Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Überraschende Offensive im Süden Durchbruch? Dieser Angriff bedroht Putins Ostfront
Nachdem das Hochwasser in Cherson zurückgegangen ist, stößt die Ukraine über den Dnipro vor. Ein Durchbruch im Süden könnte auch Wladimir Putins Front im Osten zusammenbrechen lassen. Ein Überblick.
Es sind extrem verlustreiche Schlachten. Die ukrainische Armee muss sich bei ihrer Gegenoffensive jeden Quadratkilometer bitter erkämpfen. Bisher blieben die großen Erfolge des Vorstoßes aus. Die russischen Verteidigungslinien halten und das setzt die militärische Führung in Kiew zunehmend unter Druck.
Das Ziel der Ukraine ist ein Durchbruch – und nun zeichnet sich dieser erstmals seit Beginn des Großangriffs ab. Überraschend haben in dieser Woche ukrainische Einheiten den Fluss Dnipro im Oblast Cherson überquert und einen Brückenkopf errichtet, der bislang stabil zu sein scheint.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Ein Angriff in Cherson ist ein Stich in Putins Achillesferse. Wenn es der Ukraine gelingt die ausgedünnten russischen Truppen in dem Frontabschnitt zu überwinden, ist Putins gesamte Ostfront in Gefahr.
"Ukraine hat sich am linken Ufer verschanzt"
"In der vergangenen Woche hat die feindliche Aktivität am Dnipro im Bereich der Antoniwskyj-Brücke ungewöhnlich zugenommen", schrieb der russische Militärblogger Sasha Kots am Montag auf Telegram. Er fügte hinzu: "Heute müssen wir feststellen, dass sich die Ukraine am linken Ufer (Anm. d. Red.: Ostufer) verschanzt hat und versucht, ihre Stellung auszubauen."
Es sind definitiv die intensivsten Kämpfe seit vielen Monaten in der Region Cherson. "In Cherson, im Bereich der Antoniwskyj-Brücke, kommt es seit dem Abend zu Kämpfen. Der Feind hat sich mit Kräften von bis zu 50 Mann an unserem Ufer verschanzt, feuert Artillerie von seinem Ufer aus und nutzt die Überreste der Brücke als Deckung", schilderte der russische Militärblogger "Dwa Majori" auf Telegram. "Ständig landen ukrainische Verstärkungen an und die Gesamtzahl der Gegner im Bereich der Brücke an unserem Ufer beträgt bis 0 Uhr bis zu 100 Personen."
Andere prorussische Blogger erklärten außerdem, dass die ukrainischen Truppen "vollständige Kontrolle" über mehrere Sommerhäuser in der Nähe von Oleschky am östlichen Ufer des Dnipro hätten.
Hochwasser ist zurückgegangen
Genau überprüft werden können die Angaben der Militärblogger nicht. Jedoch kursieren im Netz Bilder und Videos. Twitter-Nutzer konnten darauf die Antoniwskyj-Brücke lokalisieren. Es scheint demnach so, als wären die Berichte über eine ukrainische Offensive im Süden zutreffend.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Durch den Bruch des Kachowka-Staudamms Anfang Juni kam es in Oleschky zu schweren Überschwemmungen. Der ukrainischen Armee kommt aktuell entgegen, dass das Hochwasser nach der mutmaßlichen Sprengung des Damms durch Russland zurückgegangen ist. Nahe der gleichnamigen Regionshauptstadt Cherson betrug der Stand des Dnipro am Montagvormittag 33 Zentimeter, wie der ukrainische Krisenstab auf Telegram mitteilte. Dies entspräche den dortigen Messwerten vor der Damm-Zerstörung.
Zugleich ist der Kachowka-Stausee nach Angaben der ukrainischen Rettungskräfte ausgetrocknet. Der Dnipro – der drittlängste Fluss Europas – ist demnach an manchen Stellen flussabwärts vom zerstörten Damm nur noch ein Bach. Und das eröffnete der ukrainischen Armee neue operative Möglichkeiten im Süden des Landes.
"Nach einem Monat wird die Ukraine wieder in der Lage sein, Entlastungsangriffe über den Fluss zu starten. Das Wasser wird wieder zurückgehen", sagte der Militärexperte Gustav Gressel Anfang Juni zu t-online. Diese Phase scheint nun erreicht. Allerdings ist unklar, ob es sich bei den ukrainischen Angriffsaktivitäten im Oblast Cherson wirklich nur um Entlastungsangriffe handelt, die Russland dazu zwingen soll, Truppen von anderen Frontabschnitten abzuziehen und die gesamte Front somit löchriger zu machen.
Gefahr für Putins Ostfront
Fest steht: Im Süden der Ukraine ist aktuell der Frontabschnitt, in dem die russische Verteidigung am schwächsten aufgestellt sind. Zwar soll es auch in Cherson zwei Verteidigungslinien geben, aber Russland hatte nach dem Dammbruch Verbände in Richtung Osten verlegt, um die ukrainische Gegenoffensive dort abzuwehren. Diese Truppen fehlen nun an der Südfront.
Embed
Doch einfach wird es für die Ukraine auch in Cherson nicht. Selbst wenn Datschi erobert ist, gibt es in der Region kaum befestigte Straßen und viel Sumpfland. Motorisierte Verbände kommen hier noch sehr schleppend voran. Außerdem befindet sich Datschi quasi auf einer Insel, südlich müssten die ukrainischen Truppen den kleineren Fluss Konka noch überqueren, deren Brücke wahrscheinlich von Russland vermint wurde.
Trotzdem war die Überquerung des Dnipro zunächst einmal der wichtige erste Schritt, weil der Fluss das größte natürliche Hindernis in der Region darstellt. Nun kommt es darauf an, wie Russland in Cherson aufgestellt ist.
Noch immer verfügt die russische Armee über eine gut aufgestellte Artillerie, aber ukrainisches Störfeuer sorgt offenbar dafür, dass die russische Artillerie und Luftwaffe die ukrainischen Flussüberquerungen nicht rechtzeitig stören konnten. Laut Angaben von russischen Militärbloggern hätten die russischen Verbände am östlichen Dnipro-Ufer seit Tagen um Luftunterstützung gebeten, aber die kam offenbar nicht rechtzeitig.
Für die ukrainische Armee dagegen ist die brüchige Verteidigung Russlands an der Südfront aktuell die beste Chance für einen Durchbruch. Klar: Es dürfte auch in dieser Region für die Ukraine nicht schnell vorangehen, aufgrund der Flussüberquerungen und des sumpfigen Geländes. Doch wenn die russischen Verteidigungslinien in Cherson überwunden werden können, hätten die ukrainischen Truppen freie Fahrt in Richtung Osten. Im Süden gibt es zwar weitere russische Linien, um die Krim zu schützen.
Doch mit einem Durchbruch in Cherson könnten die russischen Verteidigungslinien in Saporischschja von der Seite und von hinten angegriffen werden. Sofern die ukrainische Armee ausreichend Reserven hat, könnte sie Putins Truppen dann in die Zange nehmen. Die Landbrücke vom russischen Festland zur Schwarzmeerhalbinsel Krim wäre ernsthaft in Gefahr. Aber zunächst einmal geht es um den wichtigen Dnipro-Brückenkopf. Der muss von der Ukraine um jeden Preis verteidigt werden, um die Flussüberquerungen von Nachschub zu sichern.
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, June 26, 2023 (engl.)
- theguardian.com: Ukrainian troops reportedly reclaim territory in Kherson province (engl.)
- kyivpost.com: Ukrainian Forces Seize Ground Including an Area Occupied by Russia Since 2014 (engl.)
- deepstatemap.live: Ukraine War Map (engl.)
- bild.de: Ukraine-Armee überquert Fluss Dnipro
- tagesspiegel.de: Ukrainer überwinden den Dnipro – und schlagen Russen in die Flucht
- fr.de: Ukraine gelingt offenbar wichtiger Frontdurchbruch
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherche