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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neonazis sollen Schüler gejagt haben "Ich bin um mein Leben gerannt"

Im Osten von Berlin soll ein Schüler von Neonazis verfolgt worden sein. Er ist besorgt wegen des Vorfalls, zieht aber auch viel Kraft aus der Solidarität seines Umfelds.
Der 16-jährige Schüler Leon W. kann sich noch genau an die Vorkommnisse aus der Nacht auf Samstag, den 8. März, erinnern. Zehn bis fünfzehn mutmaßliche Neonazis haben ihn und zwei seiner Freunde nach seinen Angaben in Hohenschönhausen durch eine Straße gejagt. W., der seinen Nachnamen nicht publizieren möchte, sieht den Auslöser dafür in seinem Engagement für Demokratieprojekte in der Schule.
Den Vorfall beschreibt W. so: Er habe sich kurz vor Mitternacht mit Freunden treffen wollen. Als er das Haus verließ, hätten ihn drei Personen angestarrt. Er habe daraufhin seine zwei Freunde gebeten, ihn abzuholen. Gegen 0 Uhr gingen sie demnach zusammen auf die Straße. Mit ihren Fahrrädern hätten die drei Jugendlichen nach Weißensee fahren wollen. Doch an der ersten Straßenecke hätten die drei Männer wieder gestanden. Kurz darauf seien zehn weitere Personen dazu gekommen – laut W. alle voll vermummt. "Die sind auf uns zugestürmt und haben angefangen, etwas zu schreien", sagt der 16-Jährige im Gespräch mit t-online.
"Gleichzeitig liefen im Kiez irgendwo noch Nazis herum"
Die Jugendlichen hätten die Flucht ergriffen. W. sei die Kette seines Fahrrades abgesprungen. Er habe dadurch laufen müssen. "Ich bin um mein Leben gerannt", so der 16-Jährige. Auf und an dem Gelände ihrer ehemaligen Grundschule hätten die mittlerweile getrennten Jugendlichen Schutz gesucht und die Polizei gerufen. W. selbst habe mit einem Freund auf der einen Seite der Grundschule gestanden, während sich sein anderer Freund im Gebüsch versteckte. "Gleichzeitig liefen im Kiez irgendwo noch Nazis herum, die teils gefühlt doppelt so alt und doppelt so breit waren wie wir", sagt er.
Die Polizei bestätigt auf Nachfrage, dass es in dieser Nacht gegen 1 Uhr einen solchen Einsatz gegeben hat. Per Notruf hätten drei Personen angegeben, von zehn bis fünfzehn Personen verfolgt und bedroht worden zu sein. Es seien Anzeigen unter anderem wegen des Verdachts der Bedrohung eingegangen. Die Behörde habe vor Ort Personalien und der Staatsschutz die Ermittlungen aufgenommen. Nähere Informationen machte die Polizei nicht.
W., politisch linksorientiert, sieht den versuchten Angriff als Reaktion auf sein Engagement auf dem Grünen Campus in Malchow. An der Schule besucht er die elfte Klasse. Dort betreibe er viel politische und demokratische Arbeit. So habe er unter anderem eine Vollversammlung zu Demokratiefragen mitorganisiert, in der auch die AfD hinterfragt wurde. "Darauf hatten Mitschüler an unserer Schule, die eher rechts sind, kein Bock", sagt W. Auch ist diesen Personen laut W. bekannt, dass er sich auf Demonstrationen gegen die AfD bewege. W. habe sich nach eigenen Angaben dadurch bereits vor dem versuchten Angriff ins Zielfeld der mutmaßlichen Neonazis begeben.
So seien unter anderem Flyer mit seinem vollen Namen und mit seiner Handynummer verteilt worden. Ein Bild davon liegt t-online vor. Auf dem Zettel steht: "kennen sie diesen links radikalen" [sic!]. Außerdem sei W.'s Name auf seinem Schulweg mit Graffiti gesprüht worden – mit dem Zusatz "Verrecke".
- Rechte Aufmärsche in Berlin: Gründet sich eine junge, neue Naziszene?
"Ich glaube, die Rechten haben Angst, dass wir durch unsere Arbeit in der Schule ihr Rekrutierungsfeld für Jungkader wegnehmen", sagt W. "Die radikale Rechte versucht, gezielt Schüler für Kampfsporttrainings und ihre Ideen zu gewinnen."
Das sieht auch die Mobile Beratungsstelle für Rechtsextremismus (MBR) in Berlin. Anna Schmidt ist Juristin und für die MBR aktiv. "An Berliner Schulen hat man in den meisten Fällen keine überzeugten rechtsextremen Jugendlichen", sagt sie im April 2024 zu t-online. "Wir sehen eher eine Distanzlosigkeit zu rechtsextremer Ideologie, gepaart mit dem Interesse an Provokation." Wenn man nicht dagegen vorgehe, könne dies zu einem unangenehmen bis bedrohlichen Klima in der Schule führen. Rechtsextreme Kleinstparteien nutzen dies demnach aus. Mehr dazu lesen Sie hier.
Berliner Register: "Klassische Neonazi-Methoden"
Auch das Berliner Register erkennt ein Muster zu dem Vorfall. Die Meldestelle dokumentiert extrem rechte und diskriminierende Vorfälle auf lokaler Ebene, um Problemlagen zu erkennen und darauf reagieren zu können. Projektleiterin Jana Adam sagt: "Die Bedrohung, die Leon schildert, erinnert an klassische Neonazi-Methoden: gezielte Einschüchterung von Menschen, die nicht in das extrem rechte Weltbild passen."
Außerdem sei das Verbreiten persönlicher Informationen mit dem Ziel, Angst zu schüren, ein bekanntes Vorgehen. "Der organisierte Angriff zeigt das Gewaltpotenzial und die Gefahr von extremen Rechten deutlich auf", so Adam. Mit Sorge betrachte das Berliner Register eine erstarkende rechte Jugendkultur.
W. will sich von dem versuchten Angriff nicht verunsichern lassen. Eine Initiative, die sich mit ihm solidarisiert, zog am Mittwochabend durch Lichtenberg. Der 16-Jährige ziehe viel Kraft daraus – und aus der großen Solidarität seiner Mitschüler sowie Lehrer. In der Schule würden sich mutmaßlich rechte Mitschüler nicht trauen, ihre Gesinnung preiszugeben, sagt W. Unsicher fühle er sich eher, wenn er nach Hause fährt oder alleine unterwegs ist. Aber auch da habe er nach dem Vorfall Vorkehrungen getroffen.
- Gespräch mit Leon W.
- Telefonat mit einem Sprecher der Berliner Polizei
- Anfrage an das Berliner Register
- t-online.de: "Wie eine rechtsextreme Partei Jugendliche vor Schulen anwirbt"