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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der FC Bayern und die drängende Frage Im Fall Tuchel gibt es ein Umdenken
Der FC Bayern hat die nächste Niederlage kassiert. Jetzt rückt Thomas Tuchel in den Fokus. Die Bayern-Bosse reden Klartext.
Aus Rom berichtet Julian Buhl
Thomas Tuchel konnte es anscheinend nicht glauben, was er da sah. Er schlug beide Hände vors Gesicht und schüttelte nur noch den Kopf. Es war eine alarmierende Szene, die in der 56. Minute des Achtelfinalhinspiels des FC Bayern in der Champions League bei Lazio Rom auf der Trainerbank zu beobachten war. Denn das, was der Chefcoach in diesem Moment ausstrahlte, waren pure Ratlosigkeit und Verzweiflung.
Der finale Auslöser dafür war ein Missverständnis zwischen Leon Goretzka und Joshua Kimmich, der einen Fehlpass spielte. Der Ball landete im Seitenaus. Es war nur der vorläufige Höhepunkt einer Anhäufung von Fehlern, derentwegen Tuchel und so mancher Beobachter im Stadio Olimpico das drohende Unheil der 0:1-Niederlage der Bayern fast schon zwangsläufig kommen sahen. Wenige Minuten zuvor war Abwehrspieler Min-jae Kim an der Strafraumkante am Ball vorbeigesprungen und hatte damit eine Großchance ermöglicht, die die Gastgeber noch ungenutzt ließen (48.).
"Das war fast schon Slapstick"
Eine Reaktion habe seine Mannschaft in der ersten Halbzeit zwar schon auf die Niederlage in Leverkusen gezeigt, befand Thomas Müller, der bis dahin lediglich mit der mangelnden Chancenauswertung haderte. "Und trotzdem war die zweite Halbzeit wieder von der Verunsicherung geprägt. Das war fast schon Slapstick, wie wir uns von einem Fehler in den anderen gebracht haben."
In der 67. Minute trat das, was sich in der gesamten zweiten Halbzeit bereits angebahnt hatte, dann auch ein. Der ehemalige Dortmunder Ciro Immobile nutzte die zunehmenden Nachlässigkeiten der Bayern-Abwehr schließlich zum 1:0-Siegtreffer per Foulelfmeter. Den hatte Dayot Upamecano am Ende einer bayerischen Fehlerkette, an der unter anderem auch Kim und Goretzka beteiligt waren, ungestüm verursacht. Und war darüber hinaus auch noch mit Rot vom Platz geflogen. Das nächste Bayern-Debakel innerhalb einer Woche war damit perfekt. Statt der erhofften Wiedergutmachung nach der 0:3-Niederlage am Samstag bei Tabellenführer Leverkusen stand am Ende die nächste Blamage in der Königsklasse gegen den Tabellenachten der Serie A fest.
Pressesprecher schreitet bei Frage eines Journalisten ein
Nachdem die Mannschaft ihren Trainer in Rom fast kollektiv im Stich gelassen hat, steht mit zunehmender Dringlichkeit die Frage im Raum, ob Tuchel noch der richtige Trainer für die Bayern ist.
Bei der anschließenden Pressekonferenz musste Tuchel sich die Trainerfrage bereits stellen lassen. Konkret wurde er gefragt, ob er nach der schwachen Leistung seiner Stars nun Angst um seinen Job habe. Tuchel antwortete ruhig, aber bestimmt, mit einem Wort: "Nein." Nachfragen, warum er noch glaube, der richtige Coach zu sein, wollte er nicht beantworten. "Sie haben eine Frage gestellt und ich habe mit Nein geantwortet. Ich würde gerne über das Spiel sprechen", sagte er, und der Bayern-Pressesprecher neben ihm unterband dann weitere Nachfragen des Reporters.
- Einzelkritik zum FC Bayern: Ein Star sieht Note sechs
Im Gegensatz zum Leverkusen-Spiel, in dem er überraschend erstmals auf eine Dreierkette gesetzt hatte, verzichtete Tuchel in Rom auf taktische und personelle Experimente. Kimmich, Müller und Raphaël Guerreiro kehrten in die Startelf zurück. Zum erhofften Erfolg führten diese Maßnahmen aber trotzdem nicht.
Mit Spannung wurde anschließend die Rede von Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen beim Mitternachtsbankett im Teamhotel der Bayern erwartet. Das Ambiente des auf dem höchsten der sieben Hügel der "Ewigen Stadt" mit Blick auf den Vatikan gelegenen, noblen Waldorf-Astoria-Hotels war eigentlich für eine rauschende Siegesparty gedacht. Die Stimmung war entsprechend ernüchternd und gedämpft, als Dreesen im Festsaal das Mikrofon ergriff.
"Römer haben uns den Schneid abgekauft"
"Die Römer haben uns in der zweiten Halbzeit den Schneid abgekauft. Da gibt es auch nichts schönzureden, das haben wir uns anders vorgestellt", sagte der 56-Jährige und richtete damit den Blick bereits nach vorn auf das Rückspiel am 5. März. Dabei erinnerte er an die Haltung der nicht anwesenden früheren Bayern-Bosse. "Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß haben immer bei einem 0:1 auswärts gesagt: 'Das ist ein Ergebnis, mit dem kann man leben. Das kannst du zu Hause noch gewinnen.'" Das sei "die Botschaft, die wir mitnehmen müssen. Unsere Mannschaft hat die Qualität", sagte er und ließ seinen Blick zu den Nachbartischen schweifen, an denen die Spieler saßen.
Tuchel, der neben Sportdirektor Christoph Freund (was dieser zum Trainer sagte, lesen Sie hier) mit Dreesen und Präsident Herbert Hainer am selben Tisch saß, hörte ihm zu. Sein Blick ging dabei aber ins Leere, die Erlebnisse dieses denkwürdigen Mittwochabends in Rom schienen offenbar noch immer in seinem Kopf zu arbeiten. Dreesen erwähnte Tuchel jedenfalls mit keinem Wort. Wohl auch, um dieses Thema in der Öffentlichkeit nicht weiter zu befeuern. Nach t-online-Informationen wird zwischen Bayerns Bossen und dem Chefcoach allerdings weiterhin miteinander und nicht übereinander gesprochen – zumindest nicht nur. Es gibt einen intensiven Austausch darüber, wie man die prekäre und zweifellos angespannte Situation gemeinsam verbessern kann. Mit einer kurzfristigen Entlassung von Tuchel ist nicht zu rechnen. Noch nicht. Spätestens nach der Saison wird die Situation allerdings neu bewertet werden müssen. Ein Umdenken, denn eigentlich war der feste Plan, dass Tuchel seinen Vertrag bis 2025 erfüllt.
"Haben einige Baustellen"
Was die Verantwortlichen beschäftigt, sind allerdings nicht nur die beiden empfindlichen Niederlagen, sondern vor allem die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind. Die Tatsache, dass Bayern in den beiden Partien in Leverkusen und Rom kaum noch Torgefahr ausstrahlte, gibt besonders zu denken. "Wir haben einige Baustellen", stellte Tuchel fest. "Am Ende hatten wir aber keinen einzigen Schuss aufs Tor. Wir haben sieben Schüsse, aber null aufs Tor." Zum ersten Mal seit neun Jahren blieb Bayern so in zwei aufeinanderfolgenden Spielen ohne eigenen Treffer.
Selbst Harry Kane, der bei einer guten Möglichkeit zu Beginn weit übers Tor schoss, scheint sich von der allgemeinen Verunsicherung der Mannschaft anstecken zu lassen. Der Starstürmer, der in 29 Pflichtspielen schon 28 Treffer geschossen hat, blieb in den vergangenen beiden Spielen nicht nur torlos, sondern war auch kaum noch ins Spiel der Bayern eingebunden.
"Müssen den Finger in die Wunde legen"
"Wir müssen den Finger in die Wunde legen und trotzdem eng zusammenbleiben", sagte Kapitän Manuel Neuer in den Katakomben des Olympiastadions.
"Wir müssen uns in die Augen schauen und uns auf dem Platz gegenseitig helfen", so Neuer: "Es bringt nichts, jetzt auseinanderzufallen. Wir sind unsere schärfsten Kritiker." Viel Zeit zur Aufarbeitung bleibt ihm und seinen Teamkollegen nicht. Am Sonntag steht in der Bundesliga das nächste Auswärtsspiel in Bochum an. "Im Moment fällt vieles einfach sehr schwer", gab Neuer zu: "Wir brauchen Erfolgserlebnisse, wir brauchen Erfolgsmomente. Es geht nur über Siege, über Tore, über Sicherheit, die du bekommst."
Auch sein Stellvertreter Thomas Müller wurde mit der Trainerfrage konfrontiert, zunächst sogar auf ziemlich ungewöhnliche Art und Weise. Müller wurde nämlich tatsächlich gefragt, ob er Tuchel entlassen würde. Der 34-Jährige hätte damit allen Grund gehabt, das Interview an dieser Stelle abzubrechen, antwortete aber dennoch.
"Ein Stück weit respektlos"
"Diese Trainer-Diskussionen könnt ihr gerne führen. Dafür sind wir Spieler die falschen Ansprechpartner", sagte Müller. Das sei allerdings "auch ein Stück weit respektlos", so der Vizekapitän. "Klar ist die sportliche Situation aktuell nicht gut und alles andere, was der FC Bayern sich vorstellt. Trotzdem arbeiten wir jeden Tag dran, wir Spieler und der Trainer auch, den Bock umzustoßen", führte er weiter aus. "Ihr könnt eure Analysen machen, aber ihr braucht nicht zu erwarten, dass wir uns selbst zerfleischen. Wir stehen zusammen und arbeiten aufs nächste Spiel hin." Die Situation bleibt jedenfalls kompliziert.
"Wir sitzen alle in einem Boot. Es ist jetzt nicht einfach, aber wir werden da gemeinsam rauskommen, das ist unser großes Ziel", sagte Sportdirektor Christoph Freund in der Mixed Zone. Er erlebe Tuchel tagtäglich, wie er mit der Mannschaft umgehe und trainiere. "Er kämpft natürlich auch mit der Situation, weil er die Mannschaft anders sehen will auf dem Platz."
In Rom war Tuchels innerer Kampf nicht zu übersehen. "Wir haben noch ein Rückspiel", sagte der Chefcoach. "Aber klar, in dem Zusammenhang mit der letzten Niederlage sieht das nicht gut aus. Trotzdem werden wir jetzt zusammenbleiben und weitermachen." Die Frage ist, wie lange das noch gut geht.
- Eigene Beobachtungen aus Rom
- Eigene Gespräche in der Mixed Zone