Ramos, DNA und ein Stinkefinger Remis bei Barca: Real Madrid feiert seinen Mythos
Aus Barcelona berichtet Florian Haupt
Als die Teams aufs Feld kamen, grüßte sie ein riesiges Plakat von der Gegengerade: "Welcome to the Catalan Republic". Auch die Politik spielt ja immer mit, wenn der FC Barcelona und Real Madrid im spanischen Clásico aufeinandertreffen.
Beobachtet von hunderten Millionen Menschen in aller Welt und 98.500 Zuschauer in Europas größtem Fußballstadion Camp Nou – darunter diesmal auch Weltmeistertrainer Joachim Löw, der von der Ehrentribüne mit dem Handy fotografierte, wie außerdem durch ein imposantes Mosaik in Barcas Klubfarben der Folklore genügt wurde.
Giftiges und hässliches Spiel
Danach freilich gab es Ungewohntes zu sehen, und das bestand nur am Rande darin, dass sich die Spieler der auf allen Ebenen verfeindeten Rivalen zum Andenken an die verstorbene Fußballmannschaft von Chapecoense gemeinsam zum Mannschaftsfoto aufstellten. Mit den Freundlichkeiten war es nach dem Anpfiff nämlich schnell vorbei. Es entwickelte sich vielmehr besonders in der ersten Halbzeit ein giftiges, bisweilen hässliches Fußballspiel, das sich vom Clásico-Standard vor allem in einem unterschied: dieses 1:1 erreichte nur sehr vereinzelt das gewohnte Niveau.
Last-Minute-Ausgleich für Real
Barcelona, seit Wochen in der fußballerischen Identitätskrise, kann es derzeit nicht so wie in großen Tagen; und bei Real Madrid ist man sich trotz einer Serie von jetzt 33 Spielen ohne Niederlage immer noch nicht ganz sicher, ob es nicht einfach bloß unverschämtes Glück hat. Oder eben ob "wieder mal das Herz dieser Mannschaft hervorzuheben ist", wie ihr Trainer Zinédine Zidane betonte. Jedenfalls egalisierten die Hauptstädter erst in der Schlussminute durch Sergio Ramos das Führungstor der Katalanen von Luis Suárez (53. Minute).
Mehr Fouls als Finessen
Beide Treffer fielen per Kopf, beide nach Freistoßflanken – passend zu diesem Spiel, das mehr Fouls als Finessen hatte und in Andrés Iniesta nur einen Virtuosen: der Regisseur durfte bei seinem Comeback nach sechs Wochen Verletzungspause zwar nur die letzte halbe Stunde mitmachen, sorgte in der aber für eine Klarheit in Barcas Fußball, die vorher nicht mal zu erahnen gewesen war. Mit zwei seiner besten Ideen spielte er je einmal Neymar und einmal Lionel Messi frei; die beiden Superstars konnten seine Geistesblitze jedoch nicht veredeln.
Wo die erste Halbzeit mit leichten Vorteilen für Madrid geendet hatte, ging die zweite relativ deutlich an Barca. Nur in den letzten Minuten befiel die Hintermannschaft der Katalenen eine seltsame Panik, als ob sie noch stärker an den Mythos vom unkaputtbaren Real glauben würde als dieses selbst. Wobei vor allem bei Sergio Ramos an diesem Glauben kein Mangel herrscht. Der Kapitän und Innenverteidiger von Real hat die Seinen schon mehrfach in letzter Minute erlöst; am berühmtesten 2014 im Champions-League-Finale, als sein Kopfball den Ausgleich gegen den Stadtrivalen Atlético und damit den Titelgewinn nach Verlängerung ermöglichte. Wie damals servierte ihm nun wieder Luka Modric den Ball; gegen den wuchtigen Abschluss war Marc-André ter Stegen wohl auch in den Augen von Löw und seinem ebenfalls mitgereisten Torwarttrainer Andi Köpke chancenlos.
Anweisung des Trainers missachtet
Dass man diesen Ramos, zweifelsohne einer der besten Kopfballspieler der Welt, so tolerant zur Tat schreiten lassen konnte, war eines der Rätsel, über die sich die Barcelona-Fans beim Verlassen des Stadions den Mund fusselig redeten – wegen eines Ausrutschers von Javier Mascherano im Strafraum war indes Pech dabei gewesen. Trainer Luis Enrique lenkte die Aufmerksamkeit denn auch auf eine frühere Station der Handlungskette – das unnötige Einsteigen von Arda Turan gegen Marcelo, das zu Madrids Freistoß geführt hatte: "Meine Anweisung war eigentlich ganz klar", so der Trainer: "Keine Fouls, erst recht nicht gegen einen Spieler mit dem Rücken zum Tor."
Turan wird erneut zum Buhmann
Logisch, angesichts der gefürchteten Lufthoheit der Madrilenen. Nur Turan hatte offenbar nicht richtig hingehört. Der Türke spielt seit seinem Transfer von Atlético Madrid vor anderthalb Jahren zwar kaum mal von Beginn an, hat es aber trotzdem schon zu einer Art Clásico-Seuchenvogel gebracht hat. Bei seinem ersten Einsatz im Prestigeduell verbaselte Barca vorigen April nach seiner Einwechslung eine 1:0-Führung zu einem 1:2. Nun wurde er in 14 Minuten auf dem Platz erneut zum Buhmann.
Real fühlt sich als moralischer Sieger
Umgekehrt hätte man natürlich auch fragen können, warum der 1,91 große Real-Verteidiger Raphaël Varane vor dem 1:0 das Kopfballduell gegen den zehn Zentimeter kleineren Suárez verlor – und vor allem warum Torwart Keylor Navas auf der Linie geblieben war, obwohl die Flanke von Neymar durch den Fünfmeterraum flog. Aber das waren letztlich nur Randaspekte, denn natürlich fühlte sich Real nach dem späten Ausgleich als moralischer Sieger.
Rechtsverteidiger Dani Carvajal streckte den Zuschauern im Torrausch den Stinkefinger entgegen (wofür er sich später entschuldigte) und die Real-Spieler ließen sich wie schon im April halbnackt zum Jubelfoto in der Umkleidekabine ablichten. Mittendrin natürlich: Cristiano Ronaldo, in lasziver Denkerhaltung. Zumindest sein Faible für die Pose haben ihm auch die jüngsten Veröffentlichungen zu seiner Steuermoral noch nicht ausgetrieben.
Ob er für eventuelle Delikte dereinst ähnlich belangt wird wie Messi (21 Monate Haft auf Bewährung), bleibt abzuwarten. In der Währung des Fußballs, der Tabelle, bleibt sein Real fürs erste weiter sechs Punkte vor Barcelona. "Ein beträchtlicher, aber nicht definitiver Vorsprung", wie Ramos analysierte.
"Auf den Tisch zu hauen", wie Real-Ersatzverteidiger Nacho im Vorfeld gehofft hatte, sprich: ein Signal der Überlegenheit zu senden, wurde in der Tat verpasst. Eine derartiger Schlag war noch vor zwei Wochen beim 3:0-Auswärtssieg über das schon um neun Punkte abgehängte Atlético Madrid gelungen. Doch damals griff auch noch Gareth Bale an. Reals bester Offensivspieler im ersten Saisondrittel hat sich mittlerweile schwer verletzt und fehlte wie Toni Kroos; der dafür wieder einsatzfähige Karim Benzema präsentierte sich erschreckend schwach.
Zidane mit dem Punkt zufrieden
Auch Trainer Zidane hatte eigentlich nicht seinen besten Tag. Seine Einwechslung des Defensivabräumers Casemiro beim Stand von 0:1 für den durchaus überzeugenden Kreativspieler Isco wäre ihm ohne das späte Glück jedenfalls gehörig um die Ohren geflogen. So jedoch konnte er sich mit seinem Lieblingssatz verabschieden: "Wir sammeln weiter Punkte."
Nichts anderes hat Real Madrid nach nur einem Ligatitel in den letzten acht Jahren im Sinn. Die Meisterschaft muss her, egal wie, trotz aller Verletzten, und dafür wird natürlich auch weiter bis zur letzten Minute gekämpft, versprach Ramos: "So wie es die DNA unseres Vereins verlangt."