Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Antisemitismus in Deutschland "Die AfD hat Unsagbares sagbar gemacht"
"Man hat uns nicht ernst genommen": Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde Berlin über die Enttäuschung, die viele Juden in Deutschland empfinden. Für ihn sind die Gründe klar.
Vor der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte sind Stahlpoller in den Gehweg gerammt. Polizisten patrouillieren vor dem bunten Backsteinbau, Passanten eilen vorüber. Manche werfen dem Gebäude einen Blick zu, es ist ein imposantes, altes Haus. Dass es von bewaffneten Polizeibeamten geschützt wird und überall rot-weiß gestreifte Straßensperren bereitstehen, dürfte manchen Fußgänger verunsichern. Eine Synagoge, das ist im Jahr 2020 so klar wie selten zuvor nach dem Holocaust, ist kein Gotteshaus wie jedes andere. Ohne Polizeiaufgebot geht es nicht. Der Anschlag auf die Hallenser Synagoge am Jom-Kippur-Feiertag 2019 hat das auf schmerzliche Weise verdeutlicht.
Der Antisemitismus-Beauftragte der Berliner Gemeinde, Sigmount Königsberg, sitzt für das t-online.de-Interview in einem Café, nicht weit von der Synagoge entfernt. Er wägt seine Worte sorgfältig, wenn er nach Halle gefragt wird und dem Gefühl, das für die jüdische Gemeinschaft nach dem Anschlag entstanden ist. Er sagt: "Nach 1945 saßen die Juden auf gepackten Koffern." Das sei in den Jahrzehnten danach besser geworden, man habe sich sicher gefühlt.
Das ist jetzt vorbei. Und das, sagt Königsberg, liegt längst nicht nur am Rechtsextremismus. Der moderne Antisemitismus ist gefährlich, er steckt jahrhundertealte Ressentiments in immer neue Verpackungen. Auf diese Weise findet er neue Anhänger. Sigmount Königsberg will, dass Lehrer an Grund- und weiterführenden Schulen Judenfeindlichkeit als solche erkennen. "Bildung", sagt er, " ist der Schlüssel."
t-online.de: Herr Königsberg, bitte erinnern Sie sich an den Jom-Kippur-Tag im vergangenen Jahr. Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von dem Anschlag auf die Synagoge in Halle gehört haben?
Sigmount Königsberg: Der Anschlag selbst hat mich nicht überrascht, dies war nur eine Frage der Zeit. Erschrocken war ich über die Reaktionen mancher Politiker. Bundespräsident Steinmeier hat gesagt, es sei für ihn unvorstellbar, dass in Deutschland ein Anschlag auf ein jüdisches Gotteshaus passieren könnte. Dabei werden jüdische Einrichtungen in Deutschland seit 50 Jahren geschützt! Das ist nichts Neues. Wäre ein Anschlag unvorstellbar, bräuchten wir diese Sicherheitsmaßnahmen nicht. Dann Frau Kramp-Karrenbauer, die sagte, der Anschlag sei ein Alarmsignal. Alarmsignale hat es aus der jüdischen Community reichlich gegeben: Der Zentralratsvorsitzende Josef Schuster und seine Vorgänger Paul Spiegel, Ignatz Bubis und Charlotte Knobloch haben regelmäßig gewarnt. Die Reaktionen zeigen: Alle Beobachtungen, die wir auch mitgeteilt haben, wurden nicht ernst genommen. Das gilt sowohl für Bedrohungen vom rechten Rand als auch für den islamistischen und die linksextreme Szene.
Sind Juden in Deutschland noch sicher?
Hätte man mich vor zehn Jahren gefragt: Gibt es eine Zukunft für Juden in Deutschland? Dann hätte ich gesagt, ja, auf jeden Fall. Nach 1945 saßen die Juden in Deutschland auf gepackten Koffern. In den 80er, 90er Jahren haben sie die langsam ausgepackt und auf dem Dachboden verstaut. Man fühlte sich sicher. Schon vor Halle hat sich aber immer mehr die Frage gestellt, wo die Koffer stehen. 2012 gab es die Debatte um die Beschneidung, die viele jüdische Menschen, aber auch muslimische Menschen, sehr verunsichert hat. Gerade aus dem liberalen Milieu kamen die schärfsten Angriffe. 2014 wurde im Zuge des Gaza-Konfliktes auf den deutschen Straßen gerufen "Hamas, Hamas, Juden ins Gas". Die Zivilgesellschaft hat nicht reagiert. Da fühlt man sich ernüchtert und im Stich gelassen.
coremedia:///cap/blob/content/87208952#dataSigmount Königsberg, Jahrgang 1960, stammt aus Saarbrücken. Er hat an der Freien Universität Berlin Publizistik, Politologie und Neuere Geschichte studiert. Seit 1994 arbeitet er für die Jüdische Gemeinde, seit 2017 als Antisemitismus-Beauftragter.
Was wäre gewesen, wenn der Attentäter von Halle die Tür der Synagoge aufgekriegt hätte? Welche Konsequenzen für das Leben hier hätte das gehabt?
Das wollen wir uns lieber nicht ausmalen. "Katastrophe" wäre noch untertrieben. Ich weiß nicht, ob ich dann noch hier säße. Ich weiß es nicht. Ich hoffe, ich werde niemals darüber nachdenken müssen. Da läuft es mir kalt den Rücken runter.
- Kommentar: Diese Menschen haben uns etwas zu sagen
Stephan B. war ein Einzeltäter. Wie soll man solche Menschen stoppen?
Der Begriff Einzeltäter ist mir zuwider. Dieser Mann handelte vordergründig alleine. Aber er war nicht alleine. Seine Mutter wurde zitiert mit den Worten: "Er (ihr Sohn Stephan, Anm. d. R.) hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?". Das zeigt: Das antisemitische Gedankengut war schon da, der Nährboden war gelegt, bei seiner Mutter, vielleicht auch bei seinen Freunden.
Wie kommt man dem antisemitischen Weltbild solcher Menschen bei?
Sobald die Menschen erwachsen sind, ist es eigentlich sehr schwer, fast zu spät. Aber: Keiner wird als Frauenhasser, als Homophober oder als Antisemit geboren – man entwickelt sich dahin. Lehrer müssen erkennen, wann sich jemand radikalisiert. Die Ausbildung der Lehrer muss den Schwerpunkt auf Pädagogik setzen – vom ersten Semester an müssten 80 Prozent des Studiums Pädagogik sein. Wir brauchen keine Physiker, die auch unterrichten können, sondern Lehrer, die auch Physik können. Lehrer sollten lernen, ihre eigenen Vorurteile selbstkritisch reflektieren. Nur so können sie sensibel reagieren, wenn Schüler diskriminiert werden. So lernen sie auch, Antisemitismus zu erkennen und wie man präventiv dagegen arbeitet – und dass das nicht als Konflikt bagatellisiert wird. Präventionsprogramme wie "Demokratie leben!" des Bundesjugendministeriums müssten mindestens verdoppelt werden und nicht wie bisher auf gleichem Niveau verharren.
Welchen Ressentiments begegnen Sie immer wieder?
Das sind alles Bilder, die 700, 800 Jahre alt sind, doch der Kern, der Judenhass, ist derselbe. Es kommen immer neue Verpackungen dazu, neue Framings, Antisemitismus ist wie ein Chamäleon und passt seine Erscheinung den Erfordernissen an. Teile der Kapitalismuskritik der Linken sind antisemitisch konnotiert, wenn beispielsweise das Bild der "Krake" verwendet wird. Wenn heute über Israel als "Kindermörder" gesprochen wird, dann rekurriert das auf das Bild von Juden im Mittelalter, die angeblich christliche Kinder ermordet haben. Der moderne Antisemit sagt nicht: Ich hasse Juden, sondern: Ich hasse Israel. Er verpackt den Antisemitismus als Antizionismus. Und das wiederum ist sozial sehr akzeptiert. Bei israelbezogenem Antisemitismus haben wir bis zu 40 Prozent Zustimmungswerte.
Wie kann man die jüdischen Gemeinden aus Ihrer Sicht besser schützen?
Dass jüdische Gemeinden von der Polizei geschützt werden, kenne ich meiner Erinnerung nach seit 1972 – seit dem Anschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft in München. Damals wurden in meinem Heimatort Saarbrücken einfache Türen durch Sicherheitsschleusen ausgetauscht. Dass die Synagoge in Halle nicht geschützt wurde, verstehe ich nicht, auch dass es keine Hotline zwischen dem Gemeindevorsitzenden und der Polizei gab. Der Mann hat den normalen Notruf gewählt und die Beamten brauchten eine Viertelstunde, ehe sie da waren. Traurig ist: Man nimmt das Jüdische noch stärker als "das andere" wahr, wenn vor den Gotteshäusern, Kindergärten und Kultureinrichtungen Polizisten patrouillieren. Aber dieser Schutz ist notwendig.
Haben Sie Angst vor der AfD?
Der Begriff Angst gefällt mir nicht. Ich sehe die AfD klar und deutlich als antisemitische Partei. In AfD-Wahlprogrammen, etwa zur Bundestagswahl 2017 oder zur bayerischen Landtagswahl 2018, steht, dass sie Teile der jüdischen Religionsausübung verbieten will. Vor allem aber hat diese Partei Unsagbares sagbar gemacht und zu einer Verrohung der Debattenkultur beigetragen.
Haben Sie den Eindruck, dass der antisemitische Anstrich der AfD von der Bevölkerung wahrgenommen wird?
Ich glaube, dass die AfD heute nicht trotz, sondern wegen ihrer Positionen gewählt wird. Die meisten von ihnen dürften auch die antisemitischen und rassistischen Haltungen mittragen. Spätestens seit den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen weiß jeder, der AfD wählt, was er tut und wen er da wählt. Da werden Leute gewählt, die nicht einmal eine "gemäßigte" AfD-Position vertreten, also Björn Höcke und Andreas Kalbitz. Alexander Gauland sieht Höcke in der "Mitte der Partei".
Das Parteiensystem fragmentiert sich weiter. Koalitionsbildung wird immer schwieriger. Da kommt die Sorge auf, dass die AfD doch irgendwann an einer Regierung beteiligt wird.
Ich hoffe nicht. Das hängt auch von den anderen Parteien ab. Dass die AfD ausgegrenzt wird, halte ich für richtig. Sie wurde demokratisch gewählt – das heißt aber noch lange nicht, dass sie auch eine demokratische Partei ist. Wenn sie versucht, mit Israel-betontem Auftreten zu punkten, ist das bloße Taktiererei. Die Vereinigung "Juden in der AfD" ist nur ein Feigenblatt, mit dem sie sich gerne schmücken.
Sie sind Antisemitismus-Beauftragter der Gemeinde. Was raten Sie Menschen, die angegriffen werden, weil sie Juden sind?
Obwohl ich mir wünschen würde, dass jeder ohne Gefahr sein Judentum offen zeigen kann, so empfehle ich doch, die Kippa unter einer Basecap und die Kette mit dem Davidstern unter dem T-Shirt zu tragen – weil es eben sehr oft passiert, dass Menschen antisemitisch angemacht oder gar angegriffen werden, wenn sie ihre jüdische Identität offen zeigen.
Wie sehen Sie die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen?
Es ist noch immer viel zu tun. Viele Tätergeschichten wurden nicht erzählt. Natürlich ist es schmerzhaft, in der eigenen Familie zu fragen: Was war damals? Menschen verschweigen gerne zum Beispiel, dass manche sich billig bedient haben am Eigentum der deportierten Juden, als es versteigert wurde. Es schmerzt, sich damit zu befassen. Die Schuldabwehr ist stark.
Ist das heute immer noch so?
Herr Höcke hat eine 180-Grad-Wende der Erinnerungskultur gefordert, der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Meier will ein Ende des "Schuldkultes". Der Begriff Schuld ist problematisch, weil es um Verantwortung geht. Wenn dann junge Männer auf Neonazi-Demos rufen: "Mein Opa war kein Verbrecher", dann drückt dies eine Verweigerungshaltung aus. Diese wird auch bestärkt durch Äußerungen, man sei stolz auf die Leistungen der Wehrmacht. Da merkt man: Das Thema ist noch lange nicht durch.
Herr Königsberg, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Interview am 13. Januar 2020 in Berlin.