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Berlin: Darum lieben kriminelle Banden die Hauptstadt


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Mit drei Autos hin, mit neun zurück
Darum lieben kriminelle Banden Berlin


18.03.2024Lesedauer: 5 Min.
Seltener Fang (Archivbild): Die Polizei hat einen in Deutschland geklauten Mercedes SUV mit gefälschten Berliner Kennzeichen kurz vor der Grenze gestoppt.Vergrößern des Bildes
Seltener Fang (Archivbild): Die Polizei hat einen in Deutschland geklauten Mercedes SUV mit gefälschten Berliner Kennzeichen kurz vor der Grenze gestoppt. (Quelle: LausitzNews.de/Lehder/imago-images-bilder)
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Organisierte Banden scheinen sich in der Hauptstadt sehr wohl zu fühlen. Warum wird eigentlich jedes vierte bundesweit geklaute Auto in Berlin geknackt?

Die Diebe erschienen nachts um 4.20 Uhr auf einem Parkplatz in Berlin-Lichtenberg – Momente später lag ein Polizist schwer verletzt mit zertrümmerter Brustwirbelsäule auf der Straße. Michael S., damals 51 Jahre alt, überlebte nur dank mehrerer Not-Operationen. Ein Routineeinsatz hätte ihn beinahe das Leben gekostet. "Sitzen, liegen, schlafen, Tabletten nehmen", beschrieb er später vor Gericht seinen Tagesablauf seit jener Freitagnacht im Jahr 2015.

S. war alarmiert worden, weil ein Anwohner verdächtig erscheinende Männer beobachtet hatte. Die Gestalten hantierten an abgestellten Audis herum, um ein Verbrechen zu begehen, das sich in Berlin jede Nacht zigfach ereignet: bandenmäßiger Autodiebstahl.

Autodiebstähle in Berlin: Extrem niedrige Aufklärungsquote

Die Zahlen sind frappierend. Etwa jedes vierte in der Bundesrepublik gestohlene Auto wird in der Hauptstadt geknackt. Die Wahrscheinlichkeit, hier Opfer von Autodieben zu werden, ist um ein Vielfaches höher als in München. 5.581 Fälle erfasste das Bundeskriminalamt zuletzt in Berlin. 165 waren es in München.

Gleichzeitig ist die Aufklärungsquote in der Hauptstadt sehr niedrig. Bei 90 Prozent der Morde können die Berliner Beamten einen Tatverdächtigen präsentieren, bei Autodiebstählen verhält es sich genau umgekehrt: Hier bleiben neun von zehn Fällen im Dunkeln.

"Ich wollte diese Person nur loswerden"

Im Fall von Michael S. jedoch klickten die Handschellen. Das Verbrechen wurde mit besonderem Hochdruck verfolgt, weil zu dem üblichen Diebstahl versuchter Mord an dem Beamten hinzugekommen war. S. hatte versucht, den Autoknacker zu stoppen, war dabei in der Tür eingeklemmt und 70 Meter mitgeschleift worden.

"Ich wollte diese Person nur loswerden", sagte der Autodieb Szymon R. später im Prozess. Wie, das zeigten die Schleifspuren, die die Schuhe des Beamten auf der Straße hinterließen: R. hatte den Audi in Richtung geparkter Autos gelenkt, um den Polizisten daran abzustreifen.

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Jahre nach dieser Tat sitzt der oberste Autoklau-Spezialist der Berliner Polizei in seinem Büro und lässt den Fall noch einmal Revue passieren. Sein Kollege sei nie wieder in der Lage gewesen, als Polizist zu arbeiten, sagt Thomas Susebach.

Zu neunt in drei Autos nach Berlin: So ging die Bande vor

Susebach hat lange Zeit im Rocker-Dezernat des Landeskriminalamtes gearbeitet und leitet nun seit 20 Jahren die LKA-Abteilung 414: Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und der internationalen KFZ-Verschiebung. Die Geschichte von Michael S. wählt er, um daran das Vorgehen der Autodiebe zu schildern. Denn so aufsehenerregend der Fall auf der einen Seite erscheint, so gewöhnlich ist er dann eben auch wieder. Er illustriert, sagt Susebach, wie hochprofessionell und arbeitsteilig die Banden bis heute vorgehen: "Die Art der Tatbegehung spiegelt sich auch heutzutage noch eins zu eins wider."

Dank des außergewöhnlichen Ermittlungsaufwandes seien die Berliner Polizei und ihre polnischen Kollegen damals an die Bande herangekommen – und hätten so wenige Monate später live mitverfolgt, wie die Autoknacker erneut in Berlin auf Klautour gingen.

Zu neunt seien die Diebe in drei Fahrzeugen aus Polen gekommen und hätten sich am Olivaer Platz gesammelt. "Von dort aus beginnend haben sie ein Fahrzeug nach dem anderen angegriffen", sagt Susebach. "Bis sie am Ende am Flughafen in Schönefeld die letzte Tat durchgeführt haben." Dann hätten die Autoknacker Feierabend gemacht, während die Kuriere zu den insgesamt sechs vorbereiteten Fahrzeugen gebracht worden seien, um sie nach Polen in Zerlegehallen zu fahren. "Das war der Moment des Zugriffs durch meine Dienststelle und die unterstützenden Observationskräfte."

Wird besonders gern gestohlen: der Jeep Grand Cherokee.
Wird besonders gern gestohlen: der Jeep Grand Cherokee. (Quelle: Yonhap News/imago-images-bilder)

Die geklauten Autos sind in Berlin besonders teuer

In Berlin werden bundesweit die teuersten Autos geklaut. Der Gesamtverband der Versicherer (GDV) bezifferte den Schaden pro Diebstahl zuletzt auf 22.960 Euro. Zum Vergleich: In Bremen werden die billigsten Autos gestohlen: 13.461 Euro Schaden pro Diebstahl.

Bei den Kriminellen hoch im Kurs stehen laut GDV insbesondere SUVs der Oberklasse. LKA-Polizist Susebach zufolge werden allerdings vornehmlich etwas ältere Modelle gestohlen, meist sechs bis zehn Jahre alt, weil die Diebe für die neuesten Modelle oft noch nicht die nötige Technik haben, um sie zu knacken.

Elektroautos werden unter anderem auch aus diesem Grund weniger geklaut. Sie sind Experten zufolge oft besser gesichert und mit Überwachungselektronik ausgestattet. Weil ihre Besitzer sie zu Hause laden, stehen sie nachts zudem überdurchschnittlich oft in Garagen. Und schließlich: In Osteuropa ist die Ladeinfrastruktur noch schlecht, die Hehler finden daher schlechter Abnehmer für Teile oder ganze Autos.

Aber: Warum haben sich die Täter Berlin ausgesucht – und nicht Magdeburg, Dresden, Cottbus oder Düsseldorf? Das BKA schreibt dazu: "Tendenziell werden mehr Pkw in den östlichen Bundesländern gestohlen. Die Zielmärkte der in Deutschland entwendeten Kraftfahrzeuge liegen überwiegend im Osten Europas."

Berlin liegt allerdings auch weit vor allen anderen Ost-Städten. Pro 100.000 Einwohner erfasste das BKA zuletzt 152 Fälle in Berlin, 124 in Cottbus, 57 in Magdeburg, 54 in Leipzig, 51 in Potsdam, 41 in Erfurt und 37 in Dresden.

Die Gameboy-Methoden der Diebe: "Das muss sich amortisieren"

Dass Berlin so anziehend sei, sagt Susebach, liege auch an der schieren Größe der Stadt. Hier tobt Tag und Nacht das Leben, ständig sind Leute in Gruppen auf den Straßen unterwegs, Touristen und Einheimische mischen sich, niemand wundert sich über Fahrzeuge mit ausländischen Kennzeichen, die Menschen wohnen auf so engem Raum, dass man schon die Bewohner des Nachbarhauses kaum noch kennt. Autodiebe, die sich langsam auf der Suche nach Beute durch die Stadt vorarbeiten und dann blitzschnell zuschlagen, fallen im Trubel nicht auf.

Außerdem haben sie hier die volle Auswahl – und finden in jeder Nacht viele Autos nach ihrem Geschmack. "Die Ware steht auf öffentlichem Straßenland", sagt Susebach. Was für die Diebe sehr wichtig ist, denn: Die elektronischen Tools, die sie einsetzen, um zum Beispiel Autos mit Keyless-Go-Systemen zu knacken, sind sehr teuer. Die Werkzeuge sehen aus wie Gameboys, die neuesten kosten laut Susebach bis zu 40.000 Euro. "Eine solche Investition muss sich amortisieren", sagt er.

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Das sind die Täter

Die 2022 in Berlin erwischten Verdächtigen teilen sich so auf: 537 sind männlich, 26 weiblich. Es wurden auch fünf Jungen und zwei Mädchen unter 14 Jahren gefasst. Die Kinder tauchen in der Statistik allerdings nur auf, weil in dieser neben den Autodiebstählen auch "unbefugte Ingebrauchnahmen" mitgezählt werden. Solche Spritztouren mit den Autos der Eltern seien eine absolute Randerscheinung, sagt Susebach.

36,4 Prozent der Tatverdächtigen sind Deutsche. Die meisten Nichtdeutschen sind Polen, dann folgen Rumänen, Türken und Bulgaren. Viele stammen aus den Ländern, in denen die geklauten Autos, oft in Einzelteilen, verkauft werden. Welch große Rolle der osteuropäische Markt spiele, werde auch an den Zahlen während der Coronazeit deutlich, sagt Susebach: Immer wenn damals die Grenzen abgeriegelt wurden, seien die Autodiebstähle in Berlin fast auf null zurückgegangen.

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So geht es auch

Von allen deutschen Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern hatte Ulm im Jahr 2022 die beste Aufklärungsquote – und zwar sagenhafte 100 Prozent. Elf Autos wurden gestohlen. Elf Mal stellte die Polizei Verdächtige.

Ein hoher Anteil der Täter arbeitet professionell. Es gibt Auftraggeber, Kundschafter, Hehler, Mechaniker. "Wenn ich von einem Tatzeitpunkt zwischen 0 und 4 Uhr nachts ausgehe, ist es so, dass der Geschädigte meinetwegen um 7 oder um 8 Uhr aus dem Haus heraustritt, sein Fahrzeug sucht – und bevor er bei der Polizei angerufen hat, ist es bereits in 1.000 Einzelteile zerlegt", erklärt Susebach.

Der Fall "Lubi": Ein korrupter Berliner Polizist als billiger Kurierfahrer

Die Drecksarbeit machen die Kuriere: Sie sind am längsten am bzw. im Fahrzeug, tragen damit das größte Risiko – aber erhalten das wenigste Geld. "Das sind regelmäßig Leute, die aus dem Arbeitslosen-, Trinker- und teilweise auch Betäubungsmittelnutzermilieu kommen", sagt Susebach.

So wie Rolf L., genannt Lubi: ein drogensüchtiger Berliner Polizist, der 2018 Schlagzeilen machte, als 250 Beamte bei einer Razzia einen Autoschieber-Ring sprengten. 16 Festnahmen wurden vermeldet, einer der Festgenommenen war Rolf L.

Lenkradkralle: Ein wenig zusätzlicher Schutz reicht meist.
Lenkradkralle: Ein wenig zusätzlicher Schutz reicht meist. (Quelle: suedraumfoto/imago-images-bilder)

Wirksamer Schutz gegen Autodiebe

Oft reichen schon Kleinigkeiten, um Dieben den Autoklau zu erschweren, rät Susebach: eine Lenkradkralle, eine Blockierung der Schaltautomatik, eine abschließbare Schutzkappe für den On-Board-Diagnosestecker. "Das muss nicht fürchterlich teuer sein, aber es schreckt ab. Es verhindert vielleicht nicht immer den Aufbruch des Fahrzeuges. Aber in dem Moment, in dem der Täter weitere Hürden erkennt, die außerhalb der Norm liegen, bricht er wahrscheinlich ab. Denn je länger er am Tatobjekt bleibt, desto höher wird das Entdeckungsrisiko für ihn."

Der kokainabhängige Teamführer der Brennpunkt-Streife im Görlitzer Park hatte einige Jahre zuvor einen vor der Polizei fliehenden Fahrradfahrer derart hart vom Rad geboxt, dass der Rückstoß einen seiner eigenen Wirbel verletzte und er dienstunfähig wurde. Ohne Action im Außendienst, so sagte L. es unter anderem in einer Doku hinterher selbst, sei ihm langweilig gewesen. Außerdem hatte er Geldsorgen und litt, wie Susebach meint, wohl auch unter Geltungssucht.

So wurde L. zum billigen Kurierfahrer einer Autoschieberbande. Für ein bisschen Kokain oder auch einmal 150 Euro fuhr er geklaute Luxusautos ins Ausland. Dafür war er teilweise tagelang auf Achse. Manchmal beschaffte er für ein paar Scheine auch Infos aus dem Polizeicomputer.

"Dass man davon reich wird? Das kann man sich abschminken", sagt Susebach. Im Herbst 2020 verurteilte ein Gericht Rolf L. zu vier Jahren Haft. Szymon R., der den Polizisten Michael S. fast totgeschleift hätte, erhielt elf Jahre und sechs Monate.

Verwendete Quellen
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