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Ex-Minister Rudolf Scharping: "Das ist sträflich vernachlässigt worden"


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Ex-Verteidigungsminister Scharping
"Das ist sträflich vernachlässigt worden"

  • Kati Degenhardt
InterviewVon Kati Degenhardt

Aktualisiert am 19.01.2023Lesedauer: 6 Min.
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Rudolf Scharping: Der heute 75-Jährige war von 1998 bis zu seiner Entlassung 2002 Verteidigungsminister im Kabinett von Gerhard Schröder. (Quelle: Thomas Frey via www.imago-images.de)
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Der Chefsessel im Verteidigungsministerium gilt als Schleudersitz. Der frühere Minister Rudolf Scharping erklärt, worauf es für den Neuling Boris Pistorius jetzt ankommt.

Schonfrist? Fehlanzeige! Am Donnerstagmorgen wurde Boris Pistorius (SPD) als Verteidigungsminister vereidigt. Noch am Vormittag traf er seinen wichtigsten Kollegen Llyod Austin aus den USA. Und morgen muss er mit den westlichen Verbündeten in Ramstein über die weitere Unterstützung der Ukraine verhandeln: Liefert Deutschland Panzer oder nicht?

Dabei gilt der Job des Verteidigungsministers selbst in normaleren Zeiten schon als Schleudersitz. Irgendwo lauert bei der Bundeswehr immer ein Skandal, läuft etwas schief, wird irgendein Verantwortlicher für die Misere gesucht. Das weiß kaum jemand so gut wie Rudolf Scharping. Der SPD-Politiker war von 1998 bis 2002 im Amt. Mit t-online sprach der 75-Jährige über die menschlichen und inhaltlichen Herausforderungen des Amts.

Rudolf Scharping

Parteichef, Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, Verteidigungsminister: Seit Anfang der 90er-Jahre bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2005 übernahm Rudolf Scharping für die SPD herausragende Ämter. Nach seiner politischen Laufbahn war er für drei Jahre Professor für Internationale Politik in den USA. Heute ist der 75-Jährige als Berater tätig.

t-online: Herr Scharping, was macht das Amt des Bundesverteidigungsministers so herausfordernd?

Rudolf Scharping: Zu meiner Zeit war das eine sehr interessante Mischung aus Sicherheitspolitik und wirtschaftlichen Themen. Die Bundeswehr war verantwortlich für die äußere Sicherheit unseres Landes, manchmal auch für die Katastrophenhilfe in Deutschland. In der damaligen Zeit war die Bundeswehr, wirtschaftlich betrachtet, aber auch das größte Logistikunternehmen, der größte Arbeitgeber, das größte Immobilienunternehmen und vieles andere mehr. Wirtschaftliche Prozesse in der Bundeswehr waren also, jedenfalls zu meiner Zeit, ein wichtiger Schwerpunkt. Aber die Herausforderung heutzutage ist eine andere: Es herrscht Krieg in Europa, die Ausrüstung der Bundeswehr ist zum Teil extrem stark vernachlässigt worden. Kriegerische Auseinandersetzungen hatten wir auf dem Balkan, später in Afghanistan. Aber das kann man nicht vergleichen mit dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt.

Der neue Minister Pistorius steht vor der Mammutaufgabe, eine verwahrloste Bundeswehr möglichst schnell in einen Zustand zu bringen, in dem sie das Land effektiv verteidigen kann. Was muss er als Erstes angehen?

Ich werde Boris Pistorius keine öffentlichen Ratschläge geben. Er ist ein starker Politiker, mit einem großen Herzen für die Menschen, die er führt.

Dem Ministerium wird nachgesagt, es sei in Teilen unbeherrschbar. Haben Sie das auch so erlebt?

Nein.

Wollen Sie sagen, dass es keine Machtkämpfe unter Generälen der verschiedenen Kampfgattungen und keine mächtigen Beamten, die eigene Interessen verfolgen, gibt?

Nicht jede Meinungsverschiedenheit ist ein Machtkampf. Und verschiedene Meinungen helfen ja, ein gutes Ergebnis zu erreichen. Ist ein starker Entscheider an der Spitze, wie im Fall von Boris Pistorius, dann folgt die Truppe. In meiner Zeit war das auch so, als die Streitkräftebasis eingerichtet wurden, die gemeinsame Logistik für die Bundeswehr, das eigenständige Sanitätswesen, das Einsatzführungskommando und einiges mehr.

Also kein Kompetenzgerangel hinter den Kulissen?

Manchmal schon, aber ein klarer politischer Wille sammelt das alles ein. Und der ist vorhanden.

Pistorius muss jetzt schnell massiv aufrüsten: Die Industrie sagt, wenn Produktionskapazitäten aufgestockt werden sollen, muss es langfristige Bestellungen geben.

Sicherheitspolitik ist immer Vorsorge. Diese Vorsorge ist insbesondere in der Zeit seit dem sogenannten Aussetzen der Wehrpflicht sträflich vernachlässigt worden. Allein das gibt den Rahmen vor. Zum Teil jahrzehntelange schwere Versäumnisse aufzuholen macht man nicht innerhalb von ein oder zwei Jahren. Das ist eine langfristige Aufgabe. Dieses Aufholen ist ja mit einer Modernisierung und einem Ausrichten auf Fähigkeiten verbunden, die neu hinzukommen und besonders stark gebraucht werden: Digitalisierung, Cybersicherheit und vieles andere. Ja, Deutschland hat seine wehrtechnischen Fähigkeiten vernachlässigt. Auch da muss neu aufgebaut, wieder aufgeholt werden.

Also soll sich die Regierung auf diese Forderung einlassen und der Industrie langfristige Perspektiven bieten?

Die Fähigkeiten der Bundeswehr müssen langfristig, verlässlich und sehr konsequent aufgebaut werden. Dazu ist die Industrie unerlässlich.

Die Industrie wirft der Regierung auch vor, die Beschaffung sei bisher überkomplex gewesen und deshalb teuer und langsam. Warum hat die Bundeswehr so viele Sonderwünsche?

Das ist ja leider kein deutsches Phänomen, sondern eine europäische Krux und auch eine Herausforderung. Es gibt zu viele Wünsche, zu viele Spezifikationen und deswegen geben wir zu viel Geld für zu geringe Fähigkeiten aus, weil sie zersplittert und nicht vereinheitlicht sind für das, was Europa braucht für Prävention, für Krisenmanagement und für klassische Verteidigung des Territoriums. Aber das muss in Europa und gleichzeitig in Deutschland angepackt werden. Und ich bin davon überzeugt, dass diese Potenziale jetzt gehoben werden können.

Wie könnten Ministerium und Industrie näher zusammenkommen?

Es geht um eine klare Definition der militärischen Fähigkeiten, die gebraucht werden. Gefordert ist ein unbefangener Blick über alles, was an Angeboten zur Verfügung steht. Da muss einiges neu entwickelt werden. Und man kann auch manches einkaufen, was ja geschieht.

Sie sprechen über die Transporthubschrauber und Kampfjets, die aus den USA bestellt wurden?

Auch. Anderes wird in Israel eingekauft. Und Deutschland hat ja in der Vergangenheit auch vieles exportiert. Wir haben also uns und anderen etwas zu bieten für die gemeinsame Sicherheit.

Lobbyisten der Rüstungsindustrie gelten als gewiefte Vertreter ihrer Zunft. Wie vermeidet es der neue Minister, sich von ihnen beeinflussen zu lassen?

Er ist da unempfindlich gegen die vorgetäuschte Raffinesse, wie ich ihn kenne. Das ist also nicht das Problem.

Worin besteht es dann?

Gerade nach der Abschaffung der Wehrpflicht muss die Bundeswehr im Bereich Personal und Nachwuchsgewinnung noch wesentlich mehr tun: für die langfristige Bindung von qualifizierten Menschen. Das hat mit Laufbahnen, mit Bezahlung, mit Aufstiegschancen zu tun. Das hat mit der Flexibilität in Verwendungen zu tun und der Möglichkeit, Familie und Beruf besser zu verbinden. Alles Dinge, bei denen ich denke, dass moderne Streitkräfte auf der Basis von guter Fürsorge und Führung entwickelt werden können. Und da traue ich Pistorius sehr, sehr viel zu.

Die Rüstungsindustrie fordert, Rüstungsexporte nicht noch weiter einzuschränken. Was halten Sie davon?

Wir brauchen mehr Europa, auch in diesem Bereich.

Sollte sich der neue Verteidigungsminister dafür einsetzen, dass die Beschränkungen für Rüstungsexporte gelockert werden?

Jeder europäische Staat ist, für sich genommen, zu klein, um auf der Welt eine Rolle zu spielen oder seine Sicherheit alleine zu gewährleisten. Deswegen müssen wir das in Europa gemeinsam tun. Und das bedeutet, dass wir Fähigkeiten, Streitkräfte, Vorsorge, Prävention, Krisenmanagement, Verteidigungsfähigkeit, dass wir das alles europäisch betrachten müssen. Und nur da, wo es überhaupt nicht anders geht, wo es unausweichlich wird, kann man einzelne Vorhaben auch nationalstaatlich lösen. Aber Priorität hat Europa.

Also soll die Regierung die Richtlinien für Rüstungsexporte lockern oder nicht?

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Das ist nicht die Frage. Es muss vor allem eine europäische Lösung geben, ohne deutsche Sonderwege. Wenn ich mir alleine die europäischen Staaten angucke und die dringende Notwendigkeit, die Armeen zu modernisieren und Fähigkeiten wieder oder neu aufzubauen, da ist mehr zu tun, als die europäische Industrie aktuell leisten kann – zum Beispiel im Bereich Luftabwehr, im Bereich Flugabwehr der Landstreitkräfte, im Bereich Transportmittel, im Bereich der gepanzerten Fahrzeuge, im Bereich Schützenpanzer bis hin zu Kampfpanzern, bewaffneten Drohnen, Aufklärung, Eskalationsdominanz – die Liste ist gewaltig. Sie umreißt auch einen sehr großen Markt, alleine schon in Europa. Und dann gibt es ja auch noch Partner auf der Welt in einer Reihe von Demokratien, mit denen man zusammenarbeiten kann. Also insofern ist das zwar ein plakatives Thema, aber in der Sache nicht so wichtig, wie Rüstungsexportrichtlinien in Europa oder Deutschland gerade aussehen.

Hat die Wehrbeauftragte Eva Högl recht, dass die Bundeswehr nicht 100, sondern 300 Milliarden für ihre Modernisierung braucht?

Das müssen Sie mit Frau Högl erörtern. Jedenfalls sind das Zweiprozent-Ziel für die jährlichen Haushalte und die 100 Milliarden zusammen eine gute Basis. Ich denke, die Nato wird dieses Ziel noch nachschärfen und der Kanzler hat ja gesagt, dass Deutschland in Europa wieder Führung übernehmen wird.

Was heißt das für die künftige finanzielle Ausstattung?

Das muss innerhalb der Nato erörtert werden. Es ist ja schon mal sehr gut, dass der Bundeskanzler dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt auf den richtigen Weg kommen. Das ist für mich im Moment das Entscheidende: dass Olaf Scholz für Deutschland eine zeitgemäße Außen- und Sicherheitspolitik im richtigen Maße und in die richtige Richtung verordnet hat. Das beweist Führungskraft, das finde ich gut.

Was würden Sie heute mit all Ihrer Erfahrung anders machen als damals?

Das ist nachträgliche Schlaumeierei. Dazu neige ich nicht.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Rudolf Scharping am 18.1.2023
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