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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mutmaßliche sexuelle Übergriffe "Janine war für sie ein rotes Tuch"
Gemeinsamer Musikauftritt, lustige Fotos auf dem Landesparteitag: Ein Medienbericht zu Sexismus-Vorwürfen bei der Linken hat die Partei in eine tiefe Krise gestürzt. Doch nun keimen bei der Darstellung einer Betroffenen Zweifel auf.
Sie steht auf der Bühne. Er sitzt am Piano. Sie lehnt sich an die Wand und beugt sich zu ihm herunter. Sie strahlt und singt: "And I want you, we can bring it on the floor, You've never danced like this before, We don't talk about it". Er dreht den Kopf und schaut ihr in die Augen. Die beiden wirken wie ein eingespieltes Team.
Die Sängerin heißt Hannah Maas*. Sie ist zu dem Zeitpunkt Mitglied in der Parteijugend der Linken. Der Mann am Piano heißt Jan Müller*, ist ehemaliger Mitarbeiter der Linksfraktion im hessischen Landtag und Ex-Partner der Bundesvorsitzenden Janine Wissler. Der Ort ist die Badhaus Bar in Wiesbaden. Es ist der 14. Mai 2019.
Die Harmonie trügt: Sechs Monate zuvor hat Maas den Mann am Piano wegen Körperverletzung angezeigt. Die damals 18-Jährige und der 24 Jahre ältere Müller haben vermutlich dennoch bis zum Abend in der Badhaus Bar eine Affäre. Fast drei Jahre später wird das Verhältnis der beiden durch einen "Spiegel"-Bericht bekannt.
Janine Wissler will umfassende Aufklärung der Sexismusvorwürfe
Mitte April berichtet das Magazin über mutmaßliche sexuelle Übergriffe bei der Linken in Hessen und schildert dabei auch die Geschichte von Hannah Maas.
Der Bericht stürzt die Linke in eine tiefe Krise. Denn der Vorwurf von Übergriffen in der Partei dehnt sich schnell aus. Über 60 mutmaßlich Betroffene haben sich bundesweit seitdem an die Parteijugend linksjugend solid gewandt. Die Ko-Bundesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow tritt zurück. Ein Grund, so heißt es aus Kreisen der Bundespartei soll auch die Art und Weise gewesen sein, wie der Vorstand mit den Vorwürfen umging.
Die zweite Parteichefin, Janine Wissler, bleibt im Amt und kündigt eine umfassende Aufklärung der Vorwürfe in ihrer Partei an. Doch auch auf sie ist der Druck weiter groß. Denn Jan war eine Zeitlang auch mit Wissler liiert, als diese noch Fraktionsvorsitzende in Hessen war – offenbar auch während er eine Affäre mit Hannah Maas hatte.
Wissler wusste von der Affäre. Sie bestreitet jedoch von den Vorwürfen gewusst zu haben, die Maas gegen Müller erhebt. Diese reichen laut "Spiegel" von Körperverletzung über Beleidigung und Nötigung bis hin zum Herstellen von Jugendpornografie. Müller soll die junge Frau unter anderem im Landtag in sexuellen Posen fotografiert haben.
Erste Flirtversuche auf einer Hausparty
Eine t-online Recherche zeigt nun, dass das Verhältnis von Wisslers Ex-Partner und der jungen Frau komplexer gewesen zu sein scheint als bisher bekannt ist. t-online liegen Videos, Zeugenaussagen, Chatverläufe und Screenshots vor. Die Dokumente zeichnen das Bild einer toxischen Beziehung.
Fakt ist, dass Müller ein Verhältnis mit Hannah begann, als sie 17 Jahre alt und damit noch minderjährig war. Parteifreunde rieten ihm davon ab. Sie berichteten aber auch, dass Hannah die Beziehung wollte. Maas wollte sich auf Anfrage von t-online nicht äußern.
Die Affäre zwischen Maas und dem Linken-Politiker soll im Herbst 2017 begonnen haben. Anfang 2018 fängt Maas ein Praktikum in der Stadtfraktion in Wiesbaden an. Ausgangspunkt sei eine Hausparty gewesen, sagt Müllers langjähriger Freund Leon Richter*. Dem Freund zufolge habe Maas an diesem Abend sehr massiv mit Jan geflirtet und Interesse bekundet, worauf dieser aber zunächst nicht eingegangen sein soll. Kurz danach begannen beide dann aber eine Beziehung.
Auch Lena Bauer* erfährt kurze Zeit später von der Affäre. Sie und Hannah Maas seien damals sehr gute Freundinnen gewesen, sagt sie. "Es war kurz vor ihrem 18. Geburtstag. Sie übernachtete bei mir und erzählte mir davon. Ich war geschockt und hatte damit nicht gerechnet", erzählt sie im Gespräch mit t-online in Frankfurt am Main. Zum einen sei da der Altersunterschied zwischen den beiden gewesen. Zum anderen war in der hessischen Linken bekannt, dass Müller seit vielen Jahren Wisslers fester Freund war. "Das war auch allen in Wiesbaden bekannt und kein Geheimnis. Natürlich fragte ich mich, ob das legitim ist."
Sie habe daraufhin ein "sehr kritisches Gespräch" mit Maas geführt. Doch diese schien gut vorbereitet zu sein. "Sie versicherte mir, dass diese Beziehung absolut legal sei und zeigte mir sogar entsprechende Paragraphen in Gesetzen", sagt Bauer. Lena führte nach eigenen Angaben auch mit Müller kritische Gespräche. "Ich fand es nicht gut, was die beiden machten und das sagte ich ihnen auch. Aber letztlich waren sie sich beide bewusst über ihr Verhalten", sagt Bauer.
Janine Wissler: "Ich war entsetzt über die ganze Konstellation, das Doppelleben und den großen Altersunterschied
Die Bundesvorsitzende der Linken, Janine Wissler, sagt im Gespräch mit t-online, dass sie "entsetzt" darüber war, "über die ganze Konstellation, das Doppelleben und den großen Altersunterschied." Beiden gegenüber hätte sie sehr deutlich gemacht, dass sie den Altersunterschied für "hochproblematisch" halte. Beide verwiesen darauf, dass sie volljährig seien, was auch Maas inzwischen war.
Wissler sagt auch, dass es in der Linken, wie in jeder Partei auch, Beziehungen, Ehen und Affären gebe. "Das ist die Privatangelegenheit der Mitglieder und geht die Partei und ihre Gremien nichts an, so lange dies auf Freiwilligkeit beruht, das Schutzalter nicht unterschritten ist, kein berufliches Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt oder Gewalt angewandt wird."
Die Bundesvorsitzende der Linkspartei erfährt laut "Süddeutscher Zeitung" erstmals am 16. Mai 2018 von einer mutmaßlichen Affäre. Es war die Feier zum zehnjährigen Bestehen der Linksfraktion im hessischen Landtag. Wissler erinnert sich, dass sie zum ersten Mal von einer damals 18-Jährigen angesprochen worden sei.
Die Fraktionschefin dachte erst, die junge Frau wolle ein Praktikum. Doch Hannah Maas leitete ihr Chatnachrichten weiter, die aus Wisslers Sicht eindeutig belegten, dass ihr damaliger Freund ein Verhältnis mit dieser Frau hatte.
Lena Bauer ist an diesem Abend auch im Landtag und beobachtet das Gespräch zwischen Wissler und Maas. "Ich habe Hannah danach darauf angesprochen, weil ich es so gemein Janine gegenüber fand. Ich fragte sie, warum sie das gemacht hat", sagt Bauer. Maas zeigt ihr gegenüber wenig Verständnis und antwortet ihr nicht.
Sie wollte eine Beziehung, er nicht
Im Gespräch mit t-online betont Lena Bauer, dass insbesondere Hannah sich mehr wünschte, während Müller zu dieser Zeit wohl auf Abstand ging, zumal Hannah nach und nach immer mehr Menschen von der Affäre erzählte. "Aber auch für ihn war es insgesamt mehr als nur eine Affäre, sondern eine Herzensfrage", ist Bauer überzeugt. Zwischen Müller und Maas entwickelt sich das, was man eine On-Off-Affäre nennt.
Im August 2018 schreibt Maas per Mail: "Neues Kapitel, Jan. Du hast genug gemacht, um mich von Dir wegzuziehen." Daraufhin soll er laut "Spiegel" auf den Balkon von Maas geklettert sein. Müller sagte gegenüber dem Magazin, dass sie ihn ins Haus ließ. Das sagt auch sein Freund Richter: "Jan hat mir versichert, dass er vor dem Balkon stand."
Der Freund von Müller erzählt freilich noch eine andere Geschichte: So soll Hannah mehrfach spät abends selbst vor Müller Haus gestanden haben. Auch Maas' Freundin Lena Bauer äußert Zweifel an deren Darstellung. "Er stand unangekündigt vor ihrem Balkon, aber ich kann nicht glauben, dass er gegen ihren Willen in die Wohnung eingedrungen ist. Sie hat ihn ja dann reingelassen. Zwischen den beiden lief die Affäre wieder und Hannah wohnte in einer Wohngemeinschaft. Wieso hat Hannah nicht ihre Mitbewohner zur Hilfe geholt?"
Als gesichert gilt, dass die beiden in jener Nacht miteinander schlafen. Dem "Spiegel" sagte Maas, dass sie dem Sex nur einwilligte, weil Müller sonst nicht nach Hause gegangen wäre. Maas kontaktiert Wissler per Mail und Telefon. Sie sagte ihr: "Ich drehe endgültig durch, wenn Jan nochmal nachts plötzlich auf meinem Balkon steht." Wissler erklärt, dass Maas ihr gegenüber nicht von einem "Machtmissbrauch" oder "sexuellen Übergriffen" erzählte und sie nicht aufgefordert habe einzugreifen. "Ich habe die Frau damals angerufen. Mir gegenüber wurde von keiner Seite infrage gestellt, dass dieses Verhältnis einvernehmlich war."
Am 17. November 2018 stellt Maas eine Anzeige gegen Müller wegen gefährlicher Körperverletzung. Die frühere Vertraute Bauer erfährt erst vier Jahre später davon, durch einen Instagram-Post von Maas. "Sie hat mir gegenüber nie etwas von sexualisierter Gewalt erwähnt", sagt sie.
Eine Woche, nachdem sie Müller wegen gefährlicher Körperverletzung im November angezeigt hat, fährt Maas mit Lena Bauer und Müller auf den Landesparteitag nach Gießen.
Immer wieder sagte sie zu Hannah Maas, dass sie sich keine großen Hoffnungen machen sollte
Dort erzählt sie ihrer Freundin ausführlich, wie sehr es sie ärgere, an diesem Tag Janine Wissler sehen zu müssen. "Janine war nach wie vor ein rotes Tuch für sie", erzählt Bauer. Wie so oft habe sie zu Hannah gesagt, dass sie sich nicht allzu große Hoffnungen machen sollte. Wissler und Müller waren zu dem Zeitpunkt frisch getrennt. Wissler beendete die Beziehung, nachdem sie von der Affäre erfuhr.
Bauer schildert weiter, dass die drei lustige Fotos machten. Auf einem Foto macht Müller eine Grimasse, Bauer lacht und Maas lächelt. "Am nächsten Tag fuhr ich mit beiden in meinem Auto zurück nach Wiesbaden. Die Stimmung war bestens. Wir waren noch zusammen Sushi essen", sagt Bauer. Für sie deutet zu diesem Zeitpunkt nichts daraufhin, dass die Affäre eskaliert ist.
Im Februar 2019 beenden Müller und Maas ihre Affäre. Maas schickt ihrer Freundin eine Sprachnachricht. Sie bedankt sich bei Bauer, dass sie so oft für sie und Müller als Freundin da gewesen sei. Maas erzählt ihr, dass man sich leider in gegenseitigem Einvernehmen getrennt habe und bittet Bauer darum, ein bisschen nach Müller zu schauen. "Ich kann nichts machen, um auf Jan aufzupassen und zu schauen, dass es ihm gut geht, aber ich dachte, vielleicht kann ich dich fragen, dass du nach ihm schaust."
Am 14. Mai 2019, stehen Hannah Maas und Müller gemeinsam auf der Bühne in der Badhaus Bar in Wiesbaden. Sie performen Ray Charles' Klassiker "Hit the road, Jack". Sie sieht glücklich aus. Maas schaut zu Müller, dann treffen sich ihre Blicke und er setzt zum Pianosolo an.
Wissler weist bis heute zurück, dass sie bereits vor Ende 2021 Kenntnis über Vorwürfe von sexueller Belästigung im Landesverband Hessen gehabt habe. Sie habe erstmalig zum Jahreswechsel 2021/2022 über die sozialen Netzwerke von den Vorwürfen erfahren. "Ich informierte daraufhin die Bundesgeschäftsstelle der Linken mit der Bitte, dass die Vertrauensgruppe hier tätig wird." Sie wies ebenso darauf hin, dass es sich bei dem Beschuldigten um ihren ehemaligen Lebensgefährten handeln würde.
Von Maas hat Wissler nach dem Spätsommer 2018 gut drei Jahre lang nichts mehr gehört, bis diese Ende 2021 begann, in sozialen Netzwerken gegen Wissler zu wettern. Maas behauptete einmal über Twitter, ein Vorstand der Linken habe sie gewarnt, es gebe "Tötungen aus der Partei", und ein ehemaliger Vorstand habe sie gefragt, ob sie schusssichere Kleidung habe.
Hannah Maas lehnte Beratungsangebot ab
Wie der hessische Landesvorstand mehrfach mitteilte, wurde Hannah Maas vorgeschlagen, über die Vorwürfe zu sprechen. Das belegt auch ein vertrauliches Dokument aus dem Wiesbadener Kreisvorstand. Es trägt den Titel "Handout Vorwürfe sexualisierter Gewalt" und soll als "Arbeitspapier" zu internen "Dokumentationszwecken" dienen. Darin wird aus einer Mail an Maas am 27. Januar 2022 zitiert: "Deine Vorwürfe haben uns sehr betroffen gemacht. Wir möchten gerne vorschlagen, dass wir uns zu einem Treffen zusammenfinden. Zu dem Gespräch kannst Du Vertrauenspersonen hinzuziehen."
Darauf antwortet sie einen Tag später auf Twitter: "Wie @dielinke echt glaubt, ich will jetzt über Vorwürfe reden. Über Vorwürfe wollte ich vor Jahren reden, als jeder weggeschaut hat. Jetzt will ich junge Frauen vor linken Mitgliedern, Vorständen, Politikern und Mitarbeitern schützen. #linkemetoo“.
Weder dem Landesvorstand noch dem Kreisvorstand in Wiesbaden sollen Vorwürfe sexualisierter Gewalt vor November 2021 zugetragen worden sein, heißt es aus Parteikreisen. Es gab lediglich den Vorwurf von Hannah Maas, aus der Partei gedrängt zu werden, zudem sollten ihre Daten verändert worden sein. Maas drohte damit, dies im Landtagswahlkampf öffentlich zu machen. Nachfragen und parteiinterne Recherchen ergaben aber, dass Hannah Maas lediglich ihre Mitgliedsbeiträge nicht gezahlt hatte und daher satzungsgemäß auf der "Streichliste" stand. In diesem Zusammenhang wurden auch mehrfach Gespräche mit Maas geführt.
Ende August 2021 wird Müller Vater. Vier Monate später erscheinen die ersten Instagram-Posts. Zwei von drei Anzeigen gegen Müller sind mangels Tatverdacht eingestellt worden. Bei einer dritten Anzeige wurde eine Privatklage eingereicht.
*Namen von der Redaktion geändert
*In einer ersten Version des Artikels war davon die Rede, dass alle Anzeigen eingestellt wurden. Laut Aussage der Staatsanwaltschaft Wiesbaden wurde einer der Anklagepunkte als Privatklage eingereicht. Diese Information haben wir korrigiert.
*Eine erste Version wurde wegen eines Systemfehlers versehentlich unredigiert veröffentlicht. Wir bitten dies zu entschuldigen.
- Eigene Recherchen
- Gespräche mit Lena Bauer, Leon Richter und Janine Wissler
- "Süddeutsche Zeitung": Eine Partei zerfleischt sich selbst
- "Spiegel": "Entweder, wir brechen das jetzt, oder die Partei bricht"