatanleger am aussichtsreichsten ist, wird die Zeit zeigen. Klar ist nur: "Die Verjährung des Wirecard-Falls droht Ende 2023", sagt Kress. "Deshalb sollten Geschädigte bald den Klageweg gehen – ansonsten verfallen ihre Ansprüche."
Eine weitere, eher unkonventionelle Möglichkeit sind Klagen gegen Banken, Sparkassen und Finanzberater, so Kress. "Es kam vor, dass ein Berater kurz vor der Pleite eine Anlage in Wirecard-Aktien empfohlen hat. Das ist unhaltbar, Schadensersatz ist hier angebracht."
In jedem Fall dürfte es Jahre dauern, bis die Anleger Geld sehen. Selbst wenn die Klagen Erfolg haben. Oder, wie Kress sagt: "Zu Ende ist der Wirecard-Krimi noch lange nicht."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Christopher Kress, Rechtsanwälte Aslanidis, Kress & Häcker-Hollmann
- Gespräch mit Klaus Nieding, DSW
- DSW: "Schadenersatz für Wirecard-Anleger"
- FAZ: "Dritter Weg für Wirecard-Geschädigte"
- Handelsblatt: "Wirecard-Skandal: Sonderprüfer gehen mit Wirtschaftsprüfer EY hart ins Gericht"
- Ad-Hoc-Mitteilung von Wirecard
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa