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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angriffe im Schwarzen Meer Geht Selenskyj zu weit?
Im Schwarzen Meer kommt es vermehrt zu Angriffen durch ukrainische Drohnen. Verstößt Kiew damit gegen das Seekriegsrecht? Die Lage ist komplex.
Die Ukraine geht in die Offensive – nun auch verstärkt im Schwarzen Meer. Am Freitag hatte eine ukrainische Drohne den Hafen der russischen Schwarzmeerflotte in Noworossijsk getroffen. Bilder zeigten das Landungsschiff "Olenegorski gornjak" (Olenegorsker Bergmann) in geneigter Lage – mit 450 Kilogramm Sprengstoff soll die ukrainische Seedrohne auf das Schiff geprallt sein.
In der Nacht zu Samstag gab es nahe der Krim dann den nächsten lauten Knall: Von der Halbinsel aus war eine Explosion auf dem Tanker "SIG" zu sehen, der in der Straße von Kertsch am Schwarzen Meer unterwegs war. Wieder war die Ukraine verantwortlich: Ohne zu zögern gab das Land bekannt, eine Marinedrohne zum Angriff nach Kertsch losgeschickt zu haben. Die Meerenge verbindet die von Moskau völkerrechtswidrig annektierte Krim mit Russland.
Die "SIG" trug ein Loch vom Angriff davon. Am Wochenende teilte die russische Seenotrettungsbehörde Morspassluschba mit, das dadurch eingedrungene Wasser werde abgepumpt. Der Tanker schwimme trotz der Schäden im Maschinenraum frei auf dem Wasser. Am Montag rückten Einsatzkräfte an, um das schwer beschädigte Schiff abzusichern. Treibstoff trat demnach nicht aus, verletzt wurde niemand.
Ukraine will Angriffe ausweiten
Die Folgen des Angriffs halten sich also in Grenzen – aber es hätte durchaus mehr passieren können. Russische Kommentatoren beschuldigten die Ukraine etwa, eine ökologische Katastrophe im Schwarzen Meer in Kauf zu nehmen. Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj legte jedoch am Samstag nach und drohte mit einer Ausweitung der Attacken an der russischen Küste.
Die ukrainische Schifffahrtsbehörde erklärte sechs Häfen zum Kriegsrisikogebiet: Dies betreffe die Häfen von Taman nahe der Krim-Brücke im Westen über Anapa, Noworossijsk, Gelendschik und Tuapse bis hin nach Sotschi im Osten kurz vor der georgischen Grenze. Das US-Institut für Kriegsstudien ISW wies am Sonntag darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte allem Anschein nach ihre Anstrengungen, den russischen Nachschub zu stoppen, auch auf Seeziele ausgeweitet hätten.
Aber wie ist es überhaupt so weit gekommen?
Die Situation zwischen dem Schwarzen und dem Asowschen Meer hat sich vor allem zugespitzt, seit der Kreml das Getreideabkommen mit der Ukraine auf Eis gelegt hat. Das russische Verteidigungsministerium hatte erklärt, ab dem 20. Juli alle Schiffe, die über das Meer zu ukrainischen Häfen fahren, als potenzielle Träger militärischer Fracht zu betrachten. Die Länder, unter deren Flaggen die Schiffe laufen, werde man dann als solche einstufen, die auf der Seite Kiews "in den Ukraine-Konflikt verwickelt" seien.
Ukraine reagierte mit ähnlicher Ankündigung
Johannes Peters, Sicherheitsexperte an der Universität Kiel, erklärte dazu im Gespräch mit der "Deutschen Welle": "Wenn Russland Schiffe als legitime Ziele betrachtet, dann sind sie noch lange keine legitimen Ziele. Ein Angriff Russlands auf Handelsschiffe, die sich in internationaler Fahrt befinden, wäre nicht vom Völkerrecht, auch nicht vom Kriegsvölkerrecht gedeckt." Allein der Verdacht, dass ein ziviles Schiff militärische Fracht befördern könnte, würde einen Angriff auf ein Schiff mit Marschflugkörpern oder Ähnlichem nicht rechtfertigen.
Die Ukraine reagierte allerdings kurzerhand mit einer ähnlichen Ankündigung: Alle Schiffe, die russische und ukrainische Häfen im Schwarzen Meer ansteuern, würden als militärische Ziele eingestuft, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. Dabei hat das kriegsgebeutelte Land so gut wie keine Marine mehr – und setzt bei den Angriffen deshalb verstärkt auf unbemannte Sprengstoffboote, wie auch am Wochenende.
"Absolut logischer und effektiver Schritt"
Der ukrainische Geheimdienstchef Wassyl Maljuk hatte die jüngsten Drohnenattacken gegen russische Schiffe als "rechtmäßig" bezeichnet. Es handele sich um einen "absolut logischen und effektiven Schritt" gegen den Feind, teilte Maljuk am Samstag im Telegramkanal des Geheimdienstes SBU in Kiew mit. Er rechtfertigte "solche Spezialoperationen" unter anderem damit, dass sie in territorialen Gewässern der Ukraine ausgeführt würden.
Aber hat der SBU-Chef recht? Entsprechen die ukrainischen Angriffe dem Seekriegsrecht?
Der russische Militäranalyst Ian Matveev schreibt auf X, ehemals Twitter, auf die Frage, ob die Ukraine das Recht hatte, einen russischen Tanker anzugreifen: "Es scheint so – nach den aktuellen Kriegsregeln auf See." Der Experte verweist auf das San Remo Handbuch zum Seekriegsrecht vom Internationalen Institut für Humanitäres Recht aus dem Jahr 1994. Die Konvention ist nicht verbindlich, aber Matveev setzt den Fokus auf den Begriff "militärisches Objekt" in Bezug auf Handelsschiffe.
Das San Remo Handbuch
dient laut der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) diversen Militärhandbüchern, der Politik sowie der internationalen Justiz als Grundlage. Es gehört zur Standardlektüre im Bereich des humanitären Völkerrechts, insbesondere des Seekriegsrechts. Zwar ist das Handbuch rechtlich nicht bindend, jedoch stellt der Großteil seiner 183 Artikel Ausdruck geltenden Völkergewohnheitsrechts dar. Somit folgt aus ihm ein gewisser rechtlicher Konsens in der Staatengemeinschaft, der Rechtssicherheit schafft.
"Es gibt eine Liste von Funktionen, durch die ein Handelsschiff zu einem militärischen Objekt wird", erklärt Matveev. Dies gelte zum einen, wenn das Handelsschiff als Hilfsschiff der feindlichen Streitkräfte fungiert, zum Beispiel, wenn es Truppen, militärische Fracht oder Nachschub für Kriegsschiffe transportiert. Zum anderen werde ein Handelsschiff als militärisches Objekt eingeordnet, wenn es einen "wirksamen Beitrag zu militärischen Operationen auf andere Weise" leiste, etwa durch den Transport von militärischem Material.
"Macht ihn zu militärischem Objekt"
Matveev verweist auf den von der Ukraine angegriffenen Tanker: Laut Analysten transportiert "SIG" regelmäßig Treibstoff zu einem Militärstützpunkt der russischen Armee in Syrien. "Das macht ihn meiner Meinung nach, gemäß den beiden oben genannten Punkten, zu einem militärischen Objekt", so der Experte. Weiter erklärt er: "Es ist möglich, dass er [der Tanker, Anm. d. Red.] auch im Schwarzen Meer Treibstoff für das Militär transportiert hat – vielleicht hat die Ukraine dafür Beweise."
Tatsächlich hieß es in Kreisen ukrainischer Geheimdienste nach dem Angriff am Wochenende, dass der Tanker "Treibstoff für russische Truppen" geladen hätte. Auch nach Angaben eines russischen Statthalters im besetzten Teil der ukrainischen Region Saporischschja, Wladimir Rogow, war die "SIG" auf dem Rückweg aus Syrien, wo sie russische Truppen mit Treibstoff versorgt habe.
Die USA hatten im Jahr 2019 Sanktionen gegen den beschädigten Tanker und deren Eignerfirma Transpetrochart aus St. Petersburg verhängt, weil er Flugzeugtreibstoff nach Syrien geliefert habe.
Lediglich technische Fracht?
Der Seenotrettungsdienst in Noworossijsk erklärte hingegen, der Tanker habe lediglich technischen Ballast an Bord. Russische Beobachter sprachen von einem "Terrorangriff" auf ein ziviles Schiff. Russland hatte der Ukraine schon im Juli mehrmals vorgeworfen, zivile Objekte im Schwarzen Meer anzugreifen. Der Berater von Präsident Selenskyj, Michail Podoljak, entgegnete den Vorwürfen, die Ukraine habe weder zivile Schiffe noch andere Objekte angegriffen noch werde sie diese angreifen.
Zugleich hieß es aus Kiew, es sei ein Ziel gewesen, "zu zeigen, dass die Ukraine jedes russische Kriegsschiff in dieser Zone angreifen kann". SBU-Chef Maljuk ergänzte zuletzt: "Wenn also die Russen wollen, dass das 'Geknalle' aufhört, dann sollten sie die dafür einzige Möglichkeit nutzen und die territorialen Gewässer der Ukraine und unser Land verlassen. (...) Je schneller sie das tun, desto besser wird es für sie sein. Weil wir den Feind vollkommen in diesem Krieg besiegen werden."
"Nicht klar, wozu sie gehören"
Experte Matveev geht in seinem Beitrag auch auf die Angriffsmethode der Ukraine ein – und kommt zum Fazit, dass diese "grundsätzlich allen Normen der Kriegsführung" entspreche. Kritisiert werden könne lediglich die mögliche Schädigung der Umwelt durch die Attacke, jedoch sei kein Treibstoff ausgetreten.
Zugleich schränke Matveev ein: "Unbemannte Überwasserfahrzeuge sind übrigens eine neue Art von Waffe, und es ist nicht klar, wozu sie gehören. (...) Darüber hinaus gibt es für Meeresdrohnen keine gesonderten Regeln und sie scheinen sich in einer Grauzone zu bewegen." Demnach müssten gesonderte Regeln entwickelt werden.
Und kann die Ukraine für die Angriffe zur Rechenschaft gezogen werden? Laut Matveev nicht. "Sie handelten nach den aktuellen Interpretationen der Regeln der Seekriegsführung", lautet sein Fazit.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
- twitter.com: Beitrag von @ian_matveev (russisch)
- t.me: Beitrag von arrowsmap (russisch)
- bundesstiftung-friedensforschung.de: "AKTUALISIERUNG DES SAN REMO HANDBUCHS ZUM SEEKRIEGSRECHT"
- dw.com: "Darf Russland Handelsschiffe im Schwarzen Meer angreifen?"