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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Fußball-Weltmeister Geschlagen, geboxt, in den Kopf gebissen – die Akte Boateng
Schon wieder stand Jérôme Boateng in diesen Tagen vor Gericht. Es ist das nächste Kapitel einer langen Akte. Wie konnte es dazu kommen?
Geschlagen, geboxt, in den Kopf gebissen, auf den Boden geschleudert, üble Beleidigungen. Hier geht es nicht um einen Boxkampf oder einen Actionfilm. Das alles sind Vorwürfe, die Jérôme Boateng von seiner Ex-Lebensgefährtin vor Gericht gemacht worden sind. Boateng, dem Weltmeister von 2014, mehrmaligen deutschen Meister, Champions League-Sieger – kurz: dem Helden vieler Fußballfans.
- Schlammschlacht in München: So lief der Prozess gegen Jérôme Boateng
Schon 2021 standen sich Boateng und seine Ex-Freundin erstmals vor Gericht gegenüber, weil es im Juli 2018 bei einem Urlaub auf den Turks- und Caicosinseln zwischen beiden heftig geknallt haben soll. Boateng soll "gezielt und mit voller Wucht" unter anderem eine Glaslaterne nach seiner damaligen Freundin geworfen und sie als "Hure, Fotze und Schlampe" bezeichnet haben. Das sagt Staatsanwältin Stefanie Eckert. Boateng soll außerdem gebrüllt haben: "Hast du es wieder einmal geschafft, du Nutte. Hast den ganzen Urlaub versaut."
Boateng bestritt alle Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden. Aussage stand gegen Aussage. Am Ende wurde er 2021 dennoch verurteilt, wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Das Amtsgericht München verhängte eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30.000 Euro, also 1,8 Millionen Euro – der höchstmögliche Tagessatz.
Es war jedoch nur der Auftakt eines wahren Gerichtsmarathons. In zweiter Instanz wurde das Urteil im Oktober 2022 auf 60 Tagessätze und insgesamt 1,2 Millionen Euro korrigiert. Nur, damit dieses Urteil im vergangenen Jahr dann wieder aufgehoben und das Verfahren wegen schwerer Verfahrensfehler komplett neu aufgerollt werden musste. Im vergangenen Juli verurteilte das Landgericht München I Boateng dann zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen in Höhe von 5.000 Euro – und diese Strafe muss er auch nur zahlen, wenn er innerhalb eines Jahres erneut Straftaten begehen sollte.
Und dennoch steht die Frage im Raum: Wie konnte das passieren? Wie ist aus einem Fußballstar ein mutmaßlicher Frauenschläger geworden, jemand, der anscheinend die Kontrolle verliert, wenn es zu Differenzen kommt?
Jérôme Boateng ist behutsam im Berliner Stadtteil Charlottenburg aufgewachsen, im Gegensatz zu seinem Halbbruder Kevin-Prince Boateng, der im rauen Wedding aufwuchs. Mit 18 Jahren macht Jérôme sein erstes Bundesliga-Spiel für Hertha BSC. Er wechselt zum Hamburger SV, wo seine Karriere langsam richtig in Fahrt kommt. Nach seiner ersten WM 2010 wechselt er zu Manchester City nach England, ein Jahr später für 13,5 Millionen Euro zum FC Bayern. Ab diesem Zeitpunkt beginnt eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Er wird mehrmals deutscher Meister, Pokalsieger, gewinnt die Champions League, wird Weltmeister 2014. Er wird geliebt, reitet auf einer einzigen Erfolgswelle.
Nach der WM 2018 wird es sportlich turbulenter. Ein Wechsel nach Paris zerschlägt sich, er wird von Ex-Bundestrainer Jogi Löw aus der Nationalmannschaft aussortiert. Bei den Bayern steht er schon auf dem Abstellgleis. Erst unter Hansi Flick findet er zurück in die Spur, wird wieder Stammspieler – trotzdem verlängern die Bayern seinen im Sommer 2021 auslaufenden Vertrag nicht. Als ablösefreier Spieler ist er begehrt, aber ein Wechsel nach Spanien oder zurück zu Hertha BSC zerschlägt sich. Später unterschreibt er bei Olympique Lyon, dann bei US Salernitana und dem Linzer ASK.
Flucht aus Deutschland?
Weg aus Deutschland, weg von den ganzen Turbulenzen der letzten Monate. Doch ganz so einfach ist es nicht. Erst der Prozess, der ihn in ein ganz anderes (nicht sportliches) Rampenlicht stellt. Und dann ist da noch der Tod von Boatengs Ex-Freundin Kasia Lenhardt, der die Menschen seit Februar 2021 beschäftigt. Eine junge Frau, 25, die den öffentlichen Druck, Hetze und Mobbing nicht mehr aushalten konnte und sich Anfang Februar das Leben nimmt, am Geburtstag ihres kleinen Kindes.
2018 lernen sich das Model und Boateng kennen. Es beginnt eine wahre "Liebes-Odyssee", die turbulente Reise eines Liebespaares. Manche würden es wohl auch eine On-Off-Beziehung nennen. Immer wieder wird das anscheinende Glück gestört, es grätschen mehrere Frauen und Affären Boatengs dazwischen. Der "Spiegel" schreibt von einer "toxischen Beziehung mit tragischem Ende".
Denn: Auch Kasia Lenhardt und Jérôme Boateng zoffen sich scheinbar des Öfteren, auch zu Handgreiflichkeiten soll es gekommen sein. Im Oktober 2019 soll es zum Beispiel in einem Hotelzimmer gekracht haben. Der "Spiegel" berichtet aus Chatauszügen zwischen Kasia Lenhardt und einer Ex-Lebensgefährtin Boatengs, in denen Kasia Lenhardt von "lauter Blutergüssen" schreibt. "Überall." Dazu schickte sie ein Bild von ihrem Unterarm mit einem blauen Fleck mit.
Anzeige erstattete sie demnach nicht, das übernahm eine dritte Person. Seit gut drei Jahren laufen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München dazu. Neue Erkenntnisse sind wohl nicht mehr zu erwarten. Gut möglich, dass dieses Verfahren eingestellt wird.
Dann ist da noch das Interview von Jérôme Boateng mit der "Bild". Die Überschrift: "Meine Ex wollte mich zerstören." Boateng erzählt von Alkoholmissbrauch und Erpressung, er spricht davon, nur mit dem Model zusammen gewesen zu sein, weil sie ihm gedroht habe, ihn und seine Karriere zu zerstören. Ein Statement von Kasia Lenhardt gibt es dazu nicht. Nur Boateng kommt zu Wort. Danach beginnt eine einzigartige Hetzjagd in den sozialen Netzwerken auf sie, der sie offenbar nicht mehr standhalten konnte. Eine Woche nach Erscheinen des Interviews nimmt sich Kasia Lenhardt das Leben.
Danach ist es Jérôme Boateng, auf den sich in den sozialen Netzwerken gestürzt wird. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, durch sein Interview eine direkte Mitschuld am Tod der jungen Mutter zu haben. Auch die Mutter der verstorbenen Kasia Lenhardt sieht das wohl so: Sie verklagt Boateng ebenfalls, will, dass er für die Aussagen aus dem "Bild"-Interview eine Unterlassungserklärung abgeben muss. Das Urteil des Berliner Kammergerichts entschied nun in zweiter Instanz gegen Mutter Lenhardt. Die Aussagen seien "nicht derart schwerwiegend", dass sie untersagt werden müssten, so der Richter. Trotzdem wirft auch dieser Fall einige Fragen auf: Musste diese Beziehung so beendet werden, in aller Öffentlichkeit? Wie ist das Verhältnis zwischen Stars, ihrer Selbstwahrnehmung und der Macht, die sie haben und bereit sind, auszuüben?
Boateng hat allein bei Instagram über neun Millionen Follower. Fans, die alles verfolgen, was der Fußballstar dort preisgibt. Unter anderem auch die Trennung von Kasia Lenhardt, die sich wiederum über ihren Instagram-Kanal danach geäußert hatte, ihre Sicht der Dinge schildern wollte – am Ende jedoch schien es ein aussichtsloser Kampf zu sein, obwohl auch sie Zuspruch von vielen Seiten bekam.
Machtmensch Boateng
Der "Spiegel" schreibt, dass Personen aus Boatengs Umfeld ihn als Machtmenschen beschreiben. Er dulde keinen Widerspruch, wolle, dass die Dinge nach seinen Vorstellungen laufen, heißt es. Dazu habe er ein Problem mit der Wahrheit, erzähle von einer Geschichte gerne mehrere Versionen, um Menschen gegeneinander auszuspielen.
Fußball ist ein Milliardengeschäft, selbst die Jüngsten verdienen hier schon Gehälter, von denen "normale" Arbeitnehmer nur träumen können. Selbst die einfachsten alltäglichen Aufgaben werden Profifußballern abgenommen. Werbeverträge über eine Millionensumme abzuschließen, ist für Stars, wie auch Jérôme Boateng einer ist, kein Problem. Die Fans himmeln einen an, Frauen werden zu Groupies. Verlockungen, wohin das Auge blickt.
Wer da nicht eine gefestigte Selbstwahrnehmung hat und das Geschäft als eine Art Spiel wahrnimmt, kann ganz schnell abdriften und sich in einer Parallelwelt befinden, in der man selbst von sich glaubt, über den Dingen zu stehen.
- Eigene Recherche
- Transfermarkt.de: Profil von Jerome Boateng
- Spiegel.de: "Warum wollte Kasia Lenhardt sterben?" (Bezahlartikel)
- rnd.de: "Streit, Sudelstorys und ein Suizid: Der tiefe Fall des Jérôme B."
- Mit Material der dpa