t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomeRegionalNürnberg

NSU-Mord in Nürnberg: V-Mann macht am Jahrestag unflätige Witze


NSU-Mord in Nürnberg
V-Mann macht am Jahrestag unflätige Witze


Aktualisiert am 08.07.2024Lesedauer: 6 Min.
Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Abdurrahim Özüdoğru: "Ich habe meinen Vater so sehr geliebt", schrieb seine Tochter.Vergrößern des Bildes
Abdurrahim Özüdoğru: "Ich habe meinen Vater so sehr geliebt", schrieb seine Tochter.

Am 13. Juni 2001 erschossen zwei Neonazis Abdurrahim Özüdoğru. Was hat ein V-Mann mit besten Kontakten in Nürnbergs rechte Szene mit dem NSU-Mord zu tun? t-online spürte ihn auf und fragte ihn.

Abdurrahim Özüdoğru, am 21. Mai 1952 in Yenişehir im Nordwesten der Türkei geboren, war ein hervorragender Schüler. 1972 erhielt der intelligente und vielversprechende junge Mann ein Stipendium, um in Deutschland Maschinenbau zu studieren.

In Erlangen lernte er seine spätere Frau kennen. Die beiden heirateten, bekamen eine Tochter. 25 Jahre lang arbeitete Özüdoğru als Metallfacharbeiter in Schichten. Er galt als freundlich und fleißig. Gemeinsam mit seiner Frau betrieb er nebenberuflich eine Änderungsschneiderei in der Nürnberger Südstadt und führte diese auch weiter, nachdem sich das Paar trennte.

Die erste Kugel trat in den Kiefer ein und durchschlug den Kopf

Bis am 13. Juni 2001 auf einmal zwei Männer in seinem Geschäft auftauchten: Einer richtete eine Ceska 83 auf ihn und schoss dem 49-Jährigen ins Gesicht. "Das Projektil drang in den Oberkiefer ein und durchschlug den Kopf", hieß es später in der Anklageschrift. "Abdurrahim Özüdoğru sank zu Boden und nahm eine sitzende Position ein." Daraufhin sei der Schütze an das Opfer herangetreten und habe aus nächster Nähe einen weiteren Schuss abgefeuert. Diesmal traf die Kugel Özüdoğru in die rechte Schläfe.

Empfohlener externer Inhalt
X
X

Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.

Die beiden Täter fotografierten die Leiche noch, dann verschwanden sie. Eine Nachbarin berichtete später, sie habe die beiden Mörder gesehen, wie sie den Laden verließen. Es waren Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die eiskalte Hinrichtung von Abdurrahim Özüdoğru war der zweite von zehn Morden, den die rechtsextremen Terroristen begingen.

Özüdoğrus Tochter: "Wir haben keine Unterschiede gemacht"

Die beiden Uwes nannten sich selbst Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und zogen eine Blutspur durch die Republik: Neben den zehn Morden gingen 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle auf ihr Konto.

Empfohlener externer Inhalt
X
X

Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.

Tülin Özüdoğru, die Tochter von Abdurrahim Özüdoğru, ließ später im NSU-Prozess einen Brief verlesen. "Dieser Mann, mein geliebter Vater, wurde in einem Erste-Welt-Land, in dem ökonomisch und technisch hochentwickelten modernen Deutschland, am Tageslicht kaltblütig, brutal und auf professionelle Weise ermordet", hieß es darin.

In einem weiteren Text, der 2014 in dem Buch "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen" erschien, erinnerte sich Tülin Özüdoğru so: "Er war ein sehr lebensfroher, fleißiger, offener Mensch. Wir hatten viele deutsche Freunde. Wir haben überhaupt keine Unterschiede gemacht. Sicher, im Alltag gab es diese kleinen Dinge, Feindseligkeiten und Diskriminierung. Doch ich hätte nie geglaubt, dass in einem so stabilen Land wie Deutschland so etwas passieren könnte."

"Ich habe meinen Vater so sehr geliebt"

Als die NSU-Terroristen ihren Vater erschossen, war Tülin Özüdoğru 17 Jahre alt. Die Tat warf sie komplett aus der Bahn. Sie brach die Schule ab, zog sich zurück und konnte sich erst später aufraffen, doch noch ihr Abitur zu machen und wie ihr Vater zu studieren. In ihrem Text schrieb sie: "Ich habe meinen Vater so sehr geliebt, dass ich schon als Zweijährige wütend mit den Füßen aufgestampft bin, wenn er spät von der Arbeit kam. Ich ertrug es nicht, auch nur Stunden von ihm getrennt zu sein. Jetzt habe ich ihn für immer verloren. Er fehlt mir sehr."

Abdurrahim Özüdoğru habe keine Feinde und mit niemandem Streit gehabt, es habe ihn auch in den letzten Tagen seines Lebens nichts beunruhigt, berichtete seine Tochter. "Deshalb haben wir schon früh geahnt, dass sein Tod etwas mit Fremdenfeindlichkeit zu tun haben könnte."

NSU: Mutmaßlich Hunderte Unterstützer

Die Polizei zog diese Möglichkeit zunächst nicht in Betracht sondern ermittelte im Umfeld der Familie und spekulierte über Drogengeschäfte. "Ich habe damals mein komplettes Vertrauen in die Menschen verloren", schrieb Tülin Özüdoğru.

Erst nachdem 2011 Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Sparkassenüberfall in Eisenach von der Polizei gestellt wurden und ihre Mittäterin Beate Zschäpe daraufhin das vorbereitete NSU-Bekennervideo mit den Fotos der ermordeten Opfer verschickte, herrschte Klarheit darüber, dass Rassisten eine zynische Mordserie verübt hatten.

Aber noch immer sind zahlreiche Fragen offen. Das Unterstützerumfeld des NSU ist nur zu geringen Teilen aufgeklärt. Es wird geschätzt, dass ihm deutschlandweit Hunderte Personen angehörten.

Welche Rolle spielt der "Mann ohne Hals"?

Nach Nürnberg hatte der innere Zirkel des NSU offenbar besonders gute Kontakte. In keiner anderen Stadt mordeten die Neonazis häufiger: Vor Abdurrahim Özüdoğru töteten die Terroristen hier am 9. September 2000 Enver Şimşek, er war das erste Todesopfer der NSU-Verbrecher. 2005 erschossen die Rechtsextremisten İsmail Yaşar. Und bereits 1999 war ein erster Mordanschlag mit einer als Taschenlampe getarnten Rohrbombe fehlgeschlagen.

Was also verband die Terroristen mit Nürnberg? Antworten darauf könnte möglicherweise ein Mann geben, den der Verfassungsschutz bis 2002 als V-Mann führte: Ralf Marschner, in der Nazi-Szene "Manole" oder aufgrund seiner Statur "Mann ohne Hals" genannt und vom Verfassungsschutz "Primus" getauft. In Zwickau, wo die ab 1998 untergetauchten und von den Behörden gesuchten NSU-Terroristen seit dem Jahr 2000 lebten, war er eine der führenden Figuren der rechtsextremen Szene. In seinen Firmen beschäftigte er zahlreiche Neonazis.

"Zu doof zum Scheißen" – aber bestens vernetzt

Den Namen "Primus" wählte das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht, weil Marschner besonders intelligent gewesen wäre. Im Gegenteil: Befragte Wegbegleiter beschrieben ihn eher als "zu doof zum Scheißen".

Sein V-Mann-Führer war dennoch angetan. Marschner sei "die einzig wirklich relevante Quelle in dem subkulturellen Bereich in den neuen Bundesländern" gewesen, sagte der Beamte dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Marschner habe viele Kontakte gehabt und "konnte berichten über die Führungsfiguren in der Szene, er konnte über Zusammensetzung von Bands berichten, welche Art von Texten gesungen werden, ob es illegale Texte waren, ob es strafbare Texte waren, und so hat er eben viele Einzelinformationen geliefert, die die Auswertung befähigt hat, in den ersten Jahren ein Lagebild zu erstellen".

Loading...
Loading...

Ist es möglich, dass dieser in die rechte Szene von Zwickau bestens integrierte V-Mann die in dieser Stadt untergetauchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe kannte – und es dem Verfassungsschutz nicht gesagt hat?

Für das Bundesamt wäre es mehr als peinlich. Und es wäre vollends eine Katastrophe, sollte sich herausstellen, dass V-Mann "Primus" vielleicht doch über das NSU-Trio plauderte – und der Verfassungsschutz nichts mit dieser Information angefangen hätte.

War Marschner sogar Arbeitgeber des NSU?

Das macht es so brisant, dass es zahlreiche Hinweise auf Kontakte zwischen Marschner und dem NSU gibt. Ein Zeuge will die beiden Uwes und Marschner zum Beispiel gemeinsam auf einem Fußballturnier gesehen haben. Den auffälligen Marschner erkannte er als "ziemlich fetten" Betreiber eines Zwickauer Naziladens wieder. Marschner habe ihn bei dem Turnier gefragt, ob er ihm eine Waffe und Munition besorgen könne.

In einem von Marschner mitbetriebenen Szeneladen soll sich zudem möglicherweise Beate Zschäpe herumgetrieben und eventuell sogar gearbeitet haben. Und in Marschners Abrissfirma soll anderen Zeugen zufolge Uwe Mundlos unter falschem Namen als eine Art Vorarbeiter beschäftigt gewesen sein – und zwar unter anderem auch auf einer Baustelle in Erlangen. Belegt ist zudem, dass Marschner beste Kontakte in die Nazi- und Hooliganszene Nürnbergs hatte.

Marschner zu t-online: "Jetzt bekomme ich leider keine Rente"

Kann es also ein Zufall sein, dass seine Abrissfirma mehrfach ausgerechnet an jenen Tagen Leihwagen gemietet hatte, an denen der NSU tötete? Und zwar auch, wie die "Welt" berichtete, am 13. Juni 2001, also an jenem Tag, an dem Abdurrahim Özüdoğru ermordet wurde?

Zumindest verdächtig ist zudem: An den Mordtagen, an denen Marschners Firma Mietwagen lieh – es handelt sich um insgesamt drei –, gab es Berichten zufolge keine Autoanmietungen unter den bekannten Aliasnamen des NSU.

Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages hat Marschner in seinem Abschlussbericht ein 150 Seiten dickes Kapitel gewidmet, und hätte den "Mann ohne Hals" neben vielen Zeugen auch gerne selbst befragt, allerdings hat sich Marschner längst ins Ausland abgesetzt. Seit 2007 ist er aus Deutschland verschwunden, aktuell lebt er in der Schweiz und betreibt dort einen Antik-Handel, mittlerweile in der Gemeinde Flums im Kanton St. Gallen.

t-online hat Marschner 2024 am Jahrestag des Mordes an Abdurrahim Özüdoğru aufgespürt und mit ihm gechattet. Am Todestag von Abdurrahim Özüdoğru antwortete Marschner jedoch nur flapsig, wurde unflätig, schickte ein Foto seines Schritts und machte sich lustig. Er sei "Chef der AfD Schweiz" und wohne "gleich neben Alice Weidel". "Leider sind meine Akten bei einem Hochwasser davon geschwommen", schrieb er. "Jetzt bekomme ich leider keine Rente."

Empfohlener externer Inhalt
X
X

Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.

NSU-Akte von Marschner in Sachsen vernichtet

Damit spielt Marschner darauf an, dass Hochwasser in den Jahren 2002 und 2010 in sächsischen Archivräumen Tausende Ermittlungsakten vernichtet hat. Dies wurde 2016 bekannt. "Nach meinen Informationen waren unter den vernichteten Beständen auch Ermittlungsverfahren zu mehreren mutmaßlichen NSU-Unterstützern", sagte damals die Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz (Linke), die zu dem Thema eine Anfrage an das sächsische Justizministrium gestellt hatte. Auch eine vom NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages angeforderte Akte zum Spitzel Marschner war darunter.

"Dieser Vorgang reiht sich irgendwie ein in den mysteriösen Schwund von Akten im Zusammenhang mit dem NSU-Netzwerk", konstatierte die Grünen-Politikerin Irene Mihalic. "Es ist schon seltsam, dass sich die reißenden Wasser gerade dieses Schriftstück ausgesucht haben."

Verwendete Quellen
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website