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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Leon Goretzka Der Endgegner jeder Dating-App

Nach anderthalb Jahren Pause ist Leon Goretzka zurück bei der Nationalmannschaft. Gegen Italien feiert er sein Comeback – und was für eins.
Aus Mailand berichtet Benjamin Zurmühl
"Wenn ich stürze, bleib' ich liegen, steh' ich härter auf und fliege", heißt es im Lied "Erfolg ist kein Glück" des Rappers Kontra K. Es ist das Lied, das die deutsche Nationalmannschaft seit anderthalb Jahren begleitet. Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte es zunächst beim Warmmachen der Mannschaft im Training abgespielt, doch mit der Zeit wurde die Bedeutung immer größer. Während der Heim-EM 2024 trat Kontra K sogar im deutschen Camp auf.
Leon Goretzka war bei dem Auftritt nicht dabei. Und dennoch verkörpert kaum ein deutscher Nationalspieler so sehr die Bedeutung des Liedes, in dem es um das Durchbeißen, das harte Arbeiten, das Zurückkämpfen geht. Das wieder Aufstehen und Fliegen, von dem Kontra K rappt, es passt zu dem 30-Jährigen. Goretzka kämpfte sich zunächst zurück in die Startelf des FC Bayern, dann in die des DFB. Und am Donnerstag krönte er sein Comeback im Deutschland-Trikot mit dem Siegtreffer gegen Italien.
Nach einem Eckball von Joshua Kimmich löste sich Goretzka von seinem Gegenspieler, stieg in die Luft – und köpfte den Ball ins italienische Tor. In dieser 76. Spielminute war das Giuseppe-Meazza-Stadion in Mailand bis auf den Gästeblock ruhig. Ein erlösender Moment für die Mannschaft, den Trainer und ganz besonders für Goretzka.

18 Monate voller Rückschläge
Anderthalb Jahre sind vergangen, seit Leon Goretzka letztmals bei der Nationalmannschaft dabei war. Er erlebte die enttäuschenden Freundschaftsspiele gegen die Türkei und Österreich, die die EM-Euphorie unter den deutschen Fans auf ein Allzeittief brachten. Das Länderspieljahr 2024, das auch ohne EM-Titel zum Erfolg wurde, verpasste er komplett. Im runderneuerten DFB-Kader war der Name Leon Goretzka nicht dabei. In der Startelf bevorzugte Nagelsmann Toni Kroos und Robert Andrich im defensiven Mittelfeld. Und für die Rolle als Herausforderer auf der Bank sah der Bundestrainer andere Spieler als geeigneter an. Die Heim-Europameisterschaft musste Goretzka von zu Hause aus verfolgen. Dabei hatte er bis zum Ende alles dafür getan.
In der Saisonvorbereitung 2023 setzte ihn der damalige Bayern-Trainer Thomas Tuchel meist auf die Bank, wünschte sich öffentlich einen neuen Spieler für das defensive Mittelfeld, sprach von einer "Holding Six". Goretzka akzeptierte das, dachte aber nicht an einen Wechsel. Statt die Flucht zu ergreifen, gab er im Training Gas, blieb professionell und fokussiert. Das zahlte sich aus. Der zentrale Mittelfeldspieler war fast die komplette Saison über Stammspieler beim FC Bayern, für die EM reichte es dennoch nicht.
Und als wäre das verpasste Heimturnier nicht schon schlimm genug, war er beim FC Bayern erneut außen vor. Tuchels Nachfolger Vincent Kompany nahm Goretzka nicht zum DFB-Pokalspiel nach Ulm mit. Der Belgier setzte lieber auf das spielerisch stärkere Duo Joshua Kimmich/Aleksandar Pavlović. Dass für Goretzka keine Rolle vorgesehen war, bestätigte Sportvorstand Max Eberl damals indirekt im ZDF-Interview: "Wir haben einfach einen sehr, sehr guten Kader. Die Spieler wissen, dass ihre Situation schwierig sein kann. Das haben wir ganz klar kommuniziert." Gleichzeitig fügte Eberl an: "Er (Goretzka, Anm. d. red.) hat einen Vertrag, Bayern München akzeptiert alle Verträge." Darauf vertraute auch Goretzka selbst. Während ihm andere zu einem Wechsel rieten, war für ihn klar: Ich kämpfe mich (wieder) zurück.
Ein Anruf als Belohnung
Für das Comeback brauchte Goretzka aber vor allem Geduld. Der gebürtige Bochumer musste bis zum 9. November warten, ehe er wieder in der Startelf des FC Bayern stand. Weil Aleksandar Pavlović verletzt fehlte, Konrad Laimer als Rechtsverteidiger gebraucht wurde und João Palhinha zwei Spiele binnen weniger Tage in den Knochen hatte, durfte Goretzka neben Joshua Kimmich im Mittelfeldzentrum ran.
Er machte seine Sache gut und empfahl sich für weitere Einsätze. Inzwischen ist der 30-Jährige aus der Startelf der Bayern kaum wegzudenken, begann unter anderem in beiden Achtelfinalspielen gegen Bayer Leverkusen in der Champions League. Im Rahmen dieser Partien reflektierte der Nationalspieler seine bisherige Saison: "Ich denke in der Tat, dass es etwas schwierig anfing – das hat jeder gesehen. Ich habe versucht, weiter dranzubleiben und meinen Job zu machen." Die Belohnung folgte mit dem Anruf des Bundestrainers.
Da Julian Nagelsmann bei seinem Kader darauf achtet, dass die Spieler bei ihren Vereinen auch viel spielen, bekam Goretzka gegen Italien am Donnerstag sogar den Vorzug vor Robert Andrich, der seit einem Jahr nahezu gesetzt war in der DFB-Startelf. Dessen Bankrolle in Leverkusen wurde ihm nun aber zu Verhängnis.
Das "Swipe-Leben" als Hindernis
Goretzka nutzte seine Chance, Nagelsmann bescheinigte ihm in der ARD eine "herausragende Leistung". Auf der Pressekonferenz hob der Bundestrainer dann noch mal seinen starken Charakter hervor und stellte nach einer Nachfrage einen ungewöhnlichen Vergleich auf: "Es ist generell immer ratsam im Leben, nicht immer alles gleich hinzuwerfen. Wir werden durch dieses Swipe-Leben dazu gebracht, schnell etwas Neues zu machen, wenn das Alte nicht so gut ist."
Mit dem "Swipe-Leben" bezog sich Nagelsmann unter anderem auf Dating-Apps, wo Nutzer andere Personen angezeigt bekommen und mit einem Swipe in die eine Richtung ihr Interesse, und mit einem Swipe in die andere Richtung ihr Desinteresse signalisieren können. So arbeiten sich manche Nutzer in Sekunden von Profil zu Profil. In Nagelsmanns Bild ist Leon Goretzka der Endgegner einer solchen Dating-App. Er wischt nicht einfach zur nächstbesten Lösung, sondern bleibt hartnäckig und kämpft für das, was er will.
Eine Eigenschaft, von der alle etwas lernen können. Auch jüngere Spieler, meint Nagelsmann: "Ich gehe als F-Jugendspieler zum Fußballtraining, dann regnet es am Mittwoch und ich höre auf, mache lieber einen Hallensport. Es kann auch nächsten Mittwoch regnen, aber irgendwann scheint auch wieder die Sonne. Leon hat bewiesen, dass es sich lohnt, einfach dranzubleiben und Täler zu durchschreiten und sich aus den Diskussionen herauszuhalten. Das war der cleverste Move von ihm, dass er sich da nicht ständig geäußert hat, was es auch nicht besser macht."
Dieser klare Fokus, gepaart mit der inneren Entschlossenheit und der Ruhe nach außen, haben Goretzka wieder zurück dahin gebracht, wo er hinwollte. Jetzt gilt es für den 30-Jährigen, diesen Biss – und den Platz in der Startelf bei Bayern und dem DFB – nicht zu verlieren. Denn dann stehen die Chancen auf eine Teilnahme an der WM im nächsten Jahr, sofern sich Deutschland dafür qualifiziert, gut. Erfolg ist nun einmal kein Glück.
- Eigene Beobachtungen
- Teilnahme an der Pressekonferenz des DFB nach dem Spiel gegen Italien
- t-online.de: "FC Bayern: Leon Goretzka hofft auf die EM – 'Werde jede Rolle annehmen'"
- t-online.de: "FC Bayern: Viel Lob für Goretzka – 'Er ist ein Kämpfer'"
- sport1.de: "Goretzka bricht sein Schweigen"