Umfrage unter Bundesbürgern Selenskyj in Berlin – Kippt die Stimmung?
Selenskyj in Berlin: Ein Generalmajor versichert der Ukraine die deutsche Unterstützung. Doch innerhalb der Bevölkerung scheint sich die Stimmung allmählich zu drehen.
Vor dem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an diesem Freitag in Berlin hat Generalmajor Christian Freuding, der Leiter des Ukraine-Krisenstabes im Verteidigungsministerium, dem Land anhaltende deutsche Unterstützung versichert.
"Jeden Tag rollen aus Deutschland Lastwagen in Richtung Ukraine, die Waffensysteme, Munition, Ausrüstung und Verpflegung für die Soldaten oder Stromgeneratoren an Bord haben", sagte er dem Tagesspiegel. "Es wird keinen Abbruch der Lieferungen an die Ukraine geben – schon allein deshalb, weil viele unserer Projekte über 2025 hinausreichen und bereits finanziert sind. Unsere Militärhilfe ist langfristig angelegt."
Freuding räumte ein, dass es "in einer für die Ukraine schwierigen militärischen Situation" beim kurzfristig abgesagten Ramstein-Gipfel darum hätte gehen sollen, "wie wir das Land zum jetzigen Zeitpunkt noch besser unterstützen können" und mehr Mittel auch aus Deutschland notwendig seien: "Tatsächlich übersteigt der Bedarf der Ukraine auch die vier Milliarden Euro, die bisher für das kommende Haushaltsjahr geplant sind." Trotzdem könne man "noch in 2024 bis zu 50 konkrete Projekte zur Stärkung der ukrainischen Streitkräfte realisieren, die die militärischen Fähigkeiten der Ukrainer signifikant stärken werden".
"Debatten gehören zur Demokratie", sagte Freuding an die Adresse derer, die weitere Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch sehen: "Wir müssen uns in diesen Debatten immer klarmachen, dass vom weiteren Verlauf der Ereignisse in der Ukraine Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar berührt sind." Der revanchistische Imperialismus Russlands werde nicht an der ukrainischen Grenze haltmachen.
Eigentlich wollte Selenskyj am Samstag an einem Ukraine-Gipfel mit 50 verbündeten Ländern auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein teilnehmen. Nach der Absage von US-Präsident Joe Biden wegen des Hurrikans "Milton" wurde der Gipfel aber verschoben. Statt Biden kommt nun Selenskyj zu einem bilateralen Besuch nach Berlin.
Im Osten ist die Zustimmung besonders groß
Währenddessen gehen die Debatten um eine mögliche Beendigung des Krieges vor allem in Deutschland unvermindert weiter. Demnach spricht sich eine deutliche Mehrheit der Deutschen dafür aus, dass Olaf Scholz nach fast zwei Jahren Funkstille wieder mit dem russischen Diktator Wladimir Putin sprechen sollte. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur begrüßten 59 Prozent ein Telefonat der beiden. Nur 26 Prozent sind dagegen, 15 Prozent machten keine Angaben.
In Ostdeutschland ist der Wunsch nach einem solchen Gespräch besonders groß. Dort wird es von 68 Prozent der Befragten befürwortet und nur von 19 Prozent abgelehnt. Weniger einig sind sich die Deutschen hingegen in der Frage, ob die Ukraine für Frieden mit Russland auf einen Teil ihres Staatsgebiets verzichten sollte. 39 Prozent sagen, sie sollte keinen Zentimeter abgeben. 22 Prozent meinen dagegen, die Ukraine sollte auf die bereits 2014 von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim verzichten.
Weitere 23 Prozent plädieren sogar dafür, dass Kiew neben der Krim auch Gebiete aufgeben sollte, die seit der Invasion im Februar 2022 von Russland besetzt wurden. Zusammen sind also 45 Prozent für einen Gebietsverzicht. Uneinigkeit besteht auch in der Frage, ob die Ukraine die Erlaubnis erhalten sollte, mit weitreichenden westlichen Waffen bis tief in russisches Territorium zu schießen. 42 Prozent sind eher dafür und 43 Prozent eher dagegen.
FDP: "Warum ist dieser Bundeskanzler nicht dazu bereit?"
Kurz vor dem Selenskyj-Besuch forderten erneut hochrangige Außenpolitiker der Ampelparteien den Kanzler in der Sache zum Handeln auf. "Wir müssen deutlich mehr Luftverteidigung, Munition und weitreichende Waffen an die Ukraine liefern", sagte Verteidigungsexperte Anton Hofreiter der "Rheinischen Post". "Reichweitenbeschränkungen gelieferter Waffen tragen nicht zur Deeskalation bei, sondern ermöglichen weitere russische Angriffe", mahnte der Grünen-Politiker.
"Die Ukraine ist im Begriff zu ertrinken, und nach wie vor werfen wir ihr nur Rettungsringe zu, um sie vor dem Ertrinken zu retten", kritisierte auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). "Warum ist dieser Bundeskanzler nicht dazu bereit, seinen Teil dazu beizutragen, die Ukraine aus dem Wasser zu ziehen?" Sie wünsche sich sehr, dass Selenskyj dem Kanzler noch einmal klarmache, dass es im Fall einer Niederlage der Ukraine nicht der letzte Krieg in Europa gewesen sei, fuhr die FDP-Politikerin fort.
Ähnliche Stimmen sind auch aus der Opposition zu hören. Der CDU-Verteidigungsexperte Johann Wadephul bekräftigte seine Forderung, der Ukraine deutsche Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen. "Die Lieferung von Taurus wäre eine wichtige Hilfe. Das zeigen die erfolgreichen ukrainischen Angriffe auf russische Depots weit im Hinterland durch Marschflugkörper mit vergleichbarer Schlagkraft."
Russland erobert weitere Dörfer
Unterdessen setzt Russland seine Angriffe in der Ukraine mit unverminderter Härte fort und konnte offenbar weitere Gebiete im Donbass erobern. Im Laufe des Donnerstags habe es 114 Sturmangriffe gegeben, teilte der ukrainische Generalstab in seinem abendlichen Lagebericht mit.
Allein 30 Angriffe wurden demnach am Frontabschnitt bei Lyman gezählt. Der Eisenbahnknotenpunkt liegt im Gebiet Donezk. Zu dem Frontabschnitt gehören aber auch die letzten Dörfer des Gebietes Luhansk, die Russland bisher nicht besetzen konnte. Moskau hatte das gesamte Gebiet Luhansk 2022 für annektiert erklärt.
Weitere Schwerpunkte der Angriffe waren demnach die Abschnitte Pokrowsk und Kurachiwe. Die Zahlen des Militärs sind nicht im Detail überprüfbar, lassen aber einen Rückschluss auf die Intensität der Gefechte zu. Der militärnahe, aber nicht offizielle ukrainische Blog DeepState berichtete abends, dass vier kleine Ortschaften an der Ostfront von der russischen Armee erobert worden seien.
- Vorabmeldung des "Tagesspiegel"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters