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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozessauftakt "NSU 2.0"-Komplex: War Alexander M. doch nicht allein?
Vor dem Prozess-Auftakt um den "NSU 2.0" bleiben für die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und die Linken-Co-Vorsitzende Janine Wissler viele offene Fragen. Übersehen die Ermittler etwas?
Seda Başay-Yıldız erinnert sich noch gut an den 2. August 2018. Es ist der Tag, an dem die Frankfurter Rechtsanwältin das erste Drohschreiben des sogenannten "NSU 2.0" erhält. "Ich war im Ausland beruflich unterwegs. Ich habe damals Sami A. vertreten, einen salafistischen Prediger. Der Fall war jeden Tag in den Medien und ich erhielt deswegen Hunderte Briefe und Mails mit Beleidigungen", erinnert sie sich im Gespräch mit t-online.
Als Başay-Yıldız abends ins Hotel kommt, sieht sie ein Fax. "Das stach aus der Masse hervor, weil meine Tochter benannt wurde und meine Privatanschrift." Sie erstattet Anzeige.
Mehr als ein Dutzend Mal wurde Başay-Yıldız mitsamt ihrer Familie in anonymen Schreiben rassistisch beschimpft, sie und ihre Tochter wurden mit dem Tode bedroht. "Du machst Deutschland nicht fertig", stand da. Namen, Wohnadresse und Geburtsdaten wurden genannt, unterzeichnet wurde stets mit "NSU-2.0".
Eine Anlehnung an die rechtsterroristische Zelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). Başay-Yıldız war im NSU-Prozess Anwältin der Nebenklage für die Familie des ersten Opfers, Enver Şimşek.
Prozess in Frankfurt: Angeklagter soll 116 Drohschreiben verfasst haben
Am Mittwoch muss sich nun der mutmaßliche Verfasser der Drohschreiben vor dem Landgericht Frankfurt verantworten. Der 53-jährige Alexander M. soll laut Anklage insgesamt 116 Drohschreiben mit volksverhetzenden, beleidigenden und drohenden Inhalten an Politikerinnen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschickt haben.
Konkret wirft die Anklage M. neben 67 Fällen von Beleidigung versuchte Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung, das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und öffentliche Aufforderung zu Straftaten vor.
Doch die Rechtsanwältin hegt große Zweifel daran, dass Alexander M. allein gehandelt haben soll.
90 Minuten bevor das erste Drohschreiben verschickt wird, werden ihre Daten und die der gesamten Familie im ersten Polizeirevier abgerufen. Damals wurde gegen Polizeibeamte ermittelt, die bis heute vom Dienst suspendiert sind.
Frankfurt: 17-mal werden die Daten von Başay-Yıldız im Polizeicomputer eingegeben
"Ich halte es für absolut ausgeschlossen, dass der Angeklagte beim ersten Revier angerufen hat, um an meine Daten zu kommen", sagt sie. Sie begründet ihre Annahme damit, dass ihre Daten 17-mal in drei verschiedenen Datenbanken eingegeben worden waren. "Wenn es so einen Anruf gegeben hätte, dann wäre mein Name einmal abgefragt worden, aber nicht mein Name und der meiner Familienangehörigen so oft."
Die letzte Drohung erhält Başay-Yıldız am ersten Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau, am 19. Februar 2021. Dieses Mal veröffentlicht der Täter ihre neue, gesperrte Adresse im Internet mit der Aufforderung, sie zu töten. "Ich war schockiert", erzählt sie. Und wieder fragt sie sich: "Wie konnte er an meine geschützte Adresse kommen?"
Staatsanwaltschaft Frankfurt: Kein Zusammenhang von rechter Chatgruppen von Polizisten und Drohbriefschreiber
Ein Zusammenhang mit der schon lange schwelenden Affäre um eine rechte Chatgruppe von Polizisten, die während der Ermittlungen zu dem Drohbriefschreiber "NSU 2.0" aufflog, ist für die Staatsanwaltschaft Frankfurt bislang nicht zu erkennen.
Im Juli 2020 setzte Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) einen Sonderermittler ein, um die Affäre aufzuklären. Nach der Festnahme des Hauptverdächtigen forderte die Polizeigewerkschaft öffentlich, sich bei den beschuldigten Polizisten zu entschuldigen. Beuth sagte damals: "Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für NSU 2.0-Drohbriefe verantwortlich."
Auch Janine Wissler hält wenig von der These des Einzeltäters. Die Co-Bundesvorsitzende der Linkspartei ist ebenfalls vom "NSU 2.0" bedroht worden. Auch ihre Daten wurden von einem Polizeicomputer abgerufen – im 3. Revier in Wiesbaden.
Linken-Vorsitzende Janine Wissler hat viele offene Fragen
"Wie konnte ein Mann mit Anfang 50 als Einzeltäter an die Daten kommen? Wie kann es sein, dass er die Daten in mehreren Revieren abfragen konnte? Und wie war es möglich, dass er später auch an die gesperrte Adresse von Seda Başay-Yıldız kam? Zufällig hat er bei der ersten Abfrage eine Polizistin getäuscht, die auch noch in einer rechten Chatgruppe war. Das finde ich merkwürdig genug."
Für die Ermittler scheinen diese Fragen zweitrangig zu sein. Sie gehen davon aus, dass der mutmaßliche Täter sich als Polizist ausgegeben hat, um so an die Daten zu kommen. Doch belegt wurde das bislang nicht.
Die frühere Fraktionschefin der Linken im Hessischen Landtag beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit rechten Strukturen. In der Regel handelten die Täter nicht allein, sagt Wissler im Gespräch mit t-online. "Wir haben in Deutschland eine vernetzte militante Neonaziszene, auf die er auch in seinen Drohmails Bezug nahm. Da stellt sich eben die Frage: Welche Verbindungen hat der Mann in Behörden, möglicherweise in die Polizeibehörden? Es ist schwer vorstellbar, dass er ganz ohne Unterstützung an die Daten gekommen ist."
Über 100 rechte Vorfälle in hessischer Polizei
Immer wieder keimten rechte Vorfälle in der hessischen Polizei auf. "Es wurden über 100 Fälle rechter Umtriebe bekannt. Das Frankfurter SEK wurde nach Bekanntwerden einer rechten Chatgruppe aufgelöst und aus dem Frankfurter Polizeipräsidium wurden Waffen aus der Asservatenkammer gestohlen", sagt Wissler.
Beuth sagte noch nach der Festnahme des Verdächtigen, man werde weiterhin Missstände in der hessischen Polizei abklopfen. Viel passiert ist seitdem nicht. Wissler sagt dazu: "Er hat eine wissenschaftlich fragwürdige Studie in Auftrag gegeben, mit dem Ergebnis, es gebe kein rechtes Problem in der hessischen Polizei."
Wissler findet es weiterhin fraglich, warum Beuth am Tag der Festnahme die Polizei pauschal entlastet habe. "Die Festnahme und die daraus folgenden Ermittlungen sind nur der Anfang und nicht das Ende von Ermittlungen."
Erst im Juli 2020, nachdem die Drohungen gegen Wissler und die Kabarettistin Idil Baydar bekannt wurden und es sich auch hier um unbefugte Polizeiabfragen gehandelt hatte, ruft Beuth eine Expertenkommission ins Leben und setzt einen Sonderermittler ein. Daneben wurden unbefugte Datenabfragen von Polizeicomputern erschwert. "Das hätte alles viel früher passieren müssen", kritisiert Wissler.
Wissler: "Die Polizei hätte viel früher Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen"
Weiter kritisiert die Linken-Chefin: "Zwischen der ersten bekannten Datenabfrage am 2. August 2018 und der letzten im März 2020 liegen eineinhalb Jahre. Es war also eineinhalb Jahre möglich, offensichtlich Daten abzufragen, ohne hundertprozentig festzustellen, wer die Daten abgerufen hat. In dieser Zeit hätte die Polizei bereits Sicherheitsvorkehrungen treffen können", sagt Wissler.
Seit der Festnahme des Angeklagten scheint der Eindruck entstanden zu sein, dass sich für das Innenministerium und den Sicherheitsbehörden die "NSU 2.0"-Affäre damit erledigt hat. "Ich hoffe nicht", sagt Wissler. "Da fehlt mir ein bisschen der Einblick, welche Ermittlungen laufen oder nicht. Es ist ja klar, dass es sich hierbei nicht um die Mehrheit der Polizisten geht. Aber auch wenn es nur 0,1 Prozent sind – jeder rechtsradikale Polizeibeamte ist ein riesiges Problem. Weil sie Zugriff auf hochsensible Daten und Waffen haben. Deswegen muss man jedem Verdacht nachgehen."
Für die Rechtsanwältin Başay-Yıldız bleiben weitere Fragen offen: "Was passiert mit den suspendierten Polizisten? Wird man sie aus dem Dienst entfernen? Mein Kind wurde bedroht und ich rassistisch beleidigt", sagt sie. Die Inhalte aus den rechten Chatgruppen seien menschenverachtend. "Wenn diese Polizisten aus den Chatgruppen in den Dienst zurückkehren sollten, dann sagt das alles über die hessische Polizei aus."
Başay-Yıldız: "Hessen ist ein gefährliches Pflaster"
Das zu Hause sei immer ihr Rückzugsort gewesen, erzählt Başay-Yıldız. "Doch das ist es seit dreieinhalb Jahren nicht mehr." Es habe Leute gegeben, die ihr Haus von allen Seiten fotografierten. "Ich habe ein kleines Kind, ich habe eine Familie. Ich bin viel unterwegs und mache mir dann schon große Sorgen. Vor allem seit dem Mord an Walther Lübcke und dem Anschlag von Hanau bin ich sehr nervös geworden."
Hessen sei "ein gefährliches Pflaster" und habe einen Innenminister, der "nicht richtig agiert". "Schlimm ist, dass ich das Gefühl habe, die Rolle der Polizei wird nicht aufgeklärt. Bis nicht klar wird, wie die bei der Polizei abgerufenen Daten in das Drohschreiben gekommen sind, fühle ich mich nicht sicher."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Seda Başay-Yıldız
- Gespräch mit Janine Wissler
- Bericht aus der "Süddeutschen Zeitung"
- Bericht aus der "Frankfurter Rundschau"
- Chronologie zum NSU 2.0 vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND)