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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozess in Köln Fünfjährige extrem abgemagert – Arzt musste weinen
Eine 24-Jährige und ihr Ex-Partner stehen vor Gericht, weil sie eine Fünfjährige fast verhungern lassen haben sollen. Vor dem Kölner Landgericht sprach nun ein Arzt über den Zustand des Kindes.
So richtig glücklich war sie mit der Partnerin ihres Sohnes nicht: Das gab die 50-jährige Haushälterin aus der Gegend von Windeck unumwunden zu. Immerhin war die damals etwa 18-Jährige schwanger. Und dann noch die Verhältnisse! Über den leiblichen Vater des Babys war nur bekannt, dass er dieses nicht haben wollte. Die Familie der 18-Jährigen hatte sie mit Schimpf und Schande vor die Tür gesetzt. "Andererseits tat sie mir leid", so die Frau, die letztlich doch ihrem Sohn zur Seite stand, als er die werdende junge Mutter bei sich aufnehmen wollte. "Aber wenn das Kind käme, würde ich mich zurückziehen, hatte ich ihnen gesagt."
Das Leben wollte es jedoch anders. Am Tag nach der Entbindung sei sie in die Klinik gefahren, wo sie die Partnerin des Sohnes schluchzend vorfand, denn deren Mutter habe ihr telefonisch mitgeteilt: Sie hoffe, man nehme ihr das Kind weg. "Als mein Sohn mir die Kleine dann in den Arm legte, war es um mich geschehen. Er sagte: Sie hat keine Oma und keinen Opa, und ich sagte: Doch, das hat sie." Auch zu der jungen Frau, die kurz darauf ihre Schwiegertochter werden sollte, habe sie gesagt: "Ihr habt eine Familie!"
Kind spielt jetzt am liebsten "kochen"
Als die 50-Jährige nach einem bereits langen Verhandlungstag als fünfte Zeugin des Tages vor dem Landgericht Köln aussagte, schien sich der Gerichtssaal plötzlich mit Herzlichkeit zu füllen. Erneut ging es um das erschütternde Familiendrama, das voraussichtlich noch bis Ende Mai die 11. Große Strafkammer beschäftigen wird: Einer 24-Jährigen und ihrem 24-jährigen Lebensgefährten – beide derzeit in Untersuchungshaft – wird vorgeworfen, dass sie im Sommer 2020 versucht hätten, das kleine Mädchen, das 2014 unter so prekären Umständen zur Welt kam, zu ermorden – und zwar durch einen qualvollen Hungertod.
Mit vielen Anekdoten zeichnete die Nenn-Oma des Kindes ein Bild von der Kleinen: "Sie war ein freundliches Kind, man musste sie einfach liebhaben. Sie hat gerne geschmust, wollte toben, ging auf Menschen zu und hatte einen Glanz im Gesicht." Heute sei die Beschäftigung mit Essen ein sehr wichtiger Bestandteil im Leben des Kindes: "Sie spielt gerne mit ihrer Küche und bereitet den Tisch für andere. Sie bekommen von ihr immer Teller, die überfüllt sind."
Ein junger Arzt, der das extrem unterernährte Mädchen in der Kinderklinik Amsterdamer Straße betreut habe, habe mit Tränen in den Augen den Raum verlassen, nachdem er dem Mädchen ein Abschiedsgeschenk gemacht habe.
Wenig Anregungen zu Hause
"Das kleine Wesen scheint Charme zu haben", fasste daraufhin die Vorsitzende Richterin Sabine Kretzschmar, die sich sonst eher durch nüchterne Sachlichkeit auszeichnet, mit einem Lächeln zusammen. Zwei Nachbarinnen, die zeitweise mit der Angeklagten befreundet waren, beschrieben das mutmaßliche Opfer als liebenswertes Kind, dem man angemerkt habe, dass es gerne etwas mehr Aufmerksamkeit gehabt hätte. "Die Förderung hätte mehr sein können", so die eine von ihnen.
Eine andere ließ durchblicken, dass es ihrer Wahrnehmung zufolge an echten Grundlagen gefehlt habe: "Man beschäftigt sich doch mal mit seinem Kind, guckt ein Buch an und fragt: Wo ist der Hund? Wie macht der Hund? Wie macht die Katze? Aber das habe ich dort nie erlebt."
Beide Nachbarinnen räumten jedoch auch ein, dass sie sich letztlich von der Familie distanziert hätten, nachdem die Angeklagte und ihr früherer Mann sich getrennt hatten. Hintergrund sei gewesen, dass die Angeklagte sich mit einer weiteren Nachbarin angefreundet habe, die sie bis dahin alle nicht gemocht hätten – nachdem diese vergeblich versucht hatte, sich von den beiden befreundeten Nachbarinnen Geld zu leihen. "Da hatte ich das Gefühl: Ein echtes Interesse an mir ist gar nicht da", beschrieb eine von ihnen.
Nachbarin: "Erst war ich parteiisch"
Inwieweit ihre Aussagen, die ein Hintergrundbild zum jungen Leben der Kleinen gaben, geholfen haben, auch die mutmaßliche Tat einzuschätzen, ist zunächst offen. Denn, wie Verteidiger Markus Gebhardt nach der Vernehmung der ersten Nachbarin feststellte: "Zum tatrelevanten Zeitpunkt hatte die Zeugin, wie sie selbst sagte, zur Angeklagten keinen Kontakt." Zudem sei ihre Wahrnehmung offenbar beeinflusst davon, dass der Tatvorwurf überhaupt im Raum steht. So hatte die 35-Jährige zum Beispiel gesagt, dass sie "als Frau zunächst parteiisch" gewesen sei und über den Ex-Mann der Angeklagten gedacht habe: "Er ist das Problem." Jetzt sehe sie das anders.
Geldfragen scheinen immer wieder ein Thema gewesen zu sein, auch als die Angeklagte noch mit ihrem damaligen Mann zusammenlebte. Dieser, der ebenfalls am Mittwoch aussagte, gab an: "Ich arbeitete damals in Callcentern, musste mir aber immer wieder frei nehmen, weil sie mit den Kindern überfordert war." Am Ende sei es darauf hinausgelaufen, dass er arbeitslos wurde.
Immer wieder sei es seine Mutter gewesen, die unterstützend einsprang: mit Geld, Dingen für die Kinder und Einkaufsgutscheinen für Supermärkte, wie auch die 50-Jährige selbst bestätigte. Irgendwann habe aber auch sie sich ausgenutzt gefühlt – und dafür habe es ein Schlüsselereignis gegeben, schilderte sie. "Ich habe meinem Sohn gesagt: So geht das nicht, und du kannst nicht immer alles auf deine Frau schieben. Da meinte er: Dann hör mal zu."
Mit einem unbemerkten Anruf habe er es möglich gemacht, dass sie ein Gespräch zwischen den jungen Eheleuten habe anhören können, in dem ihre Schwiegertochter sagte: "Sag der blöden Kuh doch einfach, wir brauchen Windeln und Wickelauflagen. Dann gibt die Alte auch mehr Kohle."
Mädchen sollte meist im Bett bleiben
Als ein anderes "Riesenstreitthema" benannte der geschiedene Mann die Versorgung der Kinder. Immer wieder ist es in den Schilderungen der Zeugen vor allem das kleine Mädchen, das schlecht weggekommen zu sein scheint. Der etwas jüngere Sohn sei der Liebling gewesen. Die Tochter hingegen habe sich meistens im Bett aufhalten sollen – selbst dann, wenn die Mutter gerade mit ihrem Sohn spielte und der Ziehvater des Mädchens darauf drängte, dass dann wenigstens er sich um das Kind kümmern wolle. Doch die Angeklagte, die zu jener Zeit das alleinige Sorgerecht hatte, habe das häufig abgewehrt.
Mit dem neuen Partner sei dann wohl das Schicksal der damals Fünfjährigen, die in mancher Hinsicht einen schlechteren Entwicklungsstand zeigte als Gleichaltrige, noch jämmerlicher geworden. "Er sagte uns, der neue Partner fände seine Schwester zum Kotzen", erinnert sich die Zieh-Oma im Zeugenstand mit Blick auf den älteren Bruder. Auch der kleine Junge selbst habe sich in dem Klima nicht mehr wohlgefühlt: "Er schrie und weinte bestialisch, wenn er nach einem Wochenende wieder nach Hause sollte", so die 50-Jährige. Als sie die Kinder einmal zum Ausflug abgeholt habe, habe auch der Junge gleich gesagt: "Ich habe Hunger!"
Kinderarzt: "In über 30 Jahren so etwas nicht gesehen"
Kurz, aber prägnant war auch die Aussage eines Kinderarztes, bei dem die Angeklagte in Begleitung einer Mitarbeiterin des Jugendamts ihr Kind vorgestellt hatte: "Das Mädchen war extremst unterernährt. Ich bin seit über 30 Jahren Kinderarzt, aber ich habe noch nie so ein Kind gesehen – schon gar nicht in dem Alter." Unterernährung sei hierzulande sonst höchstens bei Babys ein Thema, wenn Mütter stillen wollten, aber nicht genug Milch hätten.
Anhaltspunkte für eine Erkrankung, die zu dieser Unterversorgung führen würde, sehe er nicht, so der Mediziner, der aber bat, diesbezüglich seine Kollegen aus der Klinik zu konsultieren, da er die Patienten nicht ansatzweise lange genug behandelt habe, um das beurteilen zu können.
Im Kindergarten hatte die junge Mutter die magere Statur ihrer Tochter mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit erklärt. Ob eine solche vorliegt, aber auch, ob die beiden Angeklagten die lebensbedrohliche Situation wissentlich in Kauf nahmen oder einfach falsch einschätzten, werden entscheidende Fragen im Verfahren sein.
- Besuch der Gerichtsverhandlung