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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wegbegleiter über Robert Enke "Ich habe zehn Monate mit einem toten Freund gelebt"
Am Tag von Robert Enkes Suizid telefonierte Ronald Reng noch mit ihm. Mit t-online spricht der Autor 15 Jahre später über den tragischen Tod seines Freundes – und erinnert sich an die schwere Zeit danach.
Vor 15 Jahren stand die Fußballwelt von einem Moment auf den anderen still. Der Tod von Robert Enke, der sich am 10. November 2009 an einem Bahnübergang in der Nähe von Hannover das Leben nahm, erschütterte sogar die Menschen über die deutschen Landesgrenzen hinaus. Der Torhüter des damaligen Bundesligisten Hannover 96 litt an Depressionen, die er bis zu seinem Suizid vor der Öffentlichkeit geheim hielt – und auch vor seinem langjährigen Wegbegleiter Ronald Reng.
Der Autor hatte noch wenige Stunden vor Enkes Tod mit ihm am Telefon gesprochen und ahnte dabei nichts von der Erkrankung des Sportlers. Im Interview mit t-online erinnert sich Ronald Reng nun an den letzten gemeinsamen Moment mit seinem Freund. Außerdem berichtet der 54-Jährige, wie er nach Enkes Suizid in dessen Gedanken- und Gefühlswelt eintauchte und welche schwerwiegenden Folgen das für ihn ganz persönlich hatte. Ein Gespräch über das zunächst Unbegreifliche, das anschließende Verstehen und einen Menschen, der nicht hätte sterben müssen.
t-online: Herr Reng, 15 Jahre ist Robert Enkes Suizid in diesem November her. Denken Sie aktuell viel an Ihren Freund?
Ronald Reng: Ich denke immer viel an ihn. Die Gedanken kommen mir im November genauso wie im Januar oder im Mai, zu Hause beim Abspülen oder unterwegs beim Fahrradfahren. Irgendetwas zu Robert fällt mir immer ein, zum Beispiel, wie er und ich einst in Teneriffa gemeinsam auf der Hafenmauer saßen. Manchmal treffe ich auch seine alten Kollegen, wie René Adler oder Thomas Hitzlsperger. So bleibt Robert in kleinen Momenten das ganze Jahr über präsent.
Kommen Sie nach all den Jahren heute gut mit dem Verlust von Robert Enke zurecht?
Es heißt immer so schön: Zeit heilt alle Wunden. Für mich ist das bezüglich Robert nicht ganz falsch. Mittlerweile ist es mit deutlich weniger Schmerz verbunden, an ihn zu denken. So schrecklich das im ersten Moment klingen mag: Es ist normal geworden, an ihn zu denken und zu wissen, dass er nicht da ist. In meinem Kopf rede ich noch immer oft mit Robert – und wenn ich mich mit seiner Mutter, seiner Schwester oder seiner Frau Teresa treffe, dann sprechen wir auf sehr unverkrampfte Art über unsere gemeinsame Zeit.
Zur Person Robert Enke
Robert Enke (*1977; † 2009) war ein deutscher Nationaltorhüter. Für die DFB-Elf absolvierte er zwischen 2007 und 2009 acht Länderspiele, galt als designierte Nummer eins für die Weltmeisterschaft 2010, ehe er sich im November 2009 das Leben nahm. Der langjährige Torhüter von Hannover 96 litt an schweren Depressionen. Von seiner Krankheit wussten nur seine engsten Vertrauten.
Was für Erinnerungen kommen in diesen Gesprächen hoch?
Eher die schönen als die traurigen Momente. Wir erzählen uns Anekdoten wie jene, als Robert bei Benfica Lissabon spielte und einmal beim Essen im Restaurant als Vorspeise Käse auf den Tisch gestellt bekam. Das gehört in Portugal zum Service. Robert kannte es aber noch nicht, also sagte er panisch zum Kellner: "Das haben wir aber nicht bestellt!" Es sind diese kleinen Alltagsbanalitäten, über die wir heute noch reden – und es sind in der Regel lebendige und fröhliche Erinnerungen an Robert.
Am Tag seines Suizids haben Sie noch mit Robert Enke telefoniert. Sie hatten ihn damals am frühen Nachmittag im Auto erreicht.
Ich erinnere mich noch an seinen letzten Satz an mich: "Ich ruf dich zurück." Dann hat er in meiner Wahrnehmung zufrieden aufgelegt, denn in dem Moment ging es ihm nur darum, mich loszuwerden.
Wie bitte?
Sie haben mich richtig verstanden. Robert war hörbar irritiert, dass ich am Apparat war. Ich hatte ihn damals per Skype aus Barcelona angerufen, deshalb konnte er im Auto meine Nummer nicht sehen. Als ich anrief, dachte er wohl, es ist Teresa in der Leitung, denn wenn sie von zu Hause anrief, erschien die Nummer ebenfalls nicht auf dem Display. Nur deswegen ist er letzten Endes überhaupt rangegangen.
Sie sagten mal, er habe in diesem Gespräch gehetzt gewirkt.
Er klang für mich, als fühlte er sich von mir in diesem Moment gestört. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt ja noch nichts von Roberts Depressionen. Später habe ich gelernt, was für eine Belastung es in einer tiefen Depressionsphase für den Betroffenen ist, überhaupt ein Telefonat zu führen. Die Depression verzerrt seine Wahrnehmung so sehr, dass er fühlt, nichts mehr zu schaffen, nicht einmal mit einem Freund zu reden.
Was meinen Sie damit, wenn Sie von einer "verzerrten Wahrnehmung" sprechen?
Eine Depression ist eine Stoffwechselkrankheit. Dabei sind verschiedene Funktionen im Gehirn für den Moment eingeschränkt, zum Beispiel funktionieren die Neurotransmitter nicht richtig. Das wiederum führt dazu, dass die eigene Wahrnehmung des Betroffenen extrem verzerrt ist. Er kann die Dinge nicht mehr positiv sehen. Aus dieser negativen Weltansicht folgt dann auch oft ein Angstdenken: Ich kann nichts mehr. Ich mache nur noch Fehler. Meine Beine sind Streichhölzer.
Gedanken, die auch Robert Enke hatte.
Ja, das waren klassische Symptome seiner Krankheit. Wobei Robert nur für sehr kurze Phasen seines Lebens unter Depressionen litt. War er gesund, dann war er ein äußerst stressresistenter Sportler, frei von Ängsten. Es ist dabei auch wichtig, dass wir in diesem Kontext zwei entscheidende Dinge nicht miteinander vermischen.
Die da wären?
Angststörung oder auch krankhafter Stress auf der einen Seite und Depressionen auf der anderen sind zwei unterschiedliche psychische Krankheiten, so wie ein Bänderriss und ein Knochenbruch verschiedene physische Leiden sind. In einem Beruf mit hohem Druck wie dem Profifußball kann es öfter zu krankhaften Stresserscheinungen kommen. Der ehemalige Nationalspieler Per Mertesacker hat zum Beispiel davon berichtet, wie ihm der Stress vor Spielen so auf den Magen schlug, dass er sich übergeben musste. Das hat aber nichts mit Depressionen zu tun. Depressionen treten – ähnlich wie Krebs – in jedem Alter, in jedem Beruf, in jeder Schicht, in jedem Land auf. Die Vorstellung vieler Menschen, der hohe Druck mache Profifußballer besonders anfällig für Depressionen, ist falsch. Robert wäre nach meiner Einschätzung auch als Lehrer oder Buchautor anfällig für Depressionen gewesen, weil er eine Prädisposition dafür hatte.
Seine Depression hat Robert Enke über Jahre verheimlicht, nicht nur vor Ihnen. Er hatte vor allem Angst davor, seine Karriere beenden zu müssen, wenn er sich mit der Krankheit an die Öffentlichkeit wendet. Wäre das heute anders?
Da bin ich mir sicher. Das Paradebeispiel dafür ist doch Andrés Iniesta, einer der weltbesten Fußballer der jüngeren Vergangenheit, der seine Erkrankung 2018 öffentlich gemacht hat. Er hat es geschafft, mit ihr zu leben und trotzdem im Fußball leistungsfähig zu sein. Solche Beispiele gab es zu Roberts Zeit aber nicht. In Deutschland war da nur der Fall Sebastian Deisler – und der hat wegen der Depression seine Karriere beendet. Heutzutage hätte Robert es Iniesta sicherlich gleichgetan. Die Behandlung wäre ihm dann auch leichter gefallen und vielleicht wäre er heute sogar noch am Leben.
Wie haben Sie reagiert, als Sie von seinem Suizid erfahren haben?
Ich bin aus allen Wolken gefallen, denn ich hatte zu diesem Zeitpunkt ja noch überhaupt kein Verständnis von Depressionen. Ich wusste beispielsweise nicht, dass bei einem schweren Verlauf der Krankheit Suizidgedanken dazukommen können, weil der Stoffwechsel im Gehirn des Betroffenen nicht richtig funktioniert und er aus seiner abgrundtiefen Niedergeschlagenheit und dieser verzerrten Wahrnehmung heraus auf den falschen Gedanken kommt, er werde diese Krankheit nie mehr los – und deshalb Suizid begeht. Das war für mich alles unbegreiflich.
Speziell auch noch mal vor dem Hintergrund, dass Sie an jenem Abend doch eigentlich den eingangs erwähnten Anruf von Robert Enke erwarteten?
Diese zeitliche Nähe zwischen unserem Telefonat und Roberts Tod machte das Ganze auf jeden Fall noch viel schwerer zu verstehen. In den ersten Wochen danach habe ich mich dann auch nicht wirklich mit seiner Krankheit beschäftigt, habe das von mir weggeschoben – aus dem Schock heraus, dass er nicht mehr da ist, dass er nicht mehr am Leben ist. Erst nach einiger Zeit wollte ich alles verstehen, wollte wissen, was mit Robert passiert ist.
Sie tauchten in der Folge tief in Robert Enkes Leben ein, schrieben seine Biografie "Ein allzu kurzes Leben", sprachen dafür mit seiner Familie und seinen alten Weggefährten und durchforsteten seine Tagebücher. Wie war es für Sie, sich so kurz nach dem Suizid Ihres Freundes in seine Gedanken- und Gefühlswelt zu begeben?
Ambivalent. Es war erst einmal ein riesiges Geschenk, dass ich mit all diesen Menschen über Robert reden durfte und das Puzzle seines Lebens Teil für Teil zusammensetzen konnte. Am Ende waren die Interviews nicht einmal mehr Interviews, sondern einfach stundenlange Gespräche über Robert, aber auch über das Leben.
Ich habe mich in meinem eigenen Schmerz, in der unverarbeiteten Trauer in diese Aufgabe hineingestürzt.
Ronald Reng über seine Arbeit an der Enke-Biografie
Doch es gab für Sie auch eine Schattenseite dieser Arbeit.
Unbewusst war das alles auch eine große Belastung für mich. Ich habe mich in meinem eigenen Schmerz, in der unverarbeiteten Trauer in diese Aufgabe hineingestürzt, habe mich 16 Stunden am Tag mit Roberts Leben und seinem Tod beschäftigt. Es gab nichts anderes als ihn und dieses Buch. Ich habe im Grunde zehn Monate mit einem toten Freund gelebt. Erst hinterher ist mir aufgefallen, wie bitter ich in dieser Zeit war. Da war ich sicherlich auch kein guter Umgang für andere Leute, wie meine Frau oder meine nächsten Freunde.
Was hat Sie bei der intensiven Auseinandersetzung mit Robert Enkes Krankheit am meisten mitgenommen?
Wie sehr der Zufall darüber entscheidet, ob ein Mensch unter schweren Depressionen überlebt oder Suizid begeht. Roberts Ableben war kein schicksalhafter Tod. Eine Depression ist keine zwanghaft tödliche Krankheit, wie so manche Krebsart. An besagtem Novembertag 2009 hätte es somit tausend kleine Zufälle geben können und Robert hätte sich das Leben nicht genommen. Er hätte vielleicht nur irgendjemandem begegnen müssen, hätte möglicherweise Panik gekriegt und von seinem Plan abgelassen. Oder jemand hätte einfach früher gemerkt, dass er unterwegs ist, um Suizid zu begehen.
Trotz des tragischen Endes: Was hat Sie im Nachhinein an Robert Enkes Umgang mit der Krankheit beeindruckt?
Er hatte eine für ihn typische Selbstironie, die sich besonders in den Phasen zeigte, in denen er aus seiner Depression herauskam. Robert hat sich selbst auf den Arm genommen, nannte sich in seinen eigenen Gedichten "Robbie mit dem kaputten Kopp". Er hatte die Gabe, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Nicht einmal in solch schwierigen Lebenslagen.
Sie selbst sind im Rahmen der Robert-Enke-Stiftung in den Nachwuchsleistungszentren der Profivereine sowie an Schulen unterwegs, klären mit Ex-Profi Martin Amedick über Depressionen auf. Stoßen Sie bei jungen Menschen auf viel Verständnis für die Krankheit und ihre Ursachen?
Ich habe zumindest den Eindruck, dass die jungen Leute dem Thema mit einer größeren Offenheit und Neugier als frühere Generationen begegnen. Dass psychische Erkrankungen wie Depressionen leider zum Leben dazugehören, ist bei vielen jungen Menschen bereits auf natürliche Art und Weise im Bewusstsein verankert – auch bei etlichen Spielern in den Nachwuchsleistungszentren. Das zeigt sich bei unseren Vorträgen immer wieder.
Zur Person
Ronald Reng (*1970) ist Sportjournalist und Autor. Er lernte Robert Enke Anfang der 2000er während seiner Zeit in Spanien kennen, als der Torwart im benachbarten Portugal für Benfica Lissabon spielte. Von da an verband die beiden eine Freundschaft. Nach Enkes Tod schrieb Reng mithilfe von dessen Witwe Teresa die Biografie "Ein allzu kurzes Leben". Das Buch, das Enkes Kampf gegen die Depressionen beschreibt, wurde unter anderem in Großbritannien als "William Hill Sports Book of the Year" ausgezeichnet, dem renommiertesten Sportbuchpreis der Welt.
Die Stiftung hat sich seit ihrer Gründung 2010 zu einem deutschlandweit anerkannten Netzwerk mit einer Vielzahl an Helfern im Kampf gegen die Depression entwickelt. Wie würde Robert Enke reagieren, wenn er das heute sehen könnte?
Er würde wahrscheinlich staunen und lachend den Kopf schütteln. Dann würde Robert seine Frau Teresa necken, welche die Stiftung aufgebaut hat. Er würde sie "Frau Präsidentin" nennen und schließlich mit einem großen Lachen, ohne Worte zeigen, wie sehr er sich über all das hier freut.
Hinweis: Falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.
- Telefongespräch mit Ronald Reng