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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Beginn des Zweiten Weltkriegs "Seid erbarmungslos und räumt mit allem auf, was nicht deutsch ist"
Am 1. September 1939 überfiel die Wehrmacht Polen, der Zweite Weltkrieg begann. Adolf Hitler hatte den Kriegsbeginn als Schmierenkomödie inszeniert. t-online.de dokumentiert die ersten Stunden.
Der erste Tote des Zweiten Weltkriegs ist kein Soldat. Sein Name lautet Franciszek Honiok, ein 41-jähriger Oberschlesier, der aus seinem Patriotismus für Polen keinen Hehl macht. Ein codierter Funkspruch löst am 31. August 1939 seinen Tod aus. "Großmutter gestorben", lautet die kurze Botschaft. Gerichtet ist sie an den SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks, der sich mit einigen Männern in Gleiwitz an der Ostgrenze des Deutschen Reiches aufhält. Sein Befehl, der mit Erhalt der Nachricht in Kraft tritt: Einen Vorwand für den Angriff auf Polen zu liefern.
Naujocks "überfällt" gegen Abend des 31. August den deutschen Rundfunksender in Gleiwitz, die SS-Leute geben sich als polnische Freischärler aus. Die Aktion ist ebenso dilettantisch geplant wie ausgeführt. Mit Mühe können Naujocks und Co. einen Funkspruch absetzen: "Achtung! Hier ist Gleiwitz! Der Sender befindet sich in polnischer Hand!" Als der Trupp abzieht, lässt er den zuvor festgenommenen Honiok ermordet zurück, eine Art "Beweis" für die angebliche polnische Aggression. Zu diesem Zeitpunkt hat Hitler die Attacke auf das östliche Nachbarland hingegen längst befohlen.
Dem "Führer" ist es ohnehin egal, ob die Schmierenkomödie um Gleiwitz ernsthaft geglaubt wird oder nicht: "Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht."
"Explosionsgetöse riss mich aus dem Schlaf"
Wenig später, in den ersten Stunden des 1. September 1939, überfällt die deutsche Wehrmacht Polen. Weit mehr als eine Million Mann dringen in das Nachbarland vor, an Panzern und Kampffliegern sind sie den Angegriffenen weit überlegen. Einer von ihnen ist ein junger Mann namens Richard von Weizsäcker, Jahrzehnte später wird er Bundespräsident werden.
Zu den ersten Opfern des deutschen Angriffs gehören die Menschen der Stadt Wieluń. In dem Ort, zwischen dem damals deutschen Breslau und Łódź gelegen, erwacht allmählich das alltägliche Leben. Doch an diesem Tag soll nichts so sein wie gewohnt. Deutsche Sturzkampfbomber, sogenannte Stukas, attackieren die Stadt, laut Zeitzeugenberichten passiert es um 4.40 Uhr am frühen Morgen. "Flugzeuge, Papa, Flugzeuge", staunt der 13-jährige Eugeniusz Kolodziejczyk noch, dann beginnt die Zerstörung Wieluńs.
Denn Vernichtung lautet der Auftrag der deutschen Piloten – und sie führen ihn aus. Ihnen fällt unter anderem das Allerheiligen-Krankenhaus zum Opfer. Gekennzeichnet mit einem roten Kreuz auf dem Dach ist es für Angriffe eigentlich tabu. Den Deutschen ist es egal. Rund 16.000 Menschen leben zum Angriffszeitpunkt in Wieluń, nach der dritten und letzten Angriffswelle sind mehr als 1.000 von ihnen tot. Der Krieg gegen Polen ist vom ersten Augenblick an ein Verbrechen.
Bucht von Danzig: Seit Tagen liegt das Schulschiff "Schleswig-Holstein" der deutschen Kriegsmarine vor Anker, es befindet sich auf Freundschaftsbesuch dort. Es ist allerdings alles andere als "freundschaftlich", als die Mannschaft um 4.47 Uhr das Feuer auf die polnische Stellung auf der Westerplatte eröffnet.
"Die polnische Artillerie wehrte sich tapfer", erinnerte sich später Hermann Gerdau, damals Besatzungsmitglied der "Schleswig-Holstein". Aus diesem Grund ist der Kampf um die Westerplatte bis heute ein nationaler Mythos in Polen, denn die hoffnungslos unterlegenen Verteidiger leisteten den Invasoren bis zum 7. September Widerstand.
Wieluń oder die Westerplatte, häufig wird gestritten, wo der Zweite Weltkrieg in Europa begann. Es ist keiner dieser beiden Orte. Minuten bevor dort angegriffen wird, fallen bereits etwa Schüsse beim polnischen Dirschau, südlich der ostpreußischen Grenze. Um 4.34 Uhr fliegen Stukas dort einen Angriff, die Weichselbrücke soll erobert werden.
Polen sind zunächst siegesgewiss
Warschau: Die Nachtruhe des Pianisten Wladyslaw Szpilman wird gewaltsam gestört. "Explosionsgetöse riss mich aus dem Schlaf, es war schon hell geworden. Ich schaute auf die Uhr: gleich sechs."
Viele Polen sind trotz der Überrumpelung in diesem Augenblick siegesgewiss. "Alle sprechen über Krieg und alle sind sicher, dass wir gewinnen werden", notiert der Mediziner und Geisteswissenschaftler Zygmunt Klukowski.
Auf der anderen Seite der Grenze scheint es anders zu sein.
Berlin: Kurz nach 8 Uhr befindet sich der US-Auslandskorrespondent William S. Shirer auf dem Weg durch die deutsche Hauptstadt. Begeisterung kann er nicht ausmachen, wie er festhält: "Die Menschen in den Straßen wirkten apathisch, als ich für meine Frühsendung zum Rundfunkhaus fuhr."
Die Deutschen warten. Und zwar auf Adolf Hitler, gegen zehn Uhr soll er im Reichstag sprechen. Die Rede wird im Radio übertragen, der Diktator hält sich an die Schmierenkomödie von den angeblichen polnischen Übergriffen auf Deutschland: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen", geifert Hitler, der eine Wehrmachtsuniform trägt. "Seither wird Bombe mit Bombe vergolten. Wer mit Gift kämpft, wird Giftgas bekommen." Tatsächlich meinte Hitler 4.45 Uhr.
Das Oberkommando der Wehrmacht stößt ins gleiche Horn wie sein Oberbefehlshaber Hitler: "Auf Befehl des Führers und Reichskanzlers hat die Wehrmacht den aktiven Schutz des Reiches übernommen. In Erfüllung ihres Auftrages, der polnischen Gewalt Einhalt zu gebieten, sind Truppen des deutschen Heeres Freitag früh über alle deutsch-polnischen Grenzen zum Gegenangriff angetreten."
Westmächte machen mobil
Helmut Schmidt, späterer Bundeskanzler, zu diesem Zeitpunkt ein junger Wehrdienstleistender, schrieb später, dass er die Mär von der Aggression Polens damals geglaubt habe: "Ich habe nicht geahnt, dass der polnische Überfall nur vorgetäuscht war. Ich glaubte tatsächlich, die Polen hätten den Sender Gleiwitz überfallen, weshalb wir Deutschen uns jetzt wehren müssten."
Etwas kritischer erinnerte sich Richard von Weizsäcker an diese Augenblicke: "Die deutschen Zeitungen waren voll von Berichten polnischer Provokationen und Übergriffen gegen die deutschen Minderheiten. Wer wusste, ob die Berichte stimmten? Geglaubt wurde das meiste."
Nicht geglaubt werden die Lügen in London und Paris. Beide Staaten leiten die Generalmobilmachung ein, Schiffe der Royal Navy laufen aus. Der britische Premierminister Neville Chamberlain, der für seine Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler immer wieder zu Recht kritisiert worden ist, wird im Unterhaus bilanzieren: "Die Verantwortung für diese schreckliche Katastrophe liegt auf den Schultern eines Mannes." Eine zu kurz greifende Erklärung, denn unter anderem heißen weite Teile der deutschen Eliten Hitlers Eroberungspläne gut.
So erfolgreich die deutschen Verbände in Polen vorstoßen, so ernüchternd wird Hitler schließlich klar, dass er sich verrechnet hat. Die Westmächte würden stillhalten und ihren Drohungen keine Taten folgen, so sein Kalkül. Doch am 3. September erklären Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Hilfe für die tapfer, aber zunehmend verzweifelt kämpfenden Polen unterlassen sie aber.
Feldzug zur Vernichtung
Deren Lage wird immer hoffnungsloser, nachdem am 17. September auch die Rote Armee einmarschiert, um das Land gemäß dem Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 unter den beiden Diktatoren aufzuteilen.
Welche Pläne die Deutschen mit dem eroberten Land haben, wird schnell klar. Denn der Krieg gegen Polen ist kein "normaler" Waffengang, es ist ein Feldzug der Vernichtung. Ludolf von Alvensleben, ranghoher SS-Führer und Chef der Mördertruppe "Volksdeutscher Selbstschutz" in Westpreußen, befiehlt etwa im Oktober 1939: "Seid nicht weich, seid erbarmungslos und räumt mit allem auf, was nicht deutsch ist."
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In der nationalsozialistischen Ideologie sind die Polen "minderwertig", die Nazis wollen sie unterwerfen. Den Verbänden der Wehrmacht, die auch selbst Kriegsverbrechen begehen, folgen deshalb Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst (SD), ihr Auftrag besteht in der Auslöschung der "polnischen Intelligenz". Adelige, Geistliche und Intellektuelle stehen etwa auf ihren Todeslisten, rund 60.000 Menschen werden in den ersten Monaten nach dem 1. September 1939 umgebracht. Mehr als fünf Millionen polnische Staatsbürger kommen schließlich zwischen 1939 und 1945 in dem von Deutschland entfachten Inferno um: Sie sterben in Kämpfen, durch Terror und dem Massenmord an den Juden.
- Eigene Recherchen
- Ian Kershaw: "Hitler. 1936–1945", 2000
- Richard Overy: "Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs", 2009
- Helmut Schmidt: "Kindheit und Jugend unter Hitler", 1992
- Richard von Weizsäcker: "Vier Zeiten: Erinnerungen", 2010
- William L. Shirer: "Berliner Tagebuch – Aufzeichnungen 1934-1941", 1991
- Lothar Kettenacker: "Ein Volk von Opfern?: Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45", 2003