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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vorwürfe gegen Till Lindemann "Überall wo er war, war sie auch"
Mehrere Frauen beschuldigen Rammstein-Sänger Till Lindemann, sie missbräuchlich behandelt zu haben. t-online deckt neue Details eines undurchsichtigen Systems auf.
Es ist die "Lindemann Tour 2020", von Rammstein keine Spur. Till Lindemann ist allein. Das wird noch wichtig werden bei dieser Geschichte. Der Sänger tourt für sein Soloalbum "F & M" durch acht europäische Länder – begleitet von dem schwedischen Produzenten Peter Tägtgren.
Ein Februarabend, europäisches Ausland: Martha* fiebert dem Konzert entgegen, bei dem über eine Leinwand an der Bühne ein Video eingespielt wird. Es zeigt Lindemann auf einer Ledercouch. Längs auf ihm liegt eine junge, nackte Frau. Sie liest ein Buch auf Deutsch – holprig und mit starkem osteuropäischem Akzent. Jedes Mal, wenn sie eines der deutschen Wörter falsch ausspricht, schlägt ihr Lindemann auf den Hintern. Das Publikum johlt.
Auch Martha steht in der Halle. Sie könnte an diesem Tag das Konzert aus der ersten Reihe heraus verfolgen. Doch sie bleibt etwas weiter hinten an der Bar, gemeinsam mit einem Freund. Wenige Tage zuvor hat sie eine Nachricht erhalten, von einer gewissen Alena Makeeva. Der Kontakt kam über eine Facebook-Gruppe zustande, in der Martha den Konzerttermin Lindemanns bestätigt hatte. Alena fragte sie über den Messenger, ob sie Lust habe, einen Gästelistenplatz zu bekommen. Martha hatte Lust.
"Natürlich sage ich da nicht nein"
"Warum nicht?", sagt sie im Gespräch mit t-online: "Das ist Till Lindemann und ich bekomme das Angebot, zu einer Aftershowparty zu kommen. Natürlich sage ich da nicht nein." Doch ihre Vorstellung davon, wie es ist, hinter die Kulissen von Deutschlands berühmtestem Rockstar zu dürfen, weicht von dem tatsächlich Erlebten zunächst stark ab.
Die Aftershowparty sei skurril gewesen, berichtet Martha. "Da saßen so 50 bis 60 Männer und Frauen wie in einem Kreis." Ihr sei es von Alena Makeeva untersagt worden, ihre männliche Begleitung mitzubringen, sie habe sich "total fehl am Platz gefühlt". Martha sitzt herum, langweilt sich. t-online liegen Videoaufnahmen der Party vor. Die Stimmung ähnelt weniger einer Rockstar-Sause als vielmehr dem Ausharren im Wartezimmer einer Arztpraxis – nur die Klänge vom Lied "Butterfly" der amerikanischen Rap-Rock-Band Crazy Town im Hintergrund verraten, dass es hier nicht gleich zur Wurzelbehandlung geht.
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Etwa eine Stunde später, in einer Raucherpause, verändert sich der Abend für Martha. Ein Mann spricht sie an, er sei von Lindemann beauftragt. "Das war so ein riesiger Kasten, zwei Meter groß, zwei Meter breit. Was genau er dort gemacht hat, weiß ich nicht. Ein Mann für alles", beschreibt Martha den Lindemann-Mitarbeiter, dessen Name t-online bekannt ist. Ob sie den Sänger persönlich kennenlernen wolle, fragt er. Martha will. Sie wird eine Treppe hochgeführt, abseits der offiziellen Party.
Sie gelangt in einen schmucklosen Raum. Zwei Couches, ein Tisch, ein paar Häppchen, Alkohol – und: Till Lindemann. Er sitzt dort allein. Martha beschreibt den Moment, in dem sie ihm begegnet, so: "Ich dachte: Was ist denn mit dem los? Warum ist er so schlecht gelaunt? Man hat gesehen, dass er gar keinen Bock hatte, auf diese Party runterzugehen." Diese Party, die so wirkt wie das Warten auf eine Wurzelbehandlung.
Bis hierher ähnelt Marthas Geschichte jenen Erzählungen anderer junger Frauen, die in den vergangenen Wochen bekannt geworden sind. Sie hatten berichtet, sie seien wie Martha von Alena Makeeva gezielt ausgewählt worden für exklusive Partys mit Till Lindemann – und für Sex mit ihm. Doch anders als diese Frauen erlebte Martha das, was folgte, nicht als Übergriff, sie fühlte sich nicht überrumpelt und hatte auch nicht das Gefühl, manipuliert worden zu sein.
Ein Fan und der Rockstar: Sie ist 25, er 57
Martha und Till Lindemann führen Small Talk, trinken etwas, er sagt ihr, sie solle etwas essen. Sie lehnt ab. Drogen gibt es keine. Irgendwann beugt er sich zu ihr herunter, küsst sie – und sie haben Sex auf der Couch. Eine "flotte", "harte" Nummer, wie Martha sagt. Er habe sie gefragt, ob er sie würgen darf, sie bejaht. "Ich finde dieses Machtgefälle sehr anziehend", sagt Martha.
"Von dem Moment an, in dem ich den Raum betreten habe, bis zu dem Zeitpunkt, als wir miteinander geschlafen haben, sind vielleicht zehn Minuten vergangen", schätzt sie. Doch Martha stört das nicht, sie will den Sex mit Lindemann. Sie habe sich "geehrt" gefühlt. "Er hat mich nicht bedrängt und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass ich in der Situation gefährdet war."
Martha ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt, der Rockstar 57. Es ist die Geschichte einer Frau, bei der im Nachhinein weder Vorwürfe mitschwingen noch Schuldgefühle oder Reue. Martha war sich bewusst, was sie tat, und ihr gefiel das.
Sie hat lange überlegt, ob sie mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen soll. Die vergangenen Wochen sind auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen. Ihr kommen Zweifel. Bei ihr ist alles reibungslos abgelaufen. Lügen die anderen? Oder haben Mädchen zwar ähnliche Erfahrungen gemacht, bewerten die Erlebnisse im Nachhinein aber anders als sie?
Martha hat darauf keine Antwort. Und doch kann ihre Geschichte womöglich ein vollständigeres Bild liefern von den Vorwürfen, die gegen Till Lindemann erhoben werden. Davon, dass die Grenze zwischen einvernehmlichem und übergriffigem Sex womöglich nicht immer klar war. Weil es Frauen gab wie Martha, denen bewusst war, dass eine Einladung zu einem Privattreffen mit Till Lindemann bedeutet, mit ihm Sex zu haben – und andere, die davon überrumpelt waren. Oder die sich nach mehreren Drinks nicht mehr in der Lage sahen, das einschätzen zu können. Es erklärt womöglich aber auch, warum es so schwer ist, mutmaßliche Übergriffe juristisch aufzuarbeiten.
Mehrere Frauen haben in den vergangenen Wochen von ganz anderen Erfahrungen mit Till Lindemann berichtet: in der "Süddeutschen Zeitung", beim NDR, in der "Welt" oder im "Spiegel". Von Sex unter Drogeneinfluss, von missbräuchlichen Übergriffen, von dem Einsatz von K.-o.-Tropfen ist die Rede.
Shelby Lynn, eine 24 Jahre alte Nordirin, die am 22. Mai in der litauischen Hauptstadt Vilnius ein Rammstein-Konzert besucht hat, brachte mit ihren Postings seit dem 25. Mai 2023 eine Lawine an belastenden Informationen über Lindemann ins Rollen. Die litauische Polizei hat Lynns Anzeige aufgenommen, erklärt auf t-online Nachfrage aber, keine Ermittlungen gegen Till Lindemann einzuleiten. Es gebe "keine Beweise für ein Verbrechen", so ein Sprecher. Die finale Entscheidung liege nun bei der zuständigen Staatsanwaltschaft.
In Deutschland wurden am Mittwoch neue Entwicklungen bekannt. Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt nach Informationen von t-online gegen Till Lindemann.** Zuerst berichtete der "Tagesspiegel" darüber. Unter anderem die YouTuberin Kayla Shyx hatte ihre Erlebnisse von einem Rammstein-Konzert im Berliner Olympiastadion in einem viel beachteten 37-Minuten-Video öffentlich gemacht – und dabei auch zentrale Vorwürfe Shelby Lynns bekräftigt. Zu weiteren Details äußern sich die Ermittlungsbehörden derzeit auf Anfrage nicht. Noch Ende vergangener Woche sagte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft zu t-online, es bestehe "die große Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung der Betroffenen".
Till Lindemann und seine Anwälte gehen in die Offensive
Rammstein distanziert sich von den verschiedenen Anschuldigungen. Zwei öffentliche Statements verbreitet die Band in den vergangenen Wochen. Am Donnerstag, dem 8. Juni, schaltet Lindemann eine Anwaltskanzlei ein. In einer Pressemitteilung heißt es: "So wurde wiederholt behauptet, Frauen seien bei Konzerten von Rammstein mithilfe von K.-o.-Tropfen bzw. Alkohol betäubt worden, um unserem Mandanten zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an ihnen vornehmen zu können." Dazu halten die Anwälte fest: "Diese Vorwürfe sind ausnahmslos unwahr."
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Dass Frauen in einem regelrechten Castingbetrieb an Lindemann herangeführt wurden, dementieren die Anwälte hingegen nicht. Es ist, betrachtet man die Feinheiten in den Formulierungen, ein sehr spezifisches Dementi – so bewerten es auch Juristinnen wie Stefanie Schork, promovierte Rechtsanwältin für Medien- und Strafrecht. Am 11. Juni schreibt sie zu dem Thema: "Dass eine 'Casting-Direktorin' über Jahre systematisch Frauen herbeigeschafft hat, die dem Sänger zur sexuellen Verfügung gestellt worden sein sollen, wird nicht bestritten. Das betrifft wegen des unmittelbaren Bezugs zu Show und Partys drumherum auch weder dessen Privat- noch Intimsphäre."
Es gilt die Unschuldsvermutung, für Lindemann, für mutmaßlich Beteiligte an diesem System, das auch Martha als "suspekt" beschreibt – trotz ihres einvernehmlichen sexuellen Kontakts mit dem Sänger.
Ihre Beschreibung der Erlebnisse ähnelt der von anderen Frauen. Das System um den Rockstar scheint nicht nur bei Rammstein-Konzerten existiert zu haben, es hat auch bei Lindemanns Solotour in der gleichen Art und Weise stattgefunden. Das belegen Chatverläufe und Gruppenaktivitäten, die t-online einsehen konnte. Martha ist genau das Gleiche passiert wie vielen anderen jungen Frauen bei ihren Besuchen der Rammstein-Tour. Alena Makeeva ist nicht nur mit der Band unterwegs, sie begleitet Lindemann auch zu Beginn des Jahres 2020.
Wie t-online aus dem Umfeld der Band erfährt, sei die Russin weder Angestellte bei Rammstein noch in deren Namen tätig. Das Management der Rockgruppe kenne Makeeva zwar, aber der Umgang miteinander habe sich auf höfliches Grüßen beschränkt, mehr habe man nicht miteinander zu tun gehabt. Es handle sich bei der Frau um eine "Till-Lindemann-Bekannte".
Recherchen von t-online und die Aussagen von Martha untermauern das. Doch weder Alena Makeeva antwortet auf mehrfache Nachfrage hin noch Till Lindemanns Management. Der 60-Jährige lässt einen umfassenden Fragenkatalog unbeantwortet. Wie seine Beziehung zu Makeeva zu beschreiben ist, wie diese für ihre Arbeit bezahlt wird, bleibt unklar.
"Alena war immer in seinem Dunstkreis"
Das Auswahlsystem der Frauen lief auch für die "Lindemann"-Tour Anfang 2020 über Social-Media-Gruppen, private Einladungen und stets war Alena Makeeva die Organisatorin. "Alena war immer in seinem Dunstkreis", sagt Martha. "Überall, wo er war, war sie auch." Der Unterschied zu den Rammstein-Konzerten ließ sich an der Größe der WhatsApp-Gruppe erkennen: Bei Lindemann waren es nur knapp ein Dutzend Mitglieder, die von Alena Makeeva für die Party eingeladen wurden, bei Rammstein um ein Vielfaches mehr.
Während die Band Stadien mit bis zu 60.000 Menschen füllt, wie zuletzt in München zwischen dem 7. und 11. Juni, spielte Till Lindemann auf seiner Solotour in Hallen von Hannover bis Nowosibirsk, die in der Regel für 2.000 bis 5.000 Konzertbesucher ausgelegt sind. Der Rahmen war entsprechend intimer, der Dresscode dennoch der gleiche. Man solle sich "sexy" kleiden, "Netzstrümpfe" tragen, das Make-up soll "strahlend" daherkommen, "Smokey Eyes und roter Lippenstift" wären toll, so trug es Alena Makeeva den Mädchen in der Gruppe auf.
Von Sex sei da keine Rede gewesen, lediglich eine Party habe Makeeva versprochen. "Ich hatte von Anfang an kein Vertrauen zu ihr und wusste, dass das in die Richtung gehen wird", so Martha. Sie beschreibt die selbsternannte "Casting-Direktorin" als "super unsympathisch". Zwar habe Makeeva nach außen hin "nett" gewirkt, aber aus Sicht von Martha sei dies nur Maskerade gewesen. "Es war einfach immer dieser oberflächliche Small Talk. Sie hat null Interesse an dir als Person. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass sie von anderen Mädels als sehr vertrauenswürdig eingeschätzt wurde."
Dass Makeeva sich das Vertrauen junger Frauen erschlich und sie unter falschen Versprechungen zu Lindemann lockte, ist einer der zentralen Vorwürfe in dem Sexsystem rund um die Konzerte. Doch der Rockstar scheint die Russin nicht nur als Vermittlerin seiner Sexpartnerinnen eingesetzt zu haben, auch für normale, durchaus übliche Organisationsaufgaben wie Gästelistenplätze galt Makeeva als Ansprechpartnerin. Das zeigen WhatsApp-Chats, die t-online vorliegen.
Sie ist Lindemann nie begegnet: Warum also seine Auswahl?
Allerdings scheint es zu kurz zu greifen, sie als einzige Verantwortliche auszumachen. Makeeva hat laut bisherigen Erkenntnissen Till Lindemann systematisch Frauen zugeführt: für Sex vor, während und nach seinen Konzerten. Recherchen von t-online weisen auf mindestens eine weitere Frau hin, die Makeeva zugearbeitet oder sie teilweise sogar ersetzt hat. Und da wäre noch der Mann, der Martha angesprochen hat und sie zu Lindemann führte …
"Er hatte mir später erzählt, dass es kein Zufall war, dass ich ausgewählt wurde", berichtet Martha. Es ist die Rede von Kameraüberwachung in den Backstage-Räumlichkeiten. Martha wollte wissen, wie Lindemanns Wahl auf sie fallen konnte. Die Halle sei "videoüberwacht", die Frauen "bekommen gar nichts mit", habe ihr der Mann geantwortet. Ob und wie Überwachungsbilder zur Auswahl der Frauen benutzt wurden, lässt sich schwer rekonstruieren. Eine Anfrage von t-online an den Betreiber der Konzerthalle bleibt erfolglos.
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Doch Martha ist sich sicher: Sie ist Till Lindemann zwischen dem Konzertende und ihrem ersten Kontakt unter vier Augen in dem kleinen Raum, wo es dann direkt zum Sex kam, nie begegnet. Entweder hat der Lindemann-Vertraute Martha eigenhändig ausgewählt oder der Rockstar hat einen anderen Weg gefunden, sich jemanden nach seinen Vorstellungen auszusuchen. Womöglich diente die WhatsApp-Gruppe Makeevas samt der Profilbilder nicht nur zur Kommunikation, sondern wurde auch für Castingzwecke genutzt. Auf Marthas Social-Media-Profilen sind schließlich unzählige Bilder von ihr zu finden.
An dem Machtgefälle ändert das nichts. Junge Frauen kommen auf dem einen oder anderen Weg in einen Bereich, der nur noch dem einflussreichen, weltbekannten Rockstar vorbehalten ist – und in dem die Mädchen offenbar seinen Launen ausgeliefert sind. Hinter diesen vier Wänden kann es zu einvernehmlichem Sex kommen wie bei Martha oder zu mutmaßlichem Missbrauch, wie ihn Frauen in verschiedenen Medien auch unter eidesstattlicher Versicherung berichten. Am Ende steht Aussage gegen Aussage. Genau deshalb sind #MeToo-Fälle naturgemäß so schwer aufzuklären.
"Das sind zwei verschiedene Menschen"
Für Martha sind Grenzüberschreitungen Lindemanns unvorstellbar. "Ich habe ihn komplett anders wahrgenommen, als er dargestellt wird", sagt sie. Sie beschreibt ihn gar als "Gentleman". Beide tauschten Nummern nach dem Sex aus. Stets sei er "respektvoll, höflich, intelligent" aufgetreten, habe sie nach ihrer Meinung gefragt, weitere Treffen vorgeschlagen. "Till in den Medien und Till, so wie ich ihn kenne, sind wie zwei verschiedene Menschen", urteilt sie.
Till Lindemann polarisiert seit jeher, zeigt schon immer auch eine morbide, eine gewalttätige Seite in der Öffentlichkeit – nur wurde sie bisher als eine Form seiner Kunstfigur abgetan, erst nach den Vorwürfen heißt es, dies müsse neu bewertet werden. Der Mann, der in einem Pornofilm eine Frau gegen die Wand schlägt, der bei Konzerten auf einer Peniskanone sitzt und zu dem Lied "Pussy" Zeilen wie "Steck Bratwurst in dein Sauerkraut" singt, während weißer Schaum ins Publikum gespritzt wird, der Lyrik mit Vergewaltigungsfantasien und Reimen über K.-o.-Tropfen mischt. Ist dieser Mann auch hinter der Bühne misogyn, ein Tabubrecher oder gar Gewalttäter?
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat die Zusammenhänge bereits neu bewertet. Der Verlag beendete die Zusammenarbeit mit Lindemann, nachdem er nach eigenen Aussagen Kenntnis von einem Porno erhalten hatte. Lindemann zeige an "Frauen demütigende Handlungen" in dem Film, überschreite damit "unverrückbare Grenzen". Auch in anderen Bereichen gerät etwas in Bewegung.
In der BDSM-Szene, in der Dominanz und Unterwerfung nach festen Spielregeln praktiziert werden, gilt Rammstein als ikonische Band, die mit einschlägigen Codes arbeitet. Es laufe keine Party, ohne dass Lieder wie "Bück dich" gespielt würden, sagt ein langjähriger DJ zu t-online. Lindemann singt in dem Song unter anderem: "Ein Zweibeiner auf allen Vieren, Ich führe ihn spazieren." Einige Rammstein-Fans mit entsprechender Neigung nehmen ihren Partner an der Leine mit zu Konzerten, so der Szenekenner, "das ist wie ein geschützter Raum". Er berichtet nun von Fassungslosigkeit bei BDSM-Anhängern angesichts der Vorwürfe gegen Lindemann. Bröckelt die Kunstfigur, der Kult um Lindemann?
- Lindemanns Macht: Warum das Problem viel tiefer reicht
In einem Interview 2013 sagte er dem "Stern" als Privatperson: "Das gewaltigste Potenzial, das der Mensch in sich trägt, ist seine Sexualität." Er glaube "an das Tier im Menschen". Auf die Frage, wie er über Liebe denkt, antwortete er in einem anderen Interview: "Die Frage ist, was du als Liebe definierst, oder ob du auch in extreme Formen von Liebe vorstoßen kannst." Was er damit meint? Unklar. Lindemann ist zweifach geschieden, heute offiziell Single. Er hat zwei erwachsene Töchter und einen Sohn, auch Großvater und Patenonkel ist er. Seine bekannteste Beziehung führte er zwischen 2011 und 2015 mit Sophia Thomalla.
Diese verteidigte ihren Ex-Freund öffentlich, Till Lindemann sei "ein Mann, der Frauen beschützt", so die Moderatorin. Also ein Mann der zwei Gesichter? Ein Romantiker und Rüpel, ein Gentleman und Unterdrücker? Einer, der Frauen die Tür aufhält und sie hinter verschlossenen Türen erniedrigt?
Martha sagt, für sie "passt beides einfach nicht zusammen". Sie habe nur den einen, den zuvorkommenden Till erlebt. Andere sprechen hingegen davon, seit ihrer Begegnung mit dem Sänger psychologische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, beim Hören von Rammstein-Textzeilen in traumatische Zustände zu geraten.
"Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter"
Martha pflegt bis heute Kontakt zu Lindemann. Das System rund um Alena Makeeva und das Groupie-Casting werfe für sie ebenfalls Fragen auf – aber Lindemann sei eben ein Rockstar, er habe sich ihr gegenüber immer "korrekt" verhalten.
Hinweise im Fall Rammstein und Lindemann
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Sein Satz in München vergangene Woche, vor 60.000 Menschen im Olympiastadion geäußert, habe sie zu Tränen gerührt. Lindemann sagte live auf der Bühne, angesichts der unheilvollen Bewölkung am Himmel: "Wir hatten ein Riesenglück mit dem angekündigten Unwetter. Glaubt mir, das andere wird auch vorbeiziehen." Beobachter fassten diesen Satz als Kommentar zu den unwetterartigen Negativschlagzeilen auf.
Das Lied "Pussy" spielte die Band in München nicht, auch die Peniskanone kam nicht zum Einsatz. Ob solch ein Abweichen vom üblichen Tourprotokoll bei Lindemanns kommender Solotour auch ansteht? Wird er künftig keine Videos mit nackten Frauen zeigen, die er nach Gutsherrenart dominiert? Wird er nun eher sein zweites Gesicht ins Scheinwerferlicht rücken, seine von Frauen wie Martha oder Sophia Thomalla propagierte, vermeintlich feinfühlige Seite?
Insgesamt 24 Konzerte will der Sänger in ganz Europa spielen. Geplant ist der "Lindemann"-Start am 8. November in seinem Geburtsort Leipzig, das Konzert ist bereits ausverkauft. Enden soll die Tour am 20. Dezember in Paris. Ob der Plan aufgeht oder vor dem Hintergrund der aktuellen Vorwürfe noch platzt, will die zuständige Veranstaltungsfirma auf Anfrage von t-online nicht kommentieren. Wenn die Auftritte in den Hallen nicht stattfinden werden, dürfte jedenfalls kaum ein Gewitter am Himmel dafür verantwortlich sein.
*Die Identität der Frau ist der Redaktion bekannt. Für die Berichterstattung wurde der Name geändert.
**Die Berliner Staatsanwaltschaft hat das Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann am 29. August eingestellt. Es konnten keine Belege für ein strafbares Verhalten gefunden werden. Hier lesen Sie die Details zu der Entscheidung. Damit handelt es sich bei dem Sänger der Band Rammstein weder offiziell um einen Tatverdächtigen noch um einen Beschuldigten.
- Anfrage an Alena Makeeva, Rammstein und Till Lindemann
- Anfrage an Handwerker Promotion
- Anfrage an litauische Polizei und Berliner Staatsanwaltschaft
- Eigene Recherchen
- linkedin.com: Posting von Stefanie Dr. Schork
- handwerker-promotion.de: "TILL LINDEMANN | Tour 2023"
- instagram.com: Profil von Alena Makeeva
- tagesspiegel.de: "Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Frontsänger Till Lindemann"
- welt.de: "Shelby Lynn legt Beschwerde gegen litauische Polizei ein"
- lrt.lt: "'No complaints'" (englisch)
- süddeutsche.de: "Am Ende der Show" (kostenpflichtig)
- tagesschau.de: "Neue Vorwürfe gegen Till Lindemann"
- welt.de: "K.O.-Tropfen, Sex und die 'Row Zero'" (kostenpflichtig)
- spiegel.de: "Sex, Macht, Alkohol – was die jungen Frauen aus der 'Row Zero' berichten" (kostenpflichtig)
- twitter.com: Profil von Shelby Lynn, Rammstein, #Rammstein