"Neue territoriale Realität" Plötzlich zeigt sich Putin offen für Verhandlungen
Russlands Präsident Putin kann sich auf einmal Gespräche mit Kiew vorstellen – unter Bedingungen. Wie ernst ist das zu nehmen? Oder führt der Kremlchef etwas ganz anderes im Schilde?
Die ukrainische Sommeroffensive kommt schleppender voran, als viele im Westen erhofft hatten. Langsam macht sich Skepsis breit, wie weit Kiew in russisch besetztes Gebiet tatsächlich vordringen kann. Bemerkenswerterweise ist die Tonlage im russischen Informationsraum etwas anders: Russische Militärblogger sprechen von einer angespannten Lage an mehreren Frontabschnitten – und warnen vor weiteren ukrainischen Durchbrüchen, etwa an der Saporischschja-Front.
Und im Kreml? Wie die dortige Lageeinschätzung ist, lässt sich nur vermuten. Doch könnte die voraussichtlich monatelange ukrainische Großoperation dem Kreml mehr Sorgen bereiten, als offiziell zugegeben wird. Dazu passt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin am Samstagabend überraschenderweise Friedensverhandlungen ins Spiel brachte.
Am Rande des Russland-Afrika-Gipfels in St. Petersburg sagte Putin auf einer nächtlichen Pressekonferenz, dass die Verhandlungsinitiative afrikanischer Staaten sowie der chinesische Vorschlag als Grundlage für Gespräche mit Kiew dienen könne. Berichten zufolge soll die afrikanische Initiative unter anderem einen russischen Truppenrückzug beinhalten, den Rücktransport russischer Atomwaffen aus Belarus sowie die Suspendierung des internationalen Haftbefehls gegen Putin und ein Ende der westlichen Sanktionen.
"Praktisch unmöglich umzusetzen"
Details des Plans sind nicht öffentlich. Der chinesische Vorschlag aus dem Frühjahr forderte ebenfalls einen russischen Truppenrückzug – ohne genau zu sagen bis wohin – im Gegenzug für die Aufhebung der Sanktionen. Kiew sieht sowohl die afrikanische als auch die chinesische Initiative skeptisch. China gilt als enger Verbündeter Russlands im Ukraine-Krieg.
Kremlchef Putin sagte zugleich, dass ein Waffenstillstand "praktisch unmöglich umzusetzen" sei, solange die Ukraine weiter vorstoße. "Sie befindet sich in einer strategischen Offensive. Wie halten wir unser Feuer zurück, wenn sie auf uns vorrücken?", so der Präsident am Samstagabend zu Reportern. Tatsächlich hat die russische Armee zu keinem Zeitpunkt des Krieges ihr Feuer zurückgehalten: Neben dem ständigen Beschuss ukrainischer Truppen terrorisiert Russland seit Monaten ukrainische Städte mit Raketen- und Drohnenangriffen.
Putin sagte weiter, dass Verhandlungen nur auf Basis einer "bilateralen Initiative" zustande kommen könnten, und meinte damit wohl, dass sich auch die Ukraine verhandlungsbereit zeigen müsse. Wie realistisch das derzeit ist, ist fraglich. Die Ukraine hat sich monatelang auf die jetzige Offensive vorbereitet und will nun möglichst viel russisch besetztes Territorium zurückerobern.
Putin will weitere Isolation verhindern
Die Positionen zwischen Kiew und Moskau sind seit Monaten verhärtet. Beide Seiten haben zuvor erklärt, dass sie ohne bestimmte Vorbedingungen nicht an den Verhandlungstisch kommen werden. Die Ukraine möchte, dass ihre Grenzen wie im Jahr 1991 wiederhergestellt werden, was der Kreml ablehnt. Moskau argumentiert stattdessen, dass Kiew die "neue territoriale Realität" seines Landes akzeptieren müsse, damit Verhandlungen stattfinden könnten.
Wie ernsthaft Putins Bereitschaft, mit der Ukraine zu verhandeln, tatsächlich ist, muss sich zeigen. Einiges spricht dafür, dass der russische Präsident sich nur nach außen hin gesprächsbereit zeigt, um international nicht weiter isoliert zu werden.
Beim Russland-Afrika-Gipfel musste der Kremlchef auch Kritik afrikanischer Länder einstecken, weil Russland das Getreideabkommen mit der Ukraine aufgekündigt hatte. Auch kamen deutlicher weniger afrikanische Staatschef zu dem Treffen wie noch vor einem Jahr.
- bbc.com: Ukraine war: Putin says Russia does not reject peace talks (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa