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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach Rückzug von Superstar Biles "Es entsteht ein unglaublicher Druck auf die Athleten"
Druck und "Dämonen" haben Simone Biles zu einem außergewöhnlichen Schritt bewogen. Der Turn-Superstar zieht sich zurück – und berichtet über psychische Probleme. Sie ist nicht die Erste.
In dem Moment, als US-Superstar Simon Biles die Leichtigkeit des Turnens abhandenkam, setzte sie ein Zeichen. Aus Selbstschutz folgte die 24-Jährige der Vernunft: Die viermalige Olympiasiegerin der Spiele in Rio de Janeiro 2016 zog sich bereits am späten Dienstagabend in Tokio aus dem Mannschaftsfinale zurück und überließ ihren drei Team-Kolleginnen Sunisa Lee, Jordan Chiles und Grace McCallum die Bühne. Am Mittwoch sagte sie dann auch noch ihren Start im Einzel-Mehrkampf ab. Für ihren mutigen Schritt bekam sie Zuspruch von allen Seiten.
Biles: "Mentale Gesundheit an erster Stelle"
Biles sprach bereits am Dienstag mit schonungsloser Offenheit über ihre psychischen Probleme und die Gründe ihrer Aufgabe. "Ich sage, die mentale Gesundheit steht an erster Stelle. Daher ist es manchmal in Ordnung, die großen Wettbewerbe sogar auszusetzen, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. Es zeigt, wie stark du als Wettkämpfer und Person wirklich bist, anstatt dass du dich einfach durchkämpfst", erklärte Biles und sprach vom "Kampf gegen Dämonen".
Inzwischen äußerte sich auch der US-Turnverband zum Vorfall.
"Simone wird weiterhin täglich bewertet, um herauszufinden, ob sie an den Einzel-Finals in der kommenden Woche teilnehmen kann", schrieb der Verband. Die Geräteentscheidungen finden vom 1. bis 3. August im Ariake Gymnastics Center statt. "Ihr Mut zeigt einmal mehr, warum sie ein Vorbild für so viele ist", schrieb USA Gymnastics.
Anerkennung aus dem Weißen Haus
Für ihre Offenheit erntete die 19-malige Weltmeisterin Respekt, Anerkennung und eine Welle der Sympathie bis hin zu einer Reaktion aus dem Weißen Haus. "Dankbarkeit und Unterstützung sind das, was Simone Biles verdient", twitterte Sprecherin Jen Psaki am Mittwoch. Biles sei immer noch die Größte, "und wir alle haben das Glück, sie in Aktion sehen zu können", schrieb sie weiter. Mark Adams, Sprecher des Internationalen Olympischen Komitees, erklärte: "Abseits von allem anderen haben wir Riesenrespekt vor ihr und unterstützen sie voll und ganz."
Und trotzdem muss hinterfragt werden, weshalb eine junge Sportlerin wegen mentaler Probleme nicht an einem Wettbewerb teilnehmen kann. Ist der Druck, welcher auf den Athletinnen und Athleten lastet, tatsächlich so groß?
Auch Patrick Hausding, der am Mittwoch die Bronzemedaille im Synchronschwimmen gewann, zeigt Verständnis für Biles – und ging im Gespräch mit t-online auch auf den immensen Druck ein, der auf den Spitzensportlern lastet. "Die psychologische Belastung ist wirklich riesig. Und, komischerweise, je älter ich werde, desto schwieriger wird's. Das hängt damit zusammen, dass wenn man über so einen langen Zeitraum erfolgreich ist – und das ist Simone Biles noch in einem anderen Umfang als ich – die Leute den Erfolg irgendwann erwarten. Und wenn man das nicht macht, dann ist man halt auf einmal der große Verlierer".
Doch ist es nicht immer nur der Druck von außen, sondern auch die eigene Erwartungshaltung, die den Spitzensportlerinnen und Sportlern zu schaffen macht. "Die Athletinnen und Athleten erwarten auch von sich selbst, ihre guten Leistungen zu bestätigen", sagte Jens Kleinert, Professor für Sport- und Gesundheitspsychologie an der Deutschen Sporthochschule Köln, zu t-online. "Das ist ein Punkt, den man aufarbeiten kann: dass die Bestätigung eines Erfolgs nicht zwingend ist – und dass Fehler dazugehören."
Schon am Tag zwischen Qualifikation und Mannschaftsfinale hatte Biles allerdings durchblicken lassen, dass der Druck auf und die Erwartungshaltung an sie ihr zu viel sind. "Ich fühle mich wahrhaftig, als hätte ich zur Zeit die Last der Welt auf meinen Schultern. Ich weiß, ich bürste es ab und lasse es so aussehen, als würde der Druck keinen Einfluss auf mich haben, aber verdammt, manchmal ist es hart. Olympia ist kein Witz", schrieb sie auf Instagram.
Biles ist nicht der erste Fall
Eine zusätzliche Gefahr laut Kleinert: Durch das aktive Auftreten in den sozialen Medien präsentieren sich Sportler teils auch bewusst einer deutlich größeren Öffentlichkeit. Dieser mediale Zuspruch "kann sicherlich einen positiven Effekt erzeugen. Gleichzeitig steigt mit einer hohen Medienpräsenz auch die Erwartungshaltung, und es entsteht ein unglaublicher Druck, der die Athletinnen und Athleten von außen erreicht. Die Schwierigkeit für den Athleten besteht auch darin, zwischen äußerem und innerem Druck unterscheiden zu können. Es hat sich also nicht der Leistungsdruck verändert, sondern die Öffentlichkeit dieses Drucks und die Präsenz der Athleten in den Medien. Dadurch wird solch ein psychisches Geschehen auch forciert."
Zum besseren Verständnis, wie populär Simone Biles ist: Sie hat 5,3 Millionen Follower auf Instagram. Jüngst wurde Biles gefragt, was wohl der bisher schönste Moment ihrer Karriere gewesen sei. "Wahrscheinlich meine Freizeit", hatte die US-Amerikanerin geantwortet. Eine Aussage, die tief blicken lässt.
Und der Turn-Star ist bei Weitem nicht die einzige prominente Sportlerin, die gegen mentale Probleme kämpft und dies öffentlich gemacht hat. Japans Tennis-Ass Naomi Osaka hatte sich Anfang Juni von den French Open zurückgezogen und längere Depressionsphasen öffentlich gemacht.
Seit den US Open 2018 leidet sie an der Krankheit. Jener Zeit also, als sie mit dem Sieg im Finale gegen ihr persönliches Idol Serena Williams den größten Erfolg ihrer Karriere feierte. Bei der damaligen Siegerehrung war sie in Tränen ausgebrochen. Die gefühlstechnische Ambivalenz, die Biles offenbarte, ist auch bei Osaka vorhanden. Auf der einen Seite steht die introvertierte Spielerin, die auf dem Platz Kopfhörer trägt und, wie bei den diesjährigen French Open, Pressekonferenzen boykottiert.
Auf der anderen Seite ist da die vierfache Grand-Slam-Siegerin, die sich trotz der Absagen der sportlichen Wettbewerbe (Wimbledon) in den vergangenen Wochen für die Cover gleich mehrerer renommierter Magazine ablichten ließ. Zuletzt erschien beim Streamingdienst Netflix sogar eine Dokumentation, die sich der bestverdienenden Sportlerin widmete.
Bei den Olympischen Spielen in ihrer Heimat feierte sie ihr sportliches Comeback – scheiterte am Dienstag allerdings bereits im Achtelfinale. "Ich habe definitiv das Gefühl, dass es eine Menge Druck gab", sagte sie nach dem 1:6, 4:6 gegen die stark spielende Tschechin Markéta Vondroušová. Es sei für ihre ersten Olympischen Spiele vielleicht ein bisschen viel Druck gewesen, so die Japanerin.
Ihre zweimonatige Pause sei nötig gewesen, sagte Osaka in Tokio noch nach ihrem erfolgreichen Auftaktmatch. "Ich fühle mich definitiv ein bisschen frischer und wieder glücklich."
Wie es für sie weitergeht, ist unklar. Und auch bei Simone Biles steht offen im Raum, ob sie ihre sportliche Karriere überhaupt fortsetzt. Zwei Sportlerinnen am Scheideweg.
Fragt man Kleinert, so hat der sportpsychologische Bereich Schritte nach vorne gemacht. Mittlerweile würden häufig betreuende Sportpsychologen bereitgestellt. "Im Vergleich zu anderen Bereichen der Unterstützung, sei es Physiotherapie oder ärztliche Behandlung, existiert aber häufig noch ein Defizit. Das hängt aber auch mit einem Mangel an Wissen über das Thema und an Informationen zusammen", so der Sportpsychologe.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Telefonat mit Prof. Dr. Jens Kleinert von der DSHS Köln
- spiegel.de: "Der Abgang" (kostenpflichtig)
- Kieler Tagblatt: "Osaka und ihre komplizierte Rolle als Aushängeschild"
- Olympia in der ARD, im ZDF und bei Eurosport
- Eigene Recherche