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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Umstrittene Arbeitsniederlegung Die Wirtschaft lässt der Großstreik kalt
Die Aufregung um den geplanten Großstreik auf Schiene, Straße und in der Luft ist enorm. Was für Reisende nervig ist, lässt führende Ökonomen aber eher kalt.
Der Countdown läuft, bis am Montag das ganze Land stillsteht. Die Republik wappnet sich für den Großstreik, den die Dienstleister-Gewerkschaft Verdi gemeinsam mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ausgerufen hat. Knapp eine Viertelmillion Menschen im Verkehrssektor sind aufgerufen, die Arbeit niederzulegen. Sie fordern Lohnerhöhungen von 10,5 bis 12 Prozent, die Tarifstreits spitzen sich seit Monaten zu. Während viele Reisende entnervt auf das bevorstehende Verkehrschaos reagieren, bewahren führende Wirtschaftsexperten die Ruhe.
Der "maßlose Montag", wie ihn einige Arbeitgebervertreter bereits charakterisieren, dürfte wohl keine merklichen Spuren in der deutschen Konjunktur hinterlassen. "Natürlich kostet auch der kurze Streik viel, aber das wird sich kaum in den Statistiken ablesen lassen", sagt Ökonom Thomas Puls vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) t-online.
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Bei einer so begrenzten Streikdauer komme es vor allem zu Zeitverlusten im Personenverkehr und Umplanungskosten für Reisende und Unternehmen, die sich jedoch nicht messen ließen. Im weitesten Sinne könne man zwar von Wohlstandsverlusten sprechen, aber greifbar seien diese nicht. Anders wäre es, wenn Produktionsabläufe angepasst werden müssten, was ab circa fünf Streiktagen nötig werde.
Größere Probleme ab Tag fünf
"Die Dauer des Streiks beeinflusst die Reaktionsmöglichkeiten der Unternehmen", erklärt Puls. Bei nur einem Tag könnten Lagerhaltung und kurzfristige Planänderungen die meisten Streikeffekte abfedern. Erst bei längeren Streiks komme die Produktion zunehmend ins Stocken – durch die Unterbrechung der Lieferketten fehlt dann der Nachschub an nötigen Gütern.
Außerdem seien in diesen Fällen Rückstaus an den Schnittstellen zu anderen Ländern zu befürchten, die über längere Zeit abgebaut werden müssten. Puls erinnert an die pandemiebedingten Staus in den Häfen 2020 und 2021. Der Streik am kommenden Montag sei aber weit davon entfernt, solche Effekte auszulösen.
Ähnlich wird das vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bewertet. "Die Effekte auf die Wirtschaftsleistung schätze ich als nicht besonders groß ein", sagt DIW-Arbeitsmarktexperte Karl Brenke t-online. "Zumal nicht wenige Arbeitgeber und Arbeitnehmer wegen Corona schon darin geübt sind, dass auch einmal zu Hause gearbeitet wird."
Zwölf Tage Streik, kaum Konjunktureffekte
Den stärksten streikbedingten Arbeitsausfall in der wiedervereinigten Bundesrepublik gab es laut Brenke 1992. Damals kam es im gesamten öffentlichen Dienst in den alten Bundesländern, für die zu der Zeit noch getrennt verhandelt wurde, zu unbefristeten Streiks:
Im April und Mai 1992 wurde volle zwölf Tage lang im Nahverkehr, bei der Post, bei Müllentsorgern, an Flughäfen und in den Autobahnmeistereien im Westen gestreikt. Insgesamt 1,5 Millionen Arbeitstage seien damals verloren gegangen, sagt Brenke, "bezogen auf das gesamte Arbeitsvolumen ist das nicht gerade viel."
Doch selbst da hätten sich keine nennenswerten Wohlstandseinbußen für die Bevölkerung eingestellt. Mit Blick auf Montag rät Brenke zu Nachsicht mit den Streikenden: "Wenn man als Kunde etwa der Bahn von einem Streik getroffen wird, ärgert man sich natürlich. Aber andererseits: Wenn niemand einen Streik bemerken würde, hätten die Arbeitnehmer auch keine Verhandlungsmacht".
- Anfrage beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln am 24.03.2023
- Anfrage beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung am 24.03.2023
- Handelsblatt (08.01.2003): "Hintergrund: Erst zwei unbefristete Flächen-Streiks im öffentlichen Dienst"