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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukrainische Kursk-Offensive "Das könnte ein großer Sieg für Putin werden"
Der russische Staat benötigte sechs Tage, um nach Beginn des ukrainischen Angriffs größere Verteidigungsbemühungen in Kursk zu organisieren. Das kann auch Putin in Erklärungsnot bringen.
Der Angriff kam für Russland vollkommen überraschend. Mit Infanterie, Panzern und anderem schwerem Gerät stießen ukrainische Einheiten am 6. August aus der ukrainischen Region Sumy über die russische Grenze in die Region Kursk vor. "Wir waren unter den ersten Soldaten, die Russland betraten", erinnert sich der ukrainische Soldat Wolodymyr im Gespräch mit der "Financial Times". Die erste russische Einheit, auf die sie trafen, "saß im Wald und trank Kaffee". Die Russen hätten nicht mit einem ukrainischen Angriff gerechnet.
Während die ukrainischen Soldaten in Russland vorrückten, reagierte auch die politische Führung im Kreml zögerlich. "Russland hat die von der Ukraine ausgehende Gefahr unterschätzt", erklärt der Osteuropa-Experte Andreas Umland im Gespräch mit t-online.
Putin sei laut Umland nicht von einem Angriff auf Russland ausgegangen. Der Kreml habe "das russische Staatsterritorium für heilig" gehalten, so der Experte weiter.
Experte: Organisation im Kreml ist ein Problem
Die russische Armee brauchte Zeit, um sich auf die Kämpfe in Russland einzustellen. Alexey Tikhomirov, Historiker und Russland-Experte an der Universität Bielefeld, macht dafür im Gespräch mit t-online mehrere Gründe aus. Zum einen konzentriere sich ein großer Teil der russischen Ressourcen auf die Kriegsfront in der ukrainischen Region Donezk. Es sei kompliziert, Soldaten und schweres Gerät über Hunderte Kilometer an eine neue Front zu schaffen, meint der Experte.
Zur Person
Andreas Umland ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew und Herausgeber der Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" beim ibidem-Verlag Stuttgart. Er hat Russisch, Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Stanford, Cambridge und Harvard, er lehrte in Jekaterinburg, Oxford, Kiew und Eichstätt.
Ein weiteres Problem sei die Organisationsstruktur des russischen Militärs, erklärt Tikhomirov weiter: "Die Situation zeigt die Ineffizienz einer autoritären Organisation mit dem Alleinherrscher im Kreml an der Spitze". Viele russische Beamte hätten Angst, hinsichtlich des weiteren Vorgehens in Kursk eine Entscheidung zu treffen.
Denn Putin trifft alle operativen Entscheidungen selbst, allerdings ohne militärische Erfahrung. "Er verlässt sich auf loyale Anhänger in seinem inneren Zirkel – das zeigt auch die Ernennung von Alexej Dyumin zum Verantwortlichen für die 'Antiterror-Organisation' in der Region Kursk", sagt Tikhomirov. "Bis jetzt hat er damit allerdings keinen Erfolg".
Andreas Umland sieht durch die ukrainische Offensive in Russland darüber hinaus Putins Machtposition gefährdet. "Das ist eine Blamage für Putin". Der russische Machthaber habe eines seiner zentralen Versprechen an die Bevölkerung gebrochen. "Bisher hat der Kreml den Krieg gegen die Ukraine als eine kontrollierbare Antiterror-Maßnahme dargestellt. Mit dem Angriff auf Kursk ist es für die russische Bevölkerung aber ein richtiger Krieg."
Vorstoß in Kursk ist nicht Putins Ende
Für Putin sei dieser Umstand ein großes Problem, führt Alexey Tikhomirov aus: "Der ukrainische Vorstoß wird in der Bevölkerung als Demütigung empfunden." In Telegram-Kanälen kursierten Videos, die ukrainische Truppen zeigen, wie sie russische Soldaten gefangen nehmen. In diesen Videos seien auch kniende Soldaten zu sehen, die "Slava Ukraini" zeigen. Das sei laut dem Experten eine besondere Schmach für Russland, weil es die gängige Kreml-Erzählung von starken Russen und schwachen Ukrainern infrage stelle.
Zur Person
Alexey Tikhomirov ist Osteuropahistoriker an der Universität Bielefeld und Fellow am Käte Hamburger Kolleg "Einheit und Vielfalt im Recht" an der Universität Münster. Der Wissenschaftler mit Wurzeln in Russland und Italien veröffentlicht regelmäßig zur Situation der russischen Gesellschaft und deren historisch gewachsenen Bedingungen.
Allerdings bedeute der Vorstoß auf Kursk noch lange nicht das Ende von Putins Herrschaft, sagt Tikhomirov. Russland habe mehrere Optionen, um mit der Krise umzugehen. "Putin könnte eine weitere Teilmobilisierung der Bevölkerung ankündigen, um die Reihen der Armee aufzufüllen". Außerdem ermögliche die Zusammenarbeit mit China, dem Iran und Nordkorea es Russland, militärische Defizite auszugleichen und westliche Sanktionen zu umgehen.
Russland wird nun schnellstmöglich versuchen, auch mithilfe der tschetschenischen Kämpfer von Ramsan Kadyrow, die Ukrainer militärisch aus Russland herauszudrängen. Im russischen Staatsfernsehen wird dagegen hauptsächlich thematisiert, wie russischen Geflüchteten aus dem Raum Kursk geholfen wird. Putin möchte die militärische Lage nicht überdramatisieren, um selbst innenpolitisch das Gesicht nicht zu verlieren.
Tikhomirov: Putin darf man nicht unterschätzen
Alexey Tikhomirov warnt allgemein davor, Putin in dieser Situation zu unterschätzen: "Wir haben bereits mehrere sogenannte Antiterror-Organisationen erlebt, insbesondere in Tschetschenien, bei denen das Leben der Zivilbevölkerung für die Machthaber im Kreml wenig zählte. Für sie geht es darum, die feindlichen Kämpfer zu vernichten", sagt der Experte. Eine ähnliche Taktik der verbrannten Erde könne Putin auch in Kursk anwenden, um die Ukraine zurückzuschlagen.
Andreas Umland erklärt: Russland müsse nun schnell militärische Erfolge erzielen. "Wenn sich die Ukrainer jetzt festsetzen und der Kampf um Kursk Wochen oder Monate dauert, dann wäre das für Putin sehr peinlich", so der Experte. Allerdings gebe es für den Kreml auch eine Möglichkeit, sich galant aus der Misere zu ziehen: "Wenn Russland den ukrainischen Angriff schnell zurückschlägt, kann das eine Machtdemonstration, ein Sieg für Putin sein."
- Telefongespräch mit Andreas Umland
- Fragen an Alexey Tikhomirov