Historisches Zinstief Verbraucherschützer und Politiker kritisieren Zinssenkung
Mit ihrer historischen Leitzins-Senkung haben Europas Währungshüter die Märkte weltweit überrascht. Die Europäische Zentralbank (EZB) drückte den Zins am Donnerstag von 0,5 Prozent auf das neue Allzeittief von 0,25 Prozent. Die Experten wollen mit niedrigen Zinsen der kriselnden Wirtschaft in der Eurozone neuen Schub geben. Ob das nochmals verbilligte Geld das zu niedrige Preisniveau nun anheben und die Konjunktur zusätzlich anschieben kann, ist unter Experten jedoch umstritten. Es hagelt Kritik.
Auch wenn Notenbankpräsident Mario Draghi eine "längere Phase niedriger Inflationsraten" in der Eurozone erwartet, sehen manche Beobachter die Fortsetzung der extrem lockeren Geldpolitik mit gemischten Gefühlen. Kritik kommt vor allem aus Deutschland - denn für die größte Volkswirtschaft Europas mit ihrer relativ robusten Konjunktur galt schon das bisherige Zinsniveau als zu niedrig.
BdB befürchtet dauerhafte Verluste für Sparer
Der Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes BdB, Michael Kemmer, warnte vor den möglichen Auswirkungen einer anhaltenden Geldschwemme. Mittel- bis längerfristig nähmen "die Risiken der Niedrigzinspolitik weiter zu", sagte er. Sparkassen-Präsident Georg Fahrenschon sprach von Nachteilen für die ohnehin gebeutelten Sparer: "Niedrigzinsen führen zu dauerhaften Verlusten der Sparer, die quasi einer Enteignung gleichkommen, weil sie bei ihren Anlagen negative Realzinsen hinnehmen müssen."
Der Chefökonom der VP Bank in Liechtenstein, Thomas Gitzel, wies auf mögliche Ähnlichkeiten zur Lage in Japan hin, das über Jahre mit einer Deflation zu kämpfen hatte: "Wenngleich Mario Draghi bei der Pressekonferenz keine Parallelen zur japanischen Entwicklung sieht, dürften in den Gängen des Euro-Towers deflationäre Sorgen hinter vorgehaltener Hand die Runde machen." Kritiker bemängeln auch, dass die Niedrigzinspolitik nicht für alle Euro-Länder gleichermaßen geeignet sei.
Sinkende Preise sind gefährlich für die Wirtschaft
Deflation bedeutet sinkende Preise und die sind für die Wirtschaft gefährlich, weil Unternehmen dann wichtige Investitionen aufschieben. Auch horten Konsumenten aus Angst vor dem Jobverlust Geld, zudem glauben sie in Erwartung fallender Preise, Produkte bald günstiger kaufen zu können. Dies alles würgt die Wirtschaft ab. Japan hat dieses Phänomen jahrelang gehemmt.
Altersvorsorge wird erschwert
Verbraucherschützer haben die Leitzinssenkung ebenfalls kritisiert. Damit sinke die "Hoffnung auf eine vernünftige Altersvorsorge", sagte der Vorstand des Bundes der Versicherten, Axel Kleinlein, dem Berliner "Tagesspiegel". Auf diese Weise würden diejenigen bestraft, die für das Alter etwas ansparen wollten.
Kleinlein befürchtet dem Bericht zufolge, dass mit der Leitzinssenkung weitere Lebensversicherer aus dem aktiven Geschäft aussteigen werden. Das Geschäftsmodell der Branche werde damit "final auf den Prüfstand gestellt".
Volksvertreter befürchten Spekulationsblasen
Politiker von Union und SPD warnten vor spekulativen Blasen in Folge der umstrittenen Geldpolitik. Die Zinsentscheidung sei zwar vor dem Hintergrund einer niedrigen Inflation zu sehen, sagte der für Finanzpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Meister, der "Berliner Zeitung". Allerdings sei schon jetzt zu viel Liquidität in den Kapitalmärkten. "Die Gefahr von Vermögenspreisblasen existiert und wird durch diese Entscheidung nicht geringer", erklärte der CDU-Politiker.
Der SPD-Haushaltspolitiker Carsten Schneider gab zu bedenken, dass die EZB für den Fall einer Verschlechterung der immer noch fragilen Lage nun kaum noch Spielraum habe. "In Deutschland steigt das Risiko von kreditgetriebenen Vermögenspreisblasen bei Immobilien oder Aktien weiter", warnte Schneider zudem.
DAX markierte neues Rekordhoch
Am deutschen Aktienmarkt sorgte die EZB-Entscheidung dennoch für ein Kursfeuerwerk. Der DAX schoss auf zwischenzeitlich 9193 Punkte in die Höhe. Im späten Handel büßte er dann im Zuge fallender Kurse an der Wall Street den Großteil seiner Gewinne wieder ein. Am Freitag notierte der Leitindex gut 160 Punkte unter seinem Allzeithoch.
Langfristig kommen Sparer und Geldanleger kaum an Unternehmensbeteiligungen vorbei. Mehrere Experten äußerten sich positiv über den Aktienmarkt. Eine Blase an der Börse sei noch nicht zu erkennen, qualitativ hochwertige Blue Chips mit hoher Dividendenrendite seien trotz der hohen Kurse chancenreich.
Lob von Helmut Schmidt
Unterdessen hob der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt die Bedeutung Draghis im Kampf gegen die Schuldenkrise hervor. "Man kann sich auf Mario Draghi verlassen", sagte Schmidt am Donnerstagabend in Hamburg. Draghi sei Kopf der einzigen Institution, die momentan etwas tue. Die Effizienz anderer europäischer Institutionen wie EU-Kommission und Parlament kritisierte Schmidt hingegen. "Viel Reden, wenig Handeln", sagte er in einem Podiumsgespräch mit Draghi.