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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte zur Bundestagswahl "Wir brauchen einen besseren Staat“
Deutschland muss sich nach der Wahl verändern – und zwar grundlegend. Allein: Die Deutschen scheinen das gar nicht zu wollen. Der Ökonom Marcel Fratzscher erklärt, wie sich das ändern lässt.
Noch ist völlig offen, wer Deutschland nach der Bundestagswahl regiert, selten war der Endspurt im Wahlkampf so spannend wie in diesem Jahr. Fest steht jedoch: Die künftige Regierung muss eine Reihe großer Probleme angehen, das Land in vielerlei Hinsicht umbauen.
Doch ist den Deutschen das eigentlich klar? Der bekannte Ökonom Marcel Fratzscher hat seine Zweifel. Im Interview mit t-online spricht er über den wirtschaftlichen Erfolg, der Deutschland träge gemacht hat, über neue gesellschaftliche Konflikte – und über eine mögliche Koalition, die sie lösen könnte.
t-online: Herr Fratzscher, die Querdenkerszene radikalisiert sich, der Mord in Idar-Oberstein schockiert viele Menschen. Verroht unsere Gesellschaft?
Marcel Fratzscher: Nein, das glaube ich nicht. Schreckliche, absurde Einzeltaten gab es zu allen Zeiten. Aber ich sorge mich allgemein, wie um den Begriff der Freiheit gerungen wird – als grundlegender gesellschaftlicher Konflikt. Die einen sagen, der Staat soll sich stärker raushalten. Die auf der anderen Seite fordern, wir müssen als Gemeinschaft zusammenstehen und uns zum Wohle aller auch einschränken. In der Wirtschaft führt das zu Fragen wie: Ist der Markt die Lösung und der Staat das Problem? Oder ist der Staat, die Gemeinschaft, die Lösung und der Markt das Problem?
Das müssen Sie erklären.
Einige Menschen beantworten die Fragen folgendermaßen: Wir müssen den Staat zurückschrauben, Steuern senken, den Klimawandel mit privaten Anstrengungen bekämpfen, die Regierung sollte sich heraushalten, der Markt regelt das. Auf der anderen Seite stehen Menschen, die die beiden Fragen umgekehrt beantworten, die sagen: Die Gemeinschaft, der Staat muss die Regeln vorgeben, wir müssen die Gemeinschaft schützen. In den USA können Sie diesen Konflikt noch viel zugespitzter beobachten.
Aber woher kommt denn diese Staatsskepsis?
Die kommt daher, dass wir häufig zu hohe oder falsche Erwartungen an den Staat haben, die dieser nicht erfüllen kann oder will. Der Staat spielt heute in unserer sozialen Marktwirtschaft eine sehr gewichtige Rolle. Und er nimmt, so lautet zumindest die eine der beiden Erzählungen, einen immer größeren Teil des erwirtschafteten Kuchens – also durch Steuern und Abgaben – für sich in Anspruch, die er dann nicht gut genug einsetzt.
Na ja, früher waren die Steuern höher als heute.
Richtig, unter Helmut Kohl war die Einkommenssteuer höher, damals gab es auch eine Vermögensteuer. Trotzdem ist der Staat in den vergangenen 70 Jahren deutlich größer geworden. Das Problem dabei ist gerade für mich als Ökonomen: Vieles, wofür der Staat sorgen soll, zum Beispiel Chancengleichheit oder soziale Mobilität, ist in dieser Zeit eher schlechter geworden Das passt nicht zusammen.
Marcel Fratzscher leitet seit 2013 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und gilt als einer der einflussreichsten deutschen Volkswirte. Zuvor war er mehr als zehn Jahre für die Europäische Zentralbank (EZB) tätig. Als Makroökonom beschäftigt sich Fratzscher vor allem mit Verteilungsfragen. Im laufenden Wahlkampf spricht er sich unter anderem für einen Mindestlohn von 12 Euro aus.
Also geben Sie den Kritikern recht, die fordern, dass sich die Bundes- und Landesregierungen mehr zurücknehmen sollten?
Nein, das ist der falsche Schluss. Wir brauchen nicht mehr oder weniger Staat. Wir brauchen einen besseren Staat. Dafür wiederum brauchen wir eine neue Balance zwischen Staat und Markt, die aufräumt mit der alten Besitzstandswahrung.
Geht es etwas konkreter?
Nehmen Sie etwa den Wohnungsbau, zum Beispiel hier in Berlin: In der südlichen Innenstadt wird mit dem früheren Flughafen Tempelhof ein riesiges Flugfeld als Park genutzt, auf dem sich – zumindest am Rand – Zehntausende Wohnungen bauen ließen. Doch das löst bei vielen Berlinerinnen und Berlinern Empörung aus – weil sie keine Veränderung wollen, weil sie ihren Besitzstand, in diesem Fall den Park, wahren wollen. Gleichzeitig ist die Empörung über steigende Mieten und zu knappen Wohnraum groß. Wir finden in vielen Bereichen diesen grundlegenden Widerspruch: Wir wollen und müssen etwas verändern, sind jedoch nicht bereit, auf unseren Besitzstand zu verzichten.
Ähnliches lässt sich beim Ausbau der Windkraft beobachten.
Genau. Da sind auch alle dafür. Aber wenn es darum geht, eine Anlage in direkter Nähe zum eigenen Wohnort zu errichten, dann sind die Leute nicht begeistert. Dann werden Prozesse gestartet, die alles in die Länge ziehen. Die Bürokratie verschärft das Problem. Wir haben eigentlich gute staatliche Institutionen, aber sie werden von einzelnen Interessen gekapert.
Ist Deutschland gar nicht bereit für einen echten Wandel?
Wir waren in den letzten zehn Jahren wirtschaftlich sehr erfolgreich. Erfolg macht faul und träge. Nach so einem erfolgreichen Jahrzehnt ist es schwer zu sagen, jetzt muss alles anders werden. Aber wir müssen den Menschen sagen: Wir können nicht mehr ins Jahr 2019 zurück. Wir können nicht mehr so weiterleben wie vor der Corona-Krise – das betrifft Klima und Umwelt genauso wie die digitale Transformation.
Wie gelingt es, die Gesellschaft mitzunehmen, damit die Veränderung gelingt?
Wir müssen die Chancen aufzeigen, die die Veränderung bietet und das Warum erklären. Statt mit Angst und Verboten zu argumentieren.
Wie würden Sie das denn machen?
Ich würde sagen: Durch den Umbau unseres Landes sichern wir nicht nur die Zukunft unseres Planeten, sondern es entstehen auch neue, gut bezahlte, zukunftsfähige Arbeitsplätze. Und ich würde sagen: Es geht um Generationengerechtigkeit. Wir verändern unser Land jetzt, damit unsere Enkel noch etwas davon haben – genau wie es unsere Großeltern vor 80 Jahren gemacht haben. Unsere Aufgabe heute ist genauso groß wie die der Nachkriegsgeneration.
Im Wahlkampf sind solche Sätze kaum zu vernehmen. Rechnen Sie damit, dass die Politiker nach der Wahl am Sonntag den Bürgern sofort sagen, welche großen Veränderungen auf sie zukommen?
Ich hoffe und ich erwarte, dass zumindest das Thema Klimaschutz ganz oben auf der Agenda stehen wird.
Was muss die nächste Regierung konkret tun, damit Deutschland die Klimaziele aus dem Pariser Abkommen einhält?
Sie muss vor allem für klare, verbindliche und verlässliche Regeln sorgen. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa der EU-Plan, ab 2035 keine Verbrennungsmotoren mehr zuzulassen. Die Hersteller haben mit einer solchen Vorgabe maximale Klarheit, sie können sich darauf einstellen und entsprechend reagieren, etwa indem sie Elektroautos noch schneller weiterentwickeln.
Besonders verlässlich wäre es auch, die EU würde jährlich eine bestimmte Menge CO2 festlegen, die sämtliche Unternehmen ausstoßen dürfen. Wer mehr emittiert, müsste dafür dann CO2-Zertifikate kaufen. Der Klimaschutz käme über den CO2-Preis. Wäre das nicht noch besser?
Der Zertifikatehandel ist gut, doch der CO2-Preis wird nicht alles regeln. Er wird zum Beispiel nicht dafür sorgen, dass gegen alle Widerstände Starkstromleitungen entstehen, die die Windenergie aus dem stürmischen Norden in den Süden des Landes bringen. Und er wird auch nicht die Widersprüche auf der europäischen Ebene auflösen. Die Franzosen etwa wollen ihre CO2-Emissionen senken, indem sie mehr auf Atomkraft setzen – während wir in Deutschland aus der Kernenergie aussteigen.
Wie schlau ist das eigentlich – gehen Kohle- und Atomausstieg wirklich parallel?
Alle Studien zeigen, dass wir die Atomkraft bei der Energiewende nicht brauchen, auch weil sie extrem teuer ist. Es ist möglich, dass wir das Ausbautempo bei den erneuerbaren Energien erhöhen, dann haben wir künftig genug Strom aus Wind- und Sonnenergie. Knackpunkte werden aber auch die Stromtrassen sein. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob es der künftigen Regierung gelingt, die angesprochene Besitzstandsproblematik aufzubrechen.
Wem trauen Sie das am ehesten zu, Olaf Scholz, Armin Laschet oder Annalena Baerbock?
Notwendig wäre aus meiner Sicht eine Koalition, die versucht, den gefühlten Widerspruch zwischen Staat oder Markt aufzulösen. Um mal ein anderes Beispiel zu bringen als die Investitionen für den Klimaschutz: Die FDP könnte etwa auf weniger Regeln beim Baurecht dringen, während sich die SPD für ein durchlässigeres Bildungssystem einsetzt. Ich wünsche mir eine Bundesregierung, die sich in den Koalitionsverhandlungen nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, sondern sich die Aufgaben aufteilt und dadurch endlich mehr Mut zur Veränderung aufbringt.
Viele Vorhaben der neuen Regierung werden Milliarden Euro kosten. Wo soll dieses Geld herkommen?
Von Ihnen, von mir, von uns allen. Das ist das Geld, das wir Bürgerinnen und Bürger dem Staat für lau leihen, indem wir für unsere Sparguthaben keine Zinsen mehr bekommen. Das ist genau der Grund dafür, weshalb ich sage: Neue Schulden sind für den Staat kein Problem. Es ist heute nicht relevant, wie viele Schulden Deutschland hat. Wichtig ist vor allem, dass wir keine Zinsen zahlen, dass uns diese Kredite nichts kosten.
Sie wetten also auf die Zukunft. Darauf, dass die Zinsen noch lange niedrig bleiben. Was macht Sie so sicher, dass sie nicht steigen?
Nichts. Natürlich kann auch ich das nicht mit Gewissheit sagen. Doch darum geht es mir gar nicht.
Sondern?
Der Fehler ist, dass Sie, wenn Sie so argumentieren, immer nur auf die Schulden schauen. Die Frage ist doch, was macht der Staat mit dem Geld. Was kriegen die Menschen dafür? Wenn wir es beispielsweise in bessere Bildung investieren, können mehr Kinder ihre Talente entwickeln und Chancen nutzen, neue Dinge erfinden, Firmen gründen, die vielleicht Weltmarktführer werden – und dann wieder viele Steuern an den Fiskus abführen. Technisch ausgedrückt: Langfristig sind Renditen guter Investitionen größer als der Zins, den wir für den Kredit bezahlen müssen.
Das gilt aber nicht, wenn das Geld stattdessen in den Taschen einzelner Wählergruppen landet.
Exakt. Schulden, die Geschenke beispielsweise für Hochvermögende finanzieren, sind schädlich. Diesen Fehler darf die nächste Regierung nicht machen. Denn eine Strategie des "Trickle Down" hat noch nie funktioniert und wird auch in der Zukunft nichts bringen, außer höhere Schulden und weniger Wohlstand.
Herr Fratzscher, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Marcel Fratzscher