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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Risiko-Report Die große Angst der Deutschen
Pandemie, Krieg, Inflation: Die vergangenen Jahre haben viele Gewissheiten erschüttert. Das wirkt sich deutlich auf die Zukunftsängste der Deutschen aus.
Die "German Angst" ist oft nur ein geflügeltes Wort, doch eine neue Studie zeigt nun: Die Ängste der Deutschen unterscheiden sich spürbar von denen anderer Nationalitäten. In ihrem jährlich erscheinenden "Future Risks Report" fragt die Versicherung Axa bestehende Sorgen vor der Zukunft ab – die aktuelle Auswertung der deutschen Werte liegt t-online vorab vor. Demnach treibt besonders ein Thema die Deutschen um.
"In den letzten Monaten gab es starke Veränderungen – die Entwicklung der Strom- und Gaspreise, Warnungen vor einer Mangellage im Bereich Energie mit kurzzeitigen Stromausfällen im Winter, Versorgungsengpässen bei Rohstoffen. Das belastet viele Menschen stark – finanziell und auch psychisch", so Axa-Deutschland-Chef Thilo Schumacher zu t-online.
In Zahlen heißt das: Während weltweit ein Drittel der Befragten angab, der zukünftigen Energieversorgung wegen beunruhigt zu sein, fürchten in Deutschland 41 Prozent der Befragten, dass es dabei Probleme geben könnte. Damit landet die Sorge um die Energieversorgung auf dem zweiten Platz der Ängste in Deutschland.
Deutsche fürchten Blackouts
Kein Wunder, denn Deutschland war bis vor wenigen Monaten stark von russischen Energieträgern abhängig. Seit dem Einmarsch in die Ukraine versucht die Bundesregierung, diese Abhängigkeiten zu lösen, doch trotz mittlerweile voller Gasspeicher und guter Fortschritte beim Ausbau der Flüssiggas-Infrastruktur ist die Gasversorgung für den Winter nicht gänzlich gesichert.
Da Gas auch eine wichtige Komponente in der Stromproduktion ist, wurden in den vergangenen Monaten auch Stimmen laut, die im Fall einer Gasmangellage Gefahren für das Stromnetz sehen. Die Angst vor einem Blackout, also dem Versagen des europäischen Stromnetzes, geht um.
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Gerade beim Thema Energieversorgung haben die Deutschen wenig Vertrauen in öffentliche Behörden. 74 Prozent der Deutschen glauben nicht, dass diese gut auf eine Energiekrise vorbereitet sind. Nur in Japan lag dieser Wert global betrachtet höher (77 Prozent).
Deutsche Ängste sind widersprüchlich
Insgesamt haben die Deutschen wenig Vertrauen, ob in öffentliche Institutionen, Wissenschaft oder ihre Mitmenschen. Gerade Letztere schneiden unter den deutschen Befragten besonders schlecht ab. Nur 36 Prozent glauben, dass ihre Mitmenschen auf bevorstehende Krisen gut vorbereitet sind. Damit bildet Deutschland das europäische Schlusslicht.
Im Schnitt schreiben 45 Prozent der Europäer ihren Mitmenschen die Kompetenz zu, Krisen gut bewältigen zu können. Noch höher liegen die Werte in den USA (54 Prozent), Marokko (63 Prozent), Nigeria (66 Prozent).
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Öffentlichen Institutionen wie Polizei und Bundeswehr bringen die Deutschen mehr Vertrauen entgegen (55 Prozent). Dennoch liegt die Bundesrepublik auch damit deutlich unter dem weltweiten Schnitt von 64 Prozent.
Ein scheinbarer Widerspruch: Die Deutschen fühlen sich trotz ihrer Skepsis gegenüber Mitmenschen und Institutionen in ihrem Alltag deutlich sicherer als der Rest der Welt. 24 Prozent der Deutschen gaben an, sich in ihrem täglichen Leben verwundbar zu fühlen. Der globale Durchschnitt hingegen liegt bei 47 Prozent.
Doch dieser Widerspruch kann auch ein Teil der Erklärung für Platz drei der Zukunftsängste der Deutschen sein. Denn ein Misstrauen gegenüber den Mitmenschen – gerade in einer Krisensituation – passt zu der Sorge vor gesellschaftlichen Spannungen. Die aktuell stark steigenden Preise etwa verstärken die bestehenden Unterschiede zwischen Menschen mit hohen und niedrigen Einkommen und werden so zur gesellschaftlichen Belastung.
"Die hohe Inflation hat konkrete und unmittelbare Auswirkungen für Menschen und Unternehmen. Sorgen um Zahlungsschwierigkeiten und Arbeitsplatzsicherheit sind belastend, zudem könnte sich die soziale Ungleichheit verschärfen", sagt Schumacher.
Pandemiegefahr wird unterschiedlich eingestuft
Für den jährlichen Future Risk Report der Axa wurden im Juni 2022 rund 4.500 Risikoexperten aus 58 Ländern online interviewt. Zudem wurden repräsentativ 20.000 Menschen in 15 Ländern zu ihrer Wahrnehmung künftiger Risiken befragt.
Dadurch macht die Studie auch klar: Die Bevölkerung schätzt Risiken anders ein als Experten. Während die Ängste der Bevölkerung stark von (gerade) erlebten Problemen und Risiken wie etwa der Corona-Pandemie geprägt ist, spielt das für die Aussagen der Experten nur eine kleine Rolle. So landen Pandemien bei den globalen Sorgen auf dem zweiten Platz, die Experten stufen das hingegen erst auf dem fünften Platz ein.
Thilo Schumacher, Jahrgang 1975, ist seit Dezember 2021 Deutschland-Chef der Axa. Der promovierte Betriebswirt arbeitet bereits seit 2008 in verschiedenen Funktionen für den Versicherungskonzern. Zuvor war er für die DBV-Winterthur und die Beratungsfirma McKinsey & Company tätig.
Doch das Nebeneinander der Experten- und Laienmeinungen kann auch ein Vorteil sein. Aus den unterschiedlichen Einschätzungen ergebe sich ein wichtiges Gesamtbild, so Schumacher. "Wir stehen vor konkreten und drängenden Problemen wie der Energiekrise, dürfen aber auch die langfristigen Risiken nicht aus den Augen verlieren."
Klimawandel bereitet den Menschen weltweit Sorge
Umso interessanter also: Bei dem wichtigsten Zukunftsproblem sind sich Experten und Bürger einig – nicht nur in Deutschland. "Der Klimawandel wird weltweit von allen an erster Stelle genannt", so Schumacher.
Nur wenige Tage vor dem Weltklimagipfel in Ägypten ein ungewohnt einiges Bild. Wie aktuelle Studien die bisherigen Bemühungen in der Klimakrise bewerten, lesen Sie hier.
Eine Schlussfolgerung, die für Axa nachvollziehbar ist – auch wirtschaftlich. "Denn eine drei Grad wärmere Welt ist nicht versicherbar, weil die Anzahl der Extremereignisse exponentiell zunehmen werden", so Schumacher. "Schon heute sehen wir mehr Folgen und Schäden durch Extremwetter, Ernteausfälle oder auch gesundheitliche Folgen des Klimawandels." Die Bilder von der Flut im Ahrtal, von Waldbränden in Brandenburg und niedrigen Flussständen haben das abstrakte Phänomen der Klimakrise auf drastische Weise vor der eigenen Haustür sichtbar gemacht.
Bei den persönlichen Versicherungsentscheidungen hingegen blieben "viele klassische Risiken relevant". "Die Krankenversicherung, die Berufsunfähigkeitsversicherung oder Produkte der Altersvorsorge sind große Themen", so Schumacher. Doch auch hier spiele Nachhaltigkeit eine wichtigere Rolle. Mehr Versicherte würden etwa darauf achten, dass das Geld unter ökologischen Aspekten angelegt werde.
- Future Risk Report 2022
- Statement von Thilo Schumacher (Axa)
- Pressemitteilung Axa