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Zum journalistischen Leitbild von t-online.WM-Halbfinale gegen Marokko "Frankreich eignet sich wunderbar als Feindbild"
Vor dem WM-Halbfinale Marokko gegen Frankreich wächst die Sorge vor neuen Krawallen. t-online sprach mit dem Psychologen Ahmad Mansour über Fußballbegeisterung, die in Gewalt umschlägt.
Ahmad Mansour ist eigentlich großer Fußballfan, aber die WM in Katar schaut er sich nicht an – aus Protest gegen den wachsenden politischen Einfluss des autoritär geführten Emirats. t-online sprach mit dem Psychologen, Extremismusforscher und Träger des Bundesverdienstkreuzes vor dem politisch hoch aufgeladenen Halbfinale Marokko gegen Frankreich am Mittwochabend, 20 Uhr. Als arabischer Israeli versteht Mansour die Gefühle der Marokko-Fans auch persönlich.
t-online: Herr Mansour, nach den bisherigen Spielen Marokkos gab es schwere Krawalle, vor allem in Paris, Brüssel und den Niederlanden. Wie müsste die Partie gegen Frankreich ausgehen, damit es im Anschluss keine Ausschreitungen gibt?
Ahmad Mansour: Es wird wieder Krawalle geben, egal ob Frankreich oder Marokko gewinnt. Die Menschen, die an so etwas beteiligt sind, reflektieren ihre Taten ja nicht. Die absolute Mehrheit der Marokko-Fans hat mit solchen Leuten aber nichts zu tun. Millionen Menschen waren friedlich auf den Straßen und haben gefeiert. Ich bin nicht sicher, ob diese Krawallmacher überhaupt ein Interesse an Fußball haben.
Worum geht es den Krawallmachern?
Wir haben es hier mit Leuten zu tun, die Lust an der Gewalt haben. Das ist nicht rational zu erklären und ist nicht abhängig von sportlichen Leistungen. Das ist ein Mob, der sich entwickelt, und wir dürfen wir diese Lust an der Gewalt nicht unterschätzen. Da treffen sich Leute zum Feiern auf der Straße und dann schlägt das Feiern in Gewalt um. Das ist gefährlich, aber auch ein Zeichen komplett gescheiterter Integration.
Könnte dieses Fußballspiel in Frankreich über Fan-Krawalle hinaus neue Gewalt auslösen, etwa in den Pariser Vorstädten?
Die Sorge ist berechtigt und ich hoffe sehr, dass es nicht dazu kommt. Ausschreitungen rund um das Spiel wird es so oder so geben, aber wenn darüber hinaus etwas passiert, falsche Entscheidungen der Polizei zum Beispiel, dann kann es ganz schnell gehen. Das Potenzial ist da, deshalb hoffe und glaube ich, dass die Sicherheitsorgane und die Politik sich vorbereiten und mit vernünftigen Menschen in einen Dialog treten. Zu warten und zu hoffen ist zu wenig. Aber ich hoffe auch, dass in der Community die Vernunft da ist, mit den Jugendlichen zu sprechen. Es ist doch absurd, dass wir mittlerweile Präventionsarbeit vor einem Fußballspiel leisten müssen.
Ist dieses Halbfinale auch wegen Frankreichs kolonialer Vergangenheit in Nordafrika und dem Nahen Osten so aufgeladen?
Na ja, die meisten Spieler in Frankreichs Mannschaft haben auch einen Migrationshintergrund, so eindeutig ist die Lage also nicht. Eine wichtige Rolle spielt aber die große marokkanische Minderheit in Frankreich. Die Ausschreitungen gab es ja vor allem dort, wo viele Menschen marokkanischer Herkunft leben. Frankreich ist aber auch durch die Mohammed-Karikaturen des Charlie-Hebdo-Magazins zum Hassobjekt geworden, die 2021 neu abgedruckt wurden, was eine Boykottbewegung unter Muslimen weltweit auslöste. Frankreich eignet sich also wunderbar als Feindbild. Ob diese Themen aber eine Rolle spielen bei den Randalen in Europa, wage ich zu bezweifeln.
In Deutschland schlagen die Marokko-Spiele bislang nicht so hohe Wellen.
Unter den Marokkanern schon, aber außerhalb von Düsseldorf ist die marokkanische Gemeinde eher klein. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die meisten Leute auf die Straße gehen, weil sie feiern wollen, und diese Menschen will ich nicht als Beispiel für gescheiterte Integration hinstellen. Wir reden von Gewaltausbrüchen, von Leuten, die Freude durch Zerstörung ausdrücken wollen, die in Konflikt mit der Polizei gehen oder Autos anzünden. Das ist ein ganz anderes Kaliber. Wie oft haben wir türkischstämmige Menschen gesehen, die friedlich auf den Straßen feiern, ohne dass es zu Ausschreitungen kommt. Wenn so eine Feier in Gewalt umschlägt, hat das vor allem mit dem Bezug zu dem Land zu tun, in dem die Menschen leben: Je negativer dieser Bezug, je größer die Minderwertigkeitskomplexe sind, desto größer ist die Gefahr von Ausschreitungen.
Ist der gesellschaftliche Zusammenhalt also hier besser als in anderen europäischen Ländern?
In Deutschland läuft es sowieso viel besser als in Belgien oder Frankreich, allein die Wohnpolitik ist hier eine ganz andere, was entscheidend ist, damit sich keine Parallelgesellschaften bilden. Die migrantische Gemeinschaft ist in Deutschland auch viel diverser und der Zugang zu Bildung ist ein ganz anderer. Die Enkel der "Gastarbeiter", die oft nicht einmal lesen oder schreiben konnten, sind heute Akademiker und in der Gesellschaft angekommen. Natürlich haben wir auch Probleme, vor allem mit Zuwanderern aus Nordafrika, wie die Silvesternacht in Köln 2015/16 zeigte, als es Hunderte Übergriffe gegen Frauen gab. Aber das ist nicht vergleichbar mit dem, was Frankreich in den letzten Jahren durchgemacht hat. Der Einfluss des politischen Islam und die Radikalisierung unter den Jugendlichen, aber auch das Scheitern der Integration ist in Frankreich und Belgien viel heftiger, als wir es hier jemals erlebt haben und hoffentlich niemals erleben werden.
Ahmad Mansour, geboren 1976, ist arabischer Israeli und lebt seit 2004 in Berlin. Er ist Diplom-Psychologe und arbeitet für Projekte gegen Extremismus. Anfang 2018 gründete er Mind Prevention (Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention). Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz sowie den Carl-von-Ossietzky-Preis. Im September erschien sein neues Buch "Operation Allah" im S. Fischer Verlag.
Marokkos WM-Erfolge lösen aber auch viel Begeisterung aus, vor allem unter Muslimen und Arabern in der ganzen Welt. Woher kommt diese Begeisterung?
Die arabische Welt braucht so eine Erfolgsgeschichte. Es geht uns nicht gut, die Spaltung, die Armut, die Perspektivlosigkeit und vor allem die Minderwertigkeitskomplexe: Diese Welt hat ihren Jugendlichen kaum etwas zu bieten. Wer heute in Libyen, Syrien, Marokko, Algerien, Ägypten oder im Irak zur Welt kommt, hat nur eine Hoffnung: die Auswanderung nach Europa. Diese Minderwertigkeitskomplexe brauchen eine Möglichkeit zur Kompensierung, und so ein sportlicher Erfolg kann das bieten. Seit Jahrzehnten schauen wir Fußball und sind Fans von Brasilien und Argentinien, weil die arabischen Mannschaften immer scheitern. Und auf einmal haben wir dieses Wintermärchen, das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Solche Erfolge zeigen uns, wir sind wer, gerade nach den Erfahrungen des Arabischen Frühlings, der leider nicht das gebracht hat, was wir uns erhofft haben.
Das erinnert mich an den Effekt der WM 1954, als die Deutschen nach dem Krieg auch sagten, wir sind wieder wer. Kann so ein sportlicher Erfolg das Selbstbewusstsein fördern?
Ja, aber ich weiß nicht, ob die Erfolge Marokkos vergleichbar sind mit damals. Das "Wunder von Bern" war begleitet von wirtschaftlichem Fortschritt. Ich weiß nicht, ob das hier auch der Fall ist. Der Erfolg der marokkanischen Mannschaft ist aber kein Zufall: Sie spielt guten Fußball und zeigt Teamarbeit, da ist ein Geist dahinter, ein Wille, und das könnte ein Vorbild sein. Aber ich weiß nicht, wie nachhaltig dieser Effekt ist.
Was halten Sie davon, dass sich die marokkanische Mannschaft nach ihren Spielen mit der palästinensischen Flagge zeigt? Als die DFB-Elf mit der "One Love"-Armbinde auflaufen wollte, schritt die Fifa ein.
Ich habe nichts gegen die palästinensische Flagge oder dass sich Menschen mit dem palästinensischen Volk solidarisieren. Das bedeutet nicht, dass sie die Existenz Israels ablehnen. Ich selbst bin für die Zweistaaten-Lösung. Sie haben Gäste mit der israelischen Flagge oder mit Regebogenfahnen aber schnell aus den Stadien verbannt und Hass gegen israelische Fans nicht unterbunden. Ich unterstelle den Katarern, dass sie diesen Fans bewusst zeigen wollen, dass sie nicht willkommen sind im Land.
Das ist nicht der einzige Hinweis, dass Katar mit der WM eine eigene politische Agenda verfolgt.
Katar hat die WM von Anfang als Möglichkeit gesehen, seine Werte zu verbreiten, daher die Ablehnung der Regenbogenfahne, daher das Verbot von Alkohol zwei Tage vor der Eröffnung, entgegen der Ankündigungen vor dem Turnier. Politisch ist das dann natürlich im Sinne Katars, wenn eine arabische Mannschaft so weit kommt und die eigene politische Botschaft transportiert. Das Tolerieren der palästinensischen Flagge durch Katar ist auch ein Zeichen gegen den König von Marokko.
Wie das?
Katar hat kein freundschaftliches Verhältnis zu Marokko, im Gegenteil. Marokko unterhält diplomatische Beziehungen zu Israel, was Katar massiv kritisiert hat. Daher will der Emir von Katar den König von Marokko bloßstellen. Der ist wiederum nicht glücklich, dass seine Mannschaft so einseitig Stellung für die Palästinenser bezieht, anstatt ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Aber gegen die Gefühle der Fans kann der König nichts tun, er kann ihnen ja nicht verbieten, sich mit den Palästinensern zu solidarisieren. Aber der Emir von Katar weiß ganz genau, was die palästinensische Flagge bei arabischen Menschen auslöst. Das zeigt, wie politisch die Fußball-WM ist und wie manipulativ Katar versucht, seine politische Agenda international durchzusetzen.
Herr Mansour, vielen Dank für das Gespräch!
- Telefonat mit Ahmad Mansour am 13. Dezember 2022