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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Macht Putin platt!" Pussy Riot feiern Comeback in Berlin
Pussy Riot sind zurück. Nach dreijähriger Pause bestritten die russischen Feministinnen in Berlin den Auftakt ihrer Deutschland-Tournee. Ihr Auftritt vermittelte dem Publikum einen Einblick in ein tiefes Trauma.
Die Revolution kommt eine halbe Stunde zu spät. Sie hat blonde Locken und das Gesicht eines Engels, aber ihre Wut reicht, um 800 Menschen in einen Zustand zu versetzen, der sich nur schwer in Worte fassen lässt. Die Revolution rüttelt auf. Sie schürt Wut. Sie versetzt die Menschen mit einem pumpenden Beat, verstörenden Bildern und Botschaften an der Wand in einen Zustand der Hypnose. Die wichtigste Botschaft bekommt frenetischen Applaus: "Macht Putin platt." – "Crush Putin!"
Ein Fabriksaal auf dem Funkhaus-Gelände am Spreeufer. Maria Aljochina, Motor und Gesicht der russischen Punkband Pussy Riot, weiß, wie man das Publikum fesselt. Zusammen mit einer Handvoll Männer und Frauen steht sie auf der Bühne und erzählt ihre Lebensgeschichte.
Pussy Riot: Kritik an Putin und der orthodoxen Kirche
Es geht um Widerstand und Verhaftung, um die Flucht vor der Polizei und das Leben im Untergrund, um Nächte in der Einzelzelle und den Horror im Arbeitslager. Man kennt diese Bilder. Man hat sie alle schon mal in den TV-Nachrichten gesehen. Unvergesslich der nur 40-sekündige Auftritt der Pussy Riots in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2012 in Moskau. Damit fängt die Geschichte dieser feministischen Revolution an.
Aljochina und drei Freundinnen stürmen die Kirche mit einer E-Gitarre unterm Arm, die Gesichter versteckt hinter bunten Wollmützen. Sie sprechen ein "Punk-Gebet", um gegen die Nähe der orthodoxen Kirche zu Putin zu protestieren. "Gottesmutter, Jungfrau, werde Feministin!" Wegen "Hooliganismus, motiviert durch religiösen Hass," werden sie zu zwei Jahren in einer Strafkolonie verurteilt. Der Auftritt macht sie schlagartig weltbekannt.
Prominente Kollegen wie Peter Gabriel und Madonna setzen sich für sie ein. Vielleicht ist es diese Öffentlichkeit, die ihnen das Leben gerettet hat. Mit ihrer Hilfe gelingt es ihnen, bessere Haftbedingungen für sich zu erkämpfen.
Pussy Riot: Kreml-Kritiker der ersten Stunde
In einer Zeit, als die Regierungschefs im Westen dem russischen Präsidenten noch den roten Teppich ausrollten und immer mehr Öl und Gas bei ihm bestellten, setzten sie schon ihr Leben aufs Spiel, um die Welt vor dem "Imperator" zu warnen. Aber erst an diesem Abend in Berlin bekommt man eine Ahnung davon, welche Krater und Verwüstungen dieser Kampf in ihrer Seele hinterlassen hat.
Die Botschaften sind wie Blitzlichter. "Regel Nr. 8: SIM-Karte vernichten." – "Ein Hungerstreik ist wie die erste Liebe." Oder: "Schönheit wird die Welt retten." Maria Aljochina, eine studierte Journalistin, habe diesen Satz aufgeschrieben, als sie in einer Einzelzelle saß und gespürt habe, wie es Frühling wurde.
Konzert, Performance, Videoshow. Das Programm ist nicht neu, die Band ist damit schon um die ganze Welt getourt. Nur den Anti-Kriegs-Song "Butschaaa" haben sie für ihre Deutschland-Tournee geschrieben. Es ist eine Hommage an die Kinder des Kriegs. Bilder zeigen verstörte Gesichter und Trümmer.
Berliner Ärzte bestätigen Giftangriff auf Pussy-Riot-Akteur
Von der ursprünglichen Besetzung von sind nur noch Aljochina und Gründerin Diana Burkot dabei. Pussy Riot ist noch immer ein feministischer Künstlerverband, aber inzwischen gehören ihm auch Männer an. Einer von ihnen hat es auch hierzulande zu trauriger Berühmtheit gebracht: Pjotr Wersilow. Im September 2018 retteten Ärzte in der Berliner Charité sein Leben.
Wersilow konnte kaum noch sprechen, sehen oder sich bewegen, nachdem er in einem Moskauer Gericht etwas gegessen hatte. Die Ärzte sind sicher, dass ihm dasselbe passiert ist wie drei Jahre später Russlands berühmtestem Oppositionellen, Alexej Nawalny. Er wurde vergiftet.
Hausarrest für Nawalny-Proteste
In den vergangenen drei Jahren ist es jedoch still geworden um Pussy Riot. Die Revolution musste pausieren. Gezwungenermaßen. Erst Corona, dann Hausarreste und am Ende der Krieg. Wer sieht, mit welcher Energie diese zierliche Frau mit der dunklen Stimme jetzt den Saal in Berlin rockt, kann sich gut vorstellen, wie schwer die vergangenen Monate für sie waren. Sieben Monate lang war sie in der Wohnung eingesperrt, nachdem sie gegen die Inhaftierung Nawalnys protestiert hatte.
Der Ort ihrer Kindheit, er wurde zum Gefängnis. Sie war dort eingesperrt zusammen mit ihrer Mutter, ihrem 14-jährigen Sohn und dessen Vater, zwei Fesseln an den Füßen. "Man wird fast verrückt", hat sie in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" gesagt.
Flucht vor der Strafkolonie
Als die Behörden ankündigten, die Freiheitsbeschränkung in einen mehrwöchigen Aufenthalt in einer Strafkolonie umzuwandeln, beschloss sie, zu fliehen. Der Gulag, er war ihr Albtraum. Sie war ja schon einmal dort gewesen. Sie wusste, was sie erwartet. Sechs Tage Arbeit pro Woche, zehn bis zwölf Stunden am Tag, für drei Euro im Monat. "Das ist Sklaverei", hat sie im Interview mit Bild-TV gesagt.
Die Geschichte ihrer Flucht ist abenteuerlich. Sie besorgt sich eine grüne Uniform. Verkleidet als Mitarbeiterin eines Essenslieferdienstes verlässt sie das Haus durch einen Hintereingang. Es klingt wie aus einem Spionageroman. Eine Freundin fährt sie zur belarussischen Grenze. Über Vilnius und Reykjavik führt sie die Flucht nach Berlin.
Russische Oppositionelle sind in Berlin nicht allein
Es ist gute PR für den Auftakt zu ihrer Deutschland-Tournee. "Ein schlauer Move", sagt der Security-Mann, der sich vor dem Eingang des Konzertortes aufgebaut hat. Er grinst. Eine kurzrasierte Frau in schweren Stiefeln läuft an ihm vorbei, ein Rentner-Ehepaar und ein Mittfünfziger mit Lederjacke und Stirnglatze: Dmitriy Bagrash. Punk, sagt er, sei nicht seine Musik. "Und ganz ehrlich: Wäre nicht Krieg in der Ukraine, ich wäre nicht hier." Da geht es ihm wie den meisten Besuchern. Den Namen Pussy Riot kennen sie nur aus den Medien. Sie wissen nicht, was sie an diesem Abend erwartet.
Dmitriy Bagrash lebt seit 1992 in Deutschland. Zusammen mit anderen oppositionellen Exil-Russen hat er einen Verein gegründet: "Unkremlin e.V.". Seine Botschaft ist die Botschaft von Pussy Riot: "Stoppt Putins Terror!" Schon im April 2021 hatten sie ein Camp vor dem Brandenburger Tor aufgebaut, um für die Freilassung von Alexej Nawalny zu protestieren, das nächste ist für Ende Mai geplant, diesmal gegen den Krieg.
Oppositionelle sicher: Kreml auch in Berlin tätig
Bagrash bewundert Maria Aljochina und ihre Mitstreiterinnen für ihren Mut. "Was sie gemacht haben, ist lebensgefährlich." Der Arm des Diktators, da ist er sicher, reicht bis nach Berlin. Im Januar sei sein Smart nachts in Flammen aufgegangen. Er sagt, das sei wohl der Preis, den er für sein politisches Engagement zahlen müsse.
"Die Ukraine muss den Krieg gegen Russland gewinnen." Deshalb ist er heute hier, um Solidarität zu demonstrieren. Pussy Riot appellieren an ihr Publikum, für die Ukraine zu spenden. Ihre Mitglieder gehen mit gutem Beispiel voran. Der Erlös des Konzertes gehe an ein Kinderkrankenhaus in der Ukraine, für die "Kinder der Helden", sagen sie.
Nachwirkungen von Pussy-Riot-Auftritt vermisst
Der Verkauf von Postern, T-Shirts und Büchern boomt. Viele Besucher nehmen ein Souvenir mit nach Hause. Sie sind tief beeindruckt von dem Auftritt. "Geile Performance", sagt ein Mittdreißiger. Aber das mache gute Kunst eben aus. "Sie entsteht, wenn Menschen ihr Trauma verarbeiten."
Der Krieg als popkulturelles Happening, als Konsumprodukt, ex und hopp? Tim Lüdde sagt, der Abend hinterlasse einen schalen Nachgeschmack. Er würde sich wünschen, dass Pussy Riot Menschen motivieren könnten, sich politisch zu engagieren. "Was bleibt denn von so einem Abend übrig?" Eine gute Frage. Draußen vor der Tür geht das Leben weiter. Sie sterbe vor Hunger, stöhnt eine junge Amerikanerin, die mit ihren Freunden gekommen ist. "Was wollen wir essen: Sushi, Burger oder Pizza?"
- Eigene Recherchen