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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drohungen aus Belarus "Wagner wurde für die Drecksarbeit erfunden"
Der belarussische Machthaber Lukaschenko hat über einen möglichen Angriff der Wagner-Söldner auf Polen spekuliert. Handelt es sich um Säbelrasseln oder steckt mehr dahinter?
Meinungsverschiedenheiten gab es zwischen Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko nicht – zumindest nicht öffentlich, als sich die beiden Machthaber am Sonntag in St. Petersburg trafen. Der russische Präsident musste seinen belarussischen Amtskollegen lediglich kurz korrigieren. "Es gibt keine Gegenoffensive", hatte Lukaschenko zu den jüngsten Bemühungen der Ukraine gesagt, weitere Teile ihres Gebietes von russischer Besatzung zu befreien.
Der russische Präsident sah das etwas anders: "Es gibt sie. Aber sie ist gescheitert", sagte er bei dem Treffen in seiner Heimatstadt St. Petersburg. So weit, so normal.
Lukaschenko hatte allerdings noch eine weitere Botschaft parat, die für mehr Aufmerksamkeit sorgte: Die Söldner der Privatarmee Wagner, die sich seit ihrem gescheiterten Putschversuch in seinem Land aufhalten, würden ihn mittlerweile "stressen." Sie würden gerne einen Ausflug nach Polen machen – in die Hauptstadt Warschau oder nach Rzeszów, einem der zentralen Drehkreuze westlicher Hilfen für die Ukraine. Er würde ihnen allerdings nicht den Befehl dazu geben, schränkte Lukaschenko ein. "Natürlich behalte ich sie im Zentrum von Belarus, wie vereinbart. Ich würde sie nicht dorthin verlegen wollen. Denn ihre Laune ist schlecht."
Ausbilder oder Angreifer?
Offiziell sollen die Wagner-Söldner in Belarus die dortigen Streitkräfte ausbilden. Doch ihre Zukunft in Belarus ist bislang unklar. Wie viel Macht hat Lukaschenko über die Wagner-Söldner wirklich? Wie groß ist die Gefahr eines Angriffs auf Polen und wie gut wäre das Land gewappnet?
"Diese Wagner-Söldner sind kein militärischer Faktor", ist sich Nico Lange von der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz sicher. Vielmehr sei die Drohung eine Nachricht an die eigene russische Bevölkerung – und nicht ein ernst zu nehmendes Risiko für Polen.
"Kamikaze-Mentalität"
Ähnlich sieht es auch Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn: Vermutlich habe Lukaschenko seine Worte mit Putin abgestimmt, sagt der Politikwissenschaftler im Gespräch mit t-online. Denn die Aussagen müsse man möglicherweise in einem größeren Kontext betrachten. "Sie versuchen, die Wagner-Story umzudrehen: Vorher hieß es, Lukaschenko habe Putin vor Wagner gerettet. Jetzt lautet die Botschaft: 'Wir haben Wagner unter Kontrolle.'"
Gleichzeitig suche der russische Präsident immer neue Möglichkeiten, den Westen einzuschüchtern. Das funktioniere allerdings immer schlechter, glaubt der Politikwissenschaftler. Die Drohungen mit Atomwaffen werden in westlichen Regierungen schon länger nicht mehr als akute Gefahr gesehen. Mit dem Ende des Getreideabkommens habe Putin zudem auch sein Vertrauen bei der Türkei und in Afrika verspielt. "Bei Putin herrscht eine Kamikaze-Mentalität", glaubt Heinemann-Grüder.
"Natürlich kompletter Blödsinn"
Die Wagner-Söldner waren vor rund einem Monat auf Anweisung ihres Chefs Jewgeni Prigoschin Richtung Moskau marschiert. Der Chef der Privatarmee hatte offiziell für die Absetzung des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu und des Chefs des Generalstabs, Waleri Gerassimow, plädiert. Vielfach wurde der Marsch allerdings als direkte Herausforderung Putins gedeutet.
Vor Erreichen der russischen Hauptstadt wurde er allerdings beendet: Auf Vermittlung von Lukaschenko hieß es damals von offiziellen Stellen, dass die Söldner und ihr Chef künftig in Belarus aktiv sein werden, auch versprach Moskau ihnen Straffreiheit. Gerassimow und Schoigu blieben weiter im Amt. Die genauen Hintergründe des Deals sind allerdings bis heute unklar.
Gänzlich neu ist die Drohkulisse an Polen auch nicht: Bereits am vergangenen Freitag hatte Putin während eines Treffens des russischen Sicherheitsrates ähnliche Worte gewählt. Der russische Präsident sprach davon, dass an der Ostgrenze des Landes mehr Truppen stationiert werden, mit dem Plan, den Westteil der Ukraine zu besetzen. Das müsse der Kreml verhindern und dementsprechend die Lange genau beobachten. "Das ist natürlich kompletter Blödsinn", sagt Sicherheitsexperte Lange im Gespräch mit t-online.
Geringe Zahl und kaum Waffen
Zwei weitere Punkte sprechen dafür, dass Polen einen baldigen Angriff aus Belarus wohl nicht fürchten muss: Unabhängig davon, dass eine solche Attacke die restlichen Nato-Staaten auf den Plan riefe, sei die Zahl der Wagner-Söldner viel zu gering, glaubt Lange. Schätzungen gehen mittlerweile davon aus, dass sich rund 10.000 Mitglieder der Privatarmee in Belarus aufhalten. "Mit 10.000 Wagner-Söldnern kann man weder Kiew noch Polen angreifen", sagt Lange.
Die Söldner mussten zudem vor ihrem Umzug ihre Waffen und militärisches Gerät an den Kreml übergeben. Laut dem russischen Verteidigungsministerium waren es rund 2.000 Geschütze, 2.500 Tonnen Munition und 20.000 Kleinfeuerwaffen. Daher ist es fraglich, ob die Söldner für einen Angriff überhaupt ausgerüstet wären.
In Polen reagierte man auf die Drohungen aus Moskau und Minsk damit, die Ostgrenze zu Russland zu verstärken. Wie viele Soldaten stationiert wurden, ist allerdings unklar. Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak kündigte zudem weitere Investitionen an und noch in diesem Jahr ein neues Bataillon in der Stadt Augustów aufbauen zu wollen. Der Ort liegt sowohl in der Grenznähe zu Belarus als auch zu Litauen.
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Schon im vergangenen Jahr hatte sich die Regierung in Warschau zum Ziel gesetzt, die Armee zu einer der stärksten Landstreitkräfte innerhalb Europas zu machen. Bis 2035 solle sie auf insgesamt 300.000 Soldaten anwachsen. Das wäre nicht nur mehr als eine Verdopplung, sondern würde Polen innerhalb der Nato auch zur größten Armee nach den USA und der Türkei machen. Zudem kauft Warschau Rüstungsgüter ein. Mehr dazu lesen Sie hier.
Doch was tun die Wagner-Söldner, wenn ein Angriff auf die benachbarten Gebiete unwahrscheinlich ist? Nötig haben die belarussischen Soldaten wohl eine Ausbildung durch die Söldner. "Die belarussische Armee ist die am wenigsten erfahrene Armee in Europa", sagte András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) jüngst in einem Gespräch mit t-online. Mehr dazu lesen Sie hier. Könnte also irgendwann der Punkt gekommen sein, an dem die Wagner-Söldner mit den Belarussen gemeinsam einen Angriff planen?
Dafür sehen derzeit weder Andreas Heinemann-Grüder noch Nico Lange Anhaltspunkte. Ein Kriegseintritt sei innerhalb der belarussischen Armee ohnehin noch nie sonderlich beliebt gewesen. Die ersten Angriffe auf Kiew nach Beginn der Invasion im Februar 2022 wurden zwar von Belarus aus gestartet. Ausgeführt wurden sie allerdings von russischen Soldaten.
Kriegseintritt von Belarus unwahrscheinlich
Mittlerweile sei der Grenzübertritt in die Ukraine zudem um ein Vielfaches schwieriger: "Die Ukraine ist an ihrer Nordgrenze mittlerweile viel besser auf einen Angriff vorbereitet", sagt Lange. Die Grenze sei mit mehreren Verteidigungslinien gesichert. Zudem gibt es Berichte darüber, dass dort auch der Boden vermint sei.
Lange geht davon aus, dass die Truppenstärke für einen Angriff von der Nordgrenze enorm groß sein müsste. Einige Tausend seien jedenfalls nicht ausreichend. Auch die aktuelle militärische Lage Russlands spreche gegen eine neue Angriffswelle: "Russland ist in einer Position, wo sie nur noch versuchen zu halten, was sie erobert haben", sagt Heinemann-Grüder.
Das belarussische Exil könnte, so Andreas Heinemann-Grüder, somit nur eine Zwischenlösung für Wagner sein. Es sei denkbar, dass auch der russische Präsident noch nicht genau wisse, was er mit der Armee machen werde.
Weiter in anderen Ländern aktiv
Auch Nico Lange hat auf die Zukunft von Wagner keine konkrete Antwort. Eine Zerschlagung oder Auflösung der Truppe halten die beiden Experten allerdings für unwahrscheinlich. Denn abseits der Ukraine setzt der Kreml weiter auf deren Dienste: Die Söldner sind in Syrien oder verschiedenen afrikanischen Ländern weiter aktiv. Der entscheidende Vorteil gegenüber der eigentlichen russischen Armee: Der Kreml kann jederzeit eine direkte Beteiligung an einem Konflikt abstreiten.
"Wagner wurde für die Drecksarbeit erfunden. Sie können Dinge tun, die der russische Staat nicht tun kann", sagt Nico Lange. Diese Fassade hatte aber in der jüngsten Zeit deutliche Risse bekommen: Wenige Tage nach dem Putschversuch hatte Putin erstmals eingeräumt, dass Wagner ausschließlich vom Staat finanziert worden sei.
- Interview mit Andreas Heinemann-Grüder
- Interview mit Nico Lange
- gov.pl: "Jeszcze w tym roku w Augustowie powstanie batalion saperów" (polnisch)
- kremlin.ru: "Встреча с Президентом Белоруссии Александром Лукашенко" (russisch)