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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bares auf Bügeln So viel Geld haben Deutsche im Schrank
Hohe Preise und mehr Bewusstsein für Nachhaltigkeit: Immer mehr Deutsche kaufen und verkaufen gebraucht. Das Marktsegment wächst – und auch große Player wie H&M wollen mitmischen.
Den Schrank voller Kleidung, aber nichts zum Anziehen – das Gefühl kennen viele Menschen. Zugleich kosten neue Klamotten viel Geld, vor allem, seit die Preise im vergangenen Jahr in allen Lebensbereichen gestiegen sind. Einige innovative Unternehmer haben aus diesem Dilemma eine Geschäftsidee geschaffen: Onlineshops für Secondhand-Mode.
"Es lohnt sich für beide Seiten. Die einen kaufen günstiger, die anderen generieren ein zusätzliches Einkommen", sagt Anna Geyer, Deutschland-Chefin beim Onlineshop Sellpy, im Gespräch mit t-online. Denn in den Kleiderschränken hängt quasi bares Geld auf den Bügeln.
Wie eine repräsentative Umfrage von Sellpy zeigt, haben viele Deutsche gleich Dutzende ungenutzte Kleidungsstücke. Jeder Dritte gab an, mehr als zehn Teile zu haben, die er nicht mehr trägt. Bei 17 Prozent der Befragten sind allein diese ungetragenen Dinge über 500 Euro wert. In Zeiten von hohen Lebensmittel- und Mietpreisen und einer Inflationsrate von immer noch 7,2 Prozent wird das zu einer immer interessanteren Ressource.
Der Markt für Secondhand wächst, neben bereits bekannten Plattformen wie Ebay und Momox wollen auch große Modelabels daran teilhaben. Sellpy wurde 2014 in Schweden gegründet und gehört zum Moderiesen H&M. Wöchentlich stellt das Unternehmen 250.000 Kleidungsstücke auf seiner Website ein. Insgesamt wurden so schon 10 Millionen Artikel verkauft. Seit 2020 versucht sich das Unternehmen auch auf dem deutschen Markt zu etablieren. 2021 kam Österreich dazu.
Aufwand schreckt viele Menschen ab
"Die größte Hürde beim Verkauf von Secondhand ist der Aufwand. Die Menschen fragen sich: Habe ich Lust, Zeit und die Muße, eigenständig zu verkaufen? Oder lasse ich das jemand anderen für mich machen?", erläutert Geyer. Das Versprechen bei Sellpy lautet daher: Secondhand, aber einfach. Statt stundenlang auf dem Flohmarkt zu stehen oder bei Ebay ewig über den Preis zu verhandeln, schickt Sellpy den Verkäufern eine Tüte.
In die Tüte werden alle zu verkaufenden Kleidungsstücke gepackt und verschickt. In großen Lagern in Schweden und Polen wird die Kleidung sortiert, fotografiert und der Preis festgelegt. "Die Verkäuferinnen haben sofort ein Erfolgserlebnis, denn mit dem Verkauf haben sie direkt mehr Platz im Kleiderschrank", sagt Geyer.
Dass Sellpy das Sortieren und Fotografieren übernimmt, führt dabei auch zu lustigen Situationen. "In den Taschen kommen auch mal kuriose Dinge bei uns an: Von Autoreifen bis zu Waschbecken haben es schon manche Überraschungen zu uns geschafft", berichtet Geyer. "Ein anderes Mal hat eine Mandelverkäuferin aus München aus Versehen eine Tasche mit 800 Euro eingeschickt. Es stellte sich später heraus, dass es sich dabei um ihre Einnahmen handelte, und wir konnten ihr das Geld zukommen lassen."
Ist das bereits eine Trendwende?
Ob es sich nur um einen kurzlebigen Hype oder eine Trendwende handelt, wird sich zeigen. Experten sind skeptisch: So kam etwa die Changing Markets Foundation, eine Stiftung, die sich für mehr Nachhaltigkeit in der Wirtschaft einsetzt, in einem Report 2021 zu dem Ergebnis, dass ein Durchschnittsverbraucher 60 Prozent mehr Kleidung kauft als 15 Jahre zuvor und jedes Kleidungsstück nur halb so lange trägt. Und dieser Trend dürfte so weitergehen.
Die Prognose: Die weltweite Modeproduktion könnte von 62 Millionen Tonnen im Jahr 2015 auf 102 Millionen Tonnen im Jahr 2030 steigen. Es bleibt also abzuwarten, ob der Boom von Secondhand-Onlineshops an dieser Einschätzung etwas ändert.
Kein neues Konzept, aber neues Interesse
Das Konzept, Gebrauchtes weiterzuverkaufen, ist dabei nicht neu. Flohmärkte und Secondhand-Läden gibt es schon lange. Doch galt es in den vergangenen Jahren nicht unbedingt als "cool", dort einzukaufen – daran hatte auch sogenannte "Fast Fashion" einen Anteil. So werden seit den 1990er-Jahren verschiedene Aspekte der beschleunigten Modeindustrie bezeichnet: Etwa die immer schnellere Abfolge neuer Kollektionen, die kürzere Nutzungsdauer einzelner Kleidungsstücke, oft gepaart damit, dass die einzelnen Teile sehr günstig und schlecht verarbeitet sind.
Daher spielt bei der Neuentdeckung von Secondhand das Thema Nachhaltigkeit eine große Rolle: Während die Bekleidungsindustrie weiter wächst, gibt es auch immer mehr Menschen, die etwas dagegensetzen wollen. Denn allein in Europa fallen jährlich 7,5 Millionen Tonnen Altkleider an.
Eine Studie von McKinsey von 2022 zeigt, dass 65 Prozent davon direkt auf Müllhalden oder in der Müllverbrennung landen. Nicht einmal ein Prozent der weggeworfenen Kleidung wird recycelt, auch wenn gerade große Modeketten gerne damit werben. Die restlichen Kleider werden zunächst gesammelt und entweder als Secondhand-Ware weiterverkauft oder etwa als Lappen verwendet.
Für Anbieter wie Sellpy steckt in diesen Zahlen großes Potenzial. "Bestehendes soll in den Kreislauf zurückgebracht werden. Es ist 21-mal besser für die Umwelt, einen Artikel Secondhand zu kaufen, als ihn neu zu kaufen", sagt Geyer. Wird ein Kleidungsstück weiterverwendet, anstatt ein neues herzustellen, spart das nicht nur Ressourcen wie Wasser, Strom und Material in der Fertigung.
Es landen auch weniger Stücke auf den Müllhalden weltweit. Und viele dieser Stücke enthalten Plastik. Der Anteil von Textilien aus Kunststoffen hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Die Changing Markets Foundation rechnet damit, dass bis 2030 fast drei Viertel aller weltweit verarbeiteten Fasern synthetisch sein werden, 85 Prozent davon als Polyester. Landen diese im Müll, rotten sie Jahrzehnte vor sich hin.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Anna Geyer (Sellpy)
- Website von sellpy.com
- Umfrage "Behind Closet Doors"
- Umfrage "Spotlight: Ein Blick in den Kleiderschrank"
- spiegel: "Zwei Drittel der Altkleider landen direkt auf dem Müll"
- sueddeutsche.de: "Künstliche Fäden, echtes Problem"