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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.DFB-Elf zittert gegen Italien Nagelsmann hat alles durcheinandergebracht

Deutschland dreht gegen Italien groß auf – und spielt doch nur Unentschieden: Für t-online-Kolumnist Stefan Effenberg kein Widerspruch. Der Ex-Nationalspieler erklärt, was ihn an der Partie gewundert hat – und welche Aktion fatal für das deutsche Spiel war.
Eine Befürchtung drängt sich mir auf: Man könnte sich blenden lassen vom Auftritt der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien. Denn Deutschland hat gegen den viermaligen Weltmeister zwar 90 Minuten sehr, sehr guten Fußball gespielt – aber nur, wenn man Hin- und Rückspiel zusammenrechnet. Beim 2:1 in Mailand am vergangenen Donnerstag war es die zweite Halbzeit, nun am Sonntag beim 3:3 in Dortmund die erste.
Und daher ist jetzt ganz wichtig, dass sich Bundestrainer Julian Nagelsmann und sein Team besonders von diesen wirklich herausragenden ersten 45 Minuten im Signal Iduna Park nicht täuschen lassen. Denn natürlich war das außergewöhnlich, was wir da von der Nationalmannschaft gesehen haben – vielleicht war es sogar das Beste seit dem 7:1 über Brasilien im Halbfinale der WM 2014. Damals wie heute hatte man dieses Gefühl, irgendwie im falschen Film zu sein bei diesem Rausch, in den sich die DFB-Elf da spielte.
Aber man darf auch nicht vergessen: Das, was Italien im ersten Durchgang gezeigt hat, war andererseits einfach extrem schlecht. Deutschland hat den Gegner permanent unter Druck gesetzt, mit hohem Pressing und starker Verteidigung in der Vorwärtsbewegung. Diese Unordnung vor dem 0:2 aus ihrer Sicht, das darf solch international erfahrenen Spielern nicht passieren. Es hat mich sehr gewundert, dass sie sich bei einer Standardsituation dermaßen unkonzentriert in Diskussionen miteinander verwickelt haben – und Ball und Spielgeschehen dabei komplett aus den Augen verloren haben. Das war Tiefschlaf hoch zehn. Für die sonst defensiv so disziplinierten Italiener war das extrem untypisch. Ich bin mir sicher: Dieser Anfängerfehler wird ihnen nicht noch einmal passieren.
Man konnte ihnen die Unzufriedenheit ansehen
Was die Italiener dann aber nach der Pause gezeigt haben, war auch beeindruckend. Nach dieser desolaten ersten Halbzeit so zurückzukommen – das spricht für den Charakter der Mannschaft, für ihre Qualität und auch für ihren Trainer Spaletti. Sie haben es geschafft, nach einem 0:3 zurückzukommen und die Deutschen dabei richtig in Verlegenheit zu bringen.
Allerdings gab es auch einen Bruch im deutschen Spiel: Die drei Wechsel, die Nagelsmann in der 63. Minute vornahm, stellten den Verlauf der Partie komplett auf den Kopf. Leon Goretzka, Angelo Stiller und Leroy Sané gingen vom Platz, dafür kamen Nadiem Amiri, Pascal Groß und Karim Adeyemi. Ich finde, man konnte den dreien ansehen, dass sie nicht glücklich darüber waren, schon nach einer Stunde aus der Partie genommen zu werden. Nagelsmann erklärte nach Spielende zwar, Goretzka habe Oberschenkelprobleme gehabt, Stiller wiederum sei wegen Gelb-Rot-Gefahr ausgewechselt worden. Es mag den Bundestrainer ehren, dass er so umsichtig ist.
Aber er brachte mit diesen Änderungen – und den zwei zusätzlichen Wechseln in der 77. Minute – das Mannschaftsgefüge komplett durcheinander. Bis dahin nämlich hatte das hervorragend funktioniert, besonders das Duo im Mittelfeldzentrum aus Goretzka und Stiller. Die beiden waren hauptverantwortlich für die Stabilität und den Rhythmus im deutschen Spiel. Gleich beide Sechser auf einmal auszuwechseln, das habe ich so auch noch nicht erlebt. Mir war deshalb sofort klar, dass dann Souveränität und Kontrolle weg sein würden. Und deshalb kamen sie dann auch tatsächlich in solche großen Schwierigkeiten. Das war der Knackpunkt in der Partie.
Ich bin mir sicher: Wenn Goretzka und Stiller auf dem Platz geblieben wären – oder zumindest einer von beiden –, hätte die deutsche Mannschaft nicht derart die Kontrolle über das Spiel verloren. Denn gerade in dieser Phase der Partie, in der die Italiener ja erst kurz zuvor das 1:3 erzielt hatten, wäre dieser stabilisierende Faktor dringend nötig gewesen.
Kimmich nimmt seine Position an
Deshalb hat dieses Spiel vom Sonntag ein nicht unwesentliches Manko für mich – trotz des Erfolgs, dass man nun im Final Four der Nations League steht und damit auch eine absolut machbare Gruppe in der WM-Qualifikation erwischt hat, mit vier statt fünf Gegnern.
Und auch im Hinspiel in Mailand war übrigens längst nicht alles perfekt. Zwar legte die DFB-Elf nach der Pause deutlich zu, drehte das 0:1 in ein 2:1 und gewann auch verdient. Aber: Italien hatte in der ersten Spielhälfte durchaus Chancen, höher in Führung zu gehen.
Insgesamt haben Nagelsmann und die Mannschaft also doch noch einige Arbeit vor sich. Ich hoffe, dass sie aus diesen beiden Partien lernen. Es klingt eigentlich einfach: Sie müssen es schaffen, die Leistung aus der zweiten Halbzeit in Mailand und die Leistung aus der ersten Halbzeit in Dortmund zu kombinieren. Und dann sind sie schon auf einem richtig guten Weg.
Ich muss an dieser Stelle auch noch Joshua Kimmich herausheben. Er hat in diesen beiden Spielen Verantwortung übernommen, als Vorbereiter geglänzt, war Elfmeterschütze. Er nimmt seine Position an und füllt diese auch herausragend aus, wird seiner Rolle als Mannschaftskapitän gerecht. Er ist ganz wesentlicher Teil einer Achse, die Nagelsmann jetzt finden muss – und da sollte er nicht mehr groß experimentieren. Er weiß, was er an seinen Spielern hat.
Auch Stiller hat gezeigt, dass er ein unglaublich ballsicherer Spieler ist, der Ruhe ausstrahlt, das Spiel stabilisiert – für mich ist die Kombination aus Stiller und Goretzka die Doppel-Sechs, auf die Nagelsmann künftig setzen sollte. Der Bundestrainer wird auch gemerkt haben, dass er da schon eine Formation zusammen hatte, die funktioniert.
Das erwarten auch die Fans
Mit Portugal wartet im Halbfinale der Nations League in München nun ein sehr namhafter, hochkarätig besetzter Gegner auf Deutschland. Zwar sah die DFB-Elf in den letzten Duellen stets sehr gut aus, verlor zuletzt bei der EM 2000 ein Aufeinandertreffen – also vor nun 25 Jahren. Aber es ist eine technisch enorm beschlagene Mannschaft, gespickt mit Ausnahmespielern. Da ist die deutsche Mannschaft auf keinen Fall der klare Favorit, das wird ein spannendes Duell.
Das Erreichen des Final Four indes gestaltet den Spielplan im Sommer noch mal enger – denn nur kurze Zeit später startet die Klub-WM in den USA, an der auch der FC Bayern und Borussia Dortmund teilnehmen. Nagelsmann hat bereits angekündigt, bei seinen Nominierungen darauf keine Rücksicht nehmen zu können. Und das ist völlig richtig so. Schließlich ist der Anspruch, mit der bestmöglichen Mannschaft aufzulaufen und zu gewinnen – das erwarten auch die Fans.
Es kann nicht sein, vor Monaten noch den Titel in der Nations League als Ziel auszugeben – und dann aber mit einer zweiten Mannschaft anzutreten. Das darf Nagelsmann nicht machen, und das weiß er auch.
Es geht schließlich auch noch um etwas anderes: Die deutsche Mannschaft muss diese neu entfachte Euphorie, die schon mit den ersten Spielen unter Nagelsmann zurückgekehrt ist, aufrechterhalten – im besten Fall sogar noch weiter anfachen. Die Fans sind nach einigen Jahren der Entfremdung längst wieder mit dabei. Sie sehen eine Mannschaft, die Spaß hat, die Spaß macht, die einen Plan hat, die in sich stimmig ist. Dafür sind der Bundestrainer und seine Spieler verantwortlich. Das ist ihr Auftrag. Bisher haben sie ihn sehr gut erfüllt. Auch wenn zum Start ins Länderspieljahr noch nicht alles gepasst hat.
- Stefan Effenberg ist Botschafter des FC Bayern München und sagt dazu: „Ich repräsentiere den FC Bayern, insbesondere im Ausland. Mein Engagement hat keinen Einfluss auf meine Kolumnen bei t-online. Hier setze ich mich weiterhin kritisch und unabhängig mit dem Fußball auseinander — auch und insbesondere mit dem FC Bayern.“