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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Pandemie "Spätestens in diesem Augenblick hätte die Politik aufhorchen müssen"
Die Menschheit wird Corona nie wieder los.
t-online: Professor Labisch, weltweit sehnen die Menschen das Ende von Corona herbei. Wann wird die Bedrohung durch das Virus geringer?
Alfons Labisch: Kurz und knapp gesagt: Corona wird bleiben, aber die Pandemie wird enden. Die Fragen lauten: Wann und wie?
Auch wenn Corona endemisch werden wird: Die Gefahr nimmt doch durch die laufenden Impfkampagnen stetig ab, oder?
Durch die Impfungen ist die Lage in Deutschland bereits wesentlich besser geworden. Allerdings wird das Coronavirus nicht verschwinden. Covid-19 wird ähnlich der Grippe eine wiederkehrende Krankheit werden. Diese saisonale Krankheit werden wir in den Griff bekommen, wenn wir uns regelmäßig, gegebenenfalls kombiniert mit Influenza-Vakzinen, impfen lassen. Andere Vorsichtsmaßnahmen gegen Corona werden ebenfalls überdauern.
Wie die bei vielen Menschen unbeliebten Masken vor Mund und Nase?
Das wäre ein Beispiel. Allzu schnell werden die Masken nicht in der Schublade verschwinden. Wer hätte im März 2020 gedacht, dass die Deutschen alle und dazu viele freiwillig einen Mund- und Nasenschutz tragen würden? Das kannten wir hierzulande eher aus dem Fernen Osten. Eines ist indes sicher: Wer sich jetzt nicht impfen lässt, bekommt alsbald Covid-19.
Die Corona-Pandemie wird immer wieder als größte Krise der Menschheit bezeichnet. Was halten Sie als Medizinhistoriker von diesem Superlativ?
Solche Aussagen höre ich immer wieder mit Erstaunen – ein falscher "Aufmacher", den bestimmte Medien immer wieder nutzen, um Interesse zu wecken. Ich nenne nur die Pest im Mittelalter, die Cholera des 19. oder die Spanische Grippe im 20. Jahrhundert.
Alfons Labisch, Jahrgang 1946, ist Historiker, Soziologe und Arzt. Bis zu seiner Emeritierung 2015 lehrte Labisch Medizingeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 2003 bis 2008 war er Rektor der Universität. Der Wissenschaftler ist seit 2004 Mitglied der Leopoldina, 2016 verlieh ihm die Beijing Foreign Studies University in Peking eine Ehrenprofessur. Seit 2019 ist er ebendort als Universitätsprofessor tätig. Im vergangenen Jahr brachten Heiner Fangerau und Alfons Labisch das Buch "Pest und Corona. Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft" heraus.
Bleiben wir gleich bei diesen Krankheiten, die viele Millionen Menschen getötet haben. Wie endeten diese Seuchenzüge?
Die Erreger dieser Krankheiten sind noch da. Gesellschaften mit einem guten öffentlichen Gesundheitswesen können derartige Seuchen eindämmen. Auch die Influenzaviren vom Subtyp A/H1N1 gibt es noch.
Von denen eine Variante für die Spanische Grippe verantwortlich gewesen ist.
Ein anderes Beispiel ist die Pest: Sie ist bei uns in Europa zwar verschwunden, aber in einem entsprechenden Umfeld kommt die Pest immer wieder vor – etwa in den Plains der USA oder in den Steppen Nordchinas. Die Lepra ist in Europa ausgestorben, nicht aber in den Tropen. Ein anderer Fall sind die Pocken, die durch ein globales Impfprogramm ausgerottet werden konnten. Pockenviren gibt es aber noch – sorgsam in Laboren aufbewahrt. Jede dieser Seuchen hat tiefe Spuren in unserem kollektiven Gedächtnis und in unserer Art der Gesundheitssicherung und des Gesundheitsverhaltens hinterlassen.
Haben die Pandemien der Vergangenheit uns im Westen aber auch ausreichend Furcht eingeflößt und Respekt gelehrt? Als die ersten Hiobsbotschaften in Sachen Corona Europa Anfang 2020 erreichten, geschah zunächst recht wenig.
Wir müssen gar nicht so weit in die Vergangenheit blicken. Allein in diesem Jahrhundert haben wir zwei schwere Grippe-Epidemien erlebt, erst die "Vogelgrippe" (A/H5N1) ab 2004, dann die "Schweinegrippe" (H1N1) seit 2009. Davor gab es auch noch SARS ab dem Jahr 2002. Ebola in Afrika, MERS in Arabien und Zika in Südamerika will ich an dieser Stelle nur erwähnen.
Und dabei ist das Jahrhundert noch sehr jung.
Ja, aber dass etwas wie SARS/Corona früher oder später kommen würde, war allen Kundigen klar. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Insbesondere die Erfahrungen durch SARS haben in Ostasien bei der Bekämpfung von Covid-19 enorm geholfen.
Bitte erklären Sie das näher.
Wir haben in Deutschland die SARS-Pandemie 2002/03 nur aus der Ferne erlebt. Deswegen laufen wir bei Covid-19 hinterher. In den von SARS unmittelbar betroffenen Ländern wie China oder Taiwan hat es hingegen einen enormen Innovationsschub in der Seuchenbekämpfung gegeben. In China etwa wurde das gesamte Gesundheitswesen reorganisiert. Taiwan führte ein rigides Gesundheitsregime für den Fall der Fälle ein. Beide Länder haben trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme gegen Covid-19 sehr niedrige Infektions- und Todesraten erreicht.
Die Bewährungsprobe kam Ende 2019, als Corona seinen globalen Verbreitungszug begann.
Bereits in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 2019 leiteten die taiwanesischen Gesundheitsbehörden die vorgesehenen Maßnahmen ein, darunter etwa die Untersuchung von möglicherweise erkrankten Personen, die aus China einreisten. In Deutschland haben wir uns noch fast drei Monate Abwarten geleistet. Aber wichtig ist eine Erkenntnis: Wenn Seuchen richtig verstanden werden, lassen sich entsprechende Innovationen in der medizinischen Infrastruktur, in Regelmaßnahmen, in den Verordnungen und Gesetzen entwickeln. Deswegen sollte alsbald das gesamte Covid-19-Geschehen in Deutschland, Europa und weltweit gründlich untersucht und die entsprechenden nationalen und internationalen Konsequenzen gezogen werden.
Hätten Sie ein Beispiel aus der Geschichte für Lernprozesse?
Nehmen wir Cholera und Pocken. An ihnen lassen sich gut horizontale und vertikale Maßnahmen in der Gesundheitsfürsorge aufzeigen. Ein vertikaler Eingriff ist etwa die Impfung, beispielsweise gegen die Pocken. Dies ist verhältnismäßig einfach durchzuführen. Komplizierter wird es bei horizontalen Maßnahmen. Max von Pettenkofer, der erste Professor für Hygiene in Deutschland, richtete im 19. Jahrhundert seine Forschung auf sämtliche Bereiche, die die Gesundheit der Menschen beeinflussen – von der Kleidung und dem Essen über die Wasserver- und -entsorgung bis zum Klima.
In München war von Pettenkofer treibende Kraft bei der Einrichtung einer modernen Trinkwasserversorgung wie eines leistungsfähigen Abwassersystems zur Bekämpfung der Cholera.
Pettenkofer verfolgte den Ansatz "wissenschaftliches Durchleuchten und anschließendes Assanieren", also die Gestaltung aller Lebensverhältnisse nach gesundheitlichen Kriterien. Solche horizontalen Maßnahmen sind mit einem hohen Aufwand verbunden. Das Tiefbauwesen der Städte beruht auf diesen Gedanken: In Chicago musste beispielsweise die gesamte Stadt höhergelegt werden. Auch die Planung von öffentlichen Gebäuden, von Krankenhäusern oder im Straßenbau, gehen auf diese Gedanken zurück.
In der Nachbetrachtung wird immer wieder die Kritik laut, dass die Politik viel früher auf die Wissenschaft beim Kampf gegen Corona hätte hören müssen.
Wissenschaftler sind mit ihren Versuchen und Studien befasst und sind daher gezwungen, nur ausgewählte Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Die Politik hält aus gutem Grund anstelle der Wissenschaft die Zügel in der Hand. Denn von politischer Seite aus müssen viele weitere Faktoren beachtet werden: etwa verfassungsrechtliche Fragen, Gesetze und Verordnungen sowie wirtschaftliche und soziale Belange.
Schweden ging einen Sonderweg in der Pandemie, dort war der Staatsepidemiologe Anders Tegnell die entscheidende Person.
Die Schweden haben einen hohen Preis für ihre Corona-Politik bezahlt. Schweden setzte auf die Einsicht der Bürger – auch hier vielfach diskutiert, aber in Schweden mit höchst fraglichem Erfolg. Das Land hatte weltweit eine hohe Erkrankungs- und erschreckende Todesraten – vor allem unter alten Menschen.
Das klingt sehr hart.
Entspricht aber den epidemiologischen Tatsachen. Auch in Deutschland hätten wir schneller reagieren können. Wann haben die Chinesen alles dichtgemacht? Am 23. Januar 2020. Spätestens in diesem Augenblick hätte die deutsche Politik aufhorchen müssen. So gingen aber bis März 2020 noch zwei Monate ins Land, bis wir merkten, dass man Corona mit der klassischen Strategie von Überwachung und Eingrenzung nicht beikommt. Und im Winter 2020/21 haben wir die Erfolge des Sommers verspielt.
Vor diesem Hintergrund: Wie konnte Deutschland überhaupt die erste Welle so relativ gut überstehen?
Das ist nicht nur mir bis heute ein Rätsel. Es wird vermutet, dass sich die Menschen in Deutschland bereits vor der ersten Welle sehr vernünftig verhalten haben. Dann begann der Sommer 2020 – und es begann ein typisch deutsches Verhalten.
Welches?
Es kam zu einer langen und breiten Diskussion, in der vor allem die Probleme diskutiert wurden, die wir entweder nicht mehr oder noch gar nicht hatten – anstelle zu schauen, wie die nächsten Phasen der Pandemie anzugehen seien. Anschließend folgte eine völlige Überorganisation. Den Preis haben auch in Deutschland die alten Menschen bezahlt.
Warum aber erwischte uns Corona überhaupt derart kalt? 2012 war bereits einmal ein solches Planspiel einer Pandemie durchgeführt worden. In ihrem zusammen mit Heiner Fangerau geschriebenen Buch "Pest und Corona" erwähnen Sie dieses wichtige Ereignis.
Ja – das stimmt uns wirklich nachdenklich: Niemand hat die notwendigen Konsequenzen gezogen. Die eigentlich erforderlichen Nachjustierungen haben wir erst in der letzten Zeit etwa in den schrittweisen Anpassungen des Infektionsschutzgesetzes gesehen. Und das geschah unter gewaltigem politischen und medialen Getöse. Ein über den rein reaktiven und ständig wiederholten Lockdown hinausweisendes Konzept oder gar eine vorausgreifende aktive Strategie der Seuchenabwehr war und ist nicht zu erkennen.
Warum ist eine übergreifende Strategie generell so entscheidend?
Wir müssen vor dem Ausbruch einer Epidemie vorbereitet sein, um nicht in der Hochphase einer solchen nachträglich herumwurschteln zu müssen. Denn solche Seuchen werden ständig wiederkommen. In unserem Buch beschreiben wir die Entwicklung, die dem zugrunde liegt: Die steigende Zahl der Menschen, die klimatischen Veränderungen und die permanente Ausweitung von Megastädten und der agrarisch genutzten Flächen in den Tropen führen zu Situationen, in denen ständig neue Krankheitserreger entstehen und sich ausbreiten können.
Ebenso steigt das Risiko, dass bis dato isolierte Erreger in Kontakt mit Menschen kommen.
Eben dies geschieht zurzeit weltweit, etwa in Afrika, in Asien oder in Südamerika. Experten wie Anthony Fauci in den USA und viele andere warnen seit vielen Jahren vor diesen Tatsachen. Die Erkenntnisse müssten allerdings in praktische Politik umgesetzt werden. Vorausschauende, "staatsmännische", von mir aus gern auch "staatsfrauliche" Politik findet nicht statt. Der nächste Wahltermin ist wichtiger.
Seuchen werden uns also immer wieder heimsuchen, mit den verschiedenen Impfstoffen gegen Corona hat sich die Menschheit allerdings zu wehren gewusst. Nur erschweren Impfmüdigkeit oder gar Impfgegnerschaft die Eindämmung des Virus.
Eindämmung lässt sich auf unterschiedlichen Wegen erzielen. Früher wurden die Seuchen vor allem durch den Schiffsverkehr verbreitet, später auch durch die Eisenbahn und andere Verkehrswege. Heute ist es das Flugzeug. Strenggenommen dürfte weltweit niemand, der nicht zuvor negativ getestet wurde, einen Flieger betreten. Auch Geimpfte müssen getestet werden, weil wir heute wissen, dass auch sie andere infizieren können.
Wo wir gerade beim Thema Impfen sind: Wäre eine Impfpflicht sinnvoll, wie es sie etwa im Kaiserreich gegen die Pocken gegeben hat?
Das wäre eine sehr schwierige Entscheidung. Vor allem weil das Grundgesetz hier berührt ist. Auch in China wurde keine Impfpflicht eingeführt, obwohl sie dort durchzusetzen wäre. Allerdings gibt es in Deutschland seit März 2020 eine Art indirekte Impfpflicht.
Sie meinen das Masernschutzgesetz, das insbesondere für Kinder bei Eintritt in Kindergarten und Schule gilt?
Ja. Ein genereller Impfzwang gegen Corona wäre allerdings schwer vermittelbar, weil Covid-19 auch nicht annährend so gefährlich ist, wie es die Pocken waren. Es klingt wiederum hart: Aber wenn die Leute reihenweise und dazu öffentlich sterben würden, wie dies früher der Fall war, wäre die Zahl der Impfgegner sehr schnell im Sinken begriffen und vor den Impfzentren stünden wieder lange Schlangen. Zu einer Vorsichtsmaßnahme rate ich allerdings. Alle Personen, die im Gesundheitswesen tätig sind, sollten geimpft sein und immer wieder getestet werden. Denn eben die älteren und kranken Menschen sind durch Corona besonders gefährdet. Wenn wir jedes einzelne Leben retten wollen, sollten wir das auch richtig angehen.
Professor Labisch, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Alfons Labisch