Rekrutierte Häftlinge kehren zurück Die Wagner-Strategie bringt Russland ein großes Problem
Vor allem im Herbst rekrutierte die Gruppe Wagner Kämpfer direkt in Gefängnissen. Die Überlebenden kehren nun zurück – das sorgt für Probleme.
Es war ein riskanter Deal, den die russische Regierung mit der Söldnergruppe Wagner einging. Deren Chef Jewgeni Prigoschin rekrutierte in staatlichen Gefängnissen neue Kämpfer für den Krieg in der Ukraine. Das Angebot: Sechs Monate sollen sie dort kämpfen, dann dürfen sie als freie Menschen nach Russland zurückkehren.
Vor dieser Situation steht Russland nun, da die Sechsmonatsverträge zunehmend auslaufen. Und Berichten zufolge halten sich die russischen Behörden an den Deal und gewähren den Rückkehrern die Begnadigung. Britischen Geheimdienste warnen, dass dies ein erhebliches Risiko für die russische Gesellschaft darstelle – und die Personalprobleme der russischen Truppen weiter verschärfen könnte.
"Wir alle wissen, was er seinem Freund angetan hat"
Für wie viel Verunsicherung die Begnadigungen sorgen, zeigt exemplarisch ein Fall aus der kleinen Stadt Pikaljowo im Norden Russlands, den Reporter für den britischen "Guardian" recherchierten. Der verurteilte Mörder und Dieb Anatoly Salmin ist nun nach Pikaljowo zurückgekehrt. Er hätte eigentlich noch lange im Gefängnis sitzen müssen.
Salmin soll seinen Freund beim Angeln getötet haben. Beide seien betrunken gewesen, hätten angefangen, sich zu streiten, heißt es in den Gerichtsunterlagen, die dem "Guardian" vorliegen. Mit einem Stein schlug Salmin seinem Freund auf den Kopf, drückte ihn danach unter Wasser, bis dieser sich nicht mehr rührte.
Ein Anwohner sagte der Zeitung: "Er ist ein gefährlicher Mann, wir alle wissen, was er seinem Freund angetan hat. Ich habe meinen Kindern gesagt, dass sie in den nächsten Tagen nicht allein herumlaufen sollen. Es war nicht nur das, was er seinem Freund angetan hat. Er hat Leute bestohlen, war in viele Schlägereien verwickelt und hat Mädchen belästigt. Er trank viel, nahm Drogen und war gewalttätig." Auch andere Anwohner, keiner von ihnen möchte seinen Namen nennen, äußern sich ähnlich.
Unter den Rekruten sollen viele Mörder und Vergewaltiger sein
Davor warnen nun auch die britischen Geheimdienste: Gewalttätige Straftäter, die auch noch traumatische Kriegserfahrungen gemacht haben, nun wieder in die russische Gesellschaft einzugliedern, werde wohl eine große Herausforderung darstellen.
Denn Berichten zufolge haben sich vor allem Insassen von Wagner rekrutieren lassen, die noch besonders viel Haftzeit vor sich hatten – und somit tendenziell schwerste Verbrechen begangen haben. Unter den Rekruten sollen etwa viele Mörder und Vergewaltiger sein.
Und es kehren nicht nur die zurück, die die sechs Monate gedient haben. Auch verwundete Rekruten sind wieder in Russland und auch sie sollen Berichten zufolge ihre Begnadigung erhalten haben – obwohl sie teilweise nur wenige Tage an der Front waren. Das berichtet die Nachrichtenagentur Reuters, die mit einigen der Rückkehrer in Russland gesprochen hat. Mehr dazu lesen Sie hier.
Insassen als Kanonenfutter an der Front?
Es stellt sich allerdings die Frage, wie viele der Rekruten tatsächlich zurückkehren. Rund 50.000 Gefangene sollen in die Ukraine geschickt worden sein. Es gibt keine genauen Zahlen, wie viele von ihnen überlebt haben.
Von westlicher und ukrainischer Seite heißt es, Wagner schicke die Männer vor allem als Kanonenfutter in den Kampf, etwa in die heftig umkämpfte Stadt Bachmut. Da soll Wagner die "menschliche Welle" als Taktik angewendet haben. Heißt: Eine große Anzahl von Kämpfern läuft ungeschützt los, ein Teil kommt beim gegnerischen Schützengraben an. Auch deswegen vergleichen Beobachter die Schlacht rund um Bachmut mit dem Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg.
Die russische Nichtregierungsorganisation "Russland hinter Gittern" sprach im Januar davon, dass lediglich noch 10.000 der rekrutierten Häftlinge in der Truppe seien, der Rest sei "getötet, verletzt, verschollen", habe sich ergeben oder sei desertiert. Die Ukraine geht von insgesamt weniger Insassen aus: Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sprach im Januar von rund 38.000 solcher Rekruten, von denen 77 Prozent getötet, verwundet oder gefangen genommen wurden. Britische Geheimdienste vermuten hingegen deutlich niedrigere Verluste: Etwa die Hälfte soll im Kampf getötet oder verletzt worden sein. Demnach werden Tausende in den kommenden Wochen nach Russland zurückkehren.
Könnte Personalmangel vergrößern
Das Auslaufen der Verträge stellt Russland aber nun vor eine weitere Herausforderung: Es wird den Personalmangel in den russischen Truppen weiter verschärfen, prognostizieren britische Geheimdienste. Mittlerweile hat die russische Führung wohl auch die Rekrutierung in Gefängnissen unterbunden.
Dafür mehren sich Berichte darüber, wo Wagner stattdessen nach neuen Rekruten sucht. So soll das Unternehmen etwa eine Anzeige auf Pornhub geschaltet haben, wie Sie hier sehen. Laut der US-Denkfabrik "Insitute for the Study of War" (ISW) weitet Prigoschin seine Suche aber auch auf jüngere Zielgruppen aus, etwa auf Schüler. Demnach hat Wagner in den vergangenen Wochen sechs Rekrutierungszentren eröffnet, und zwar in Sportzentren und Schulen.
Besonders intensiv wirbt die Gruppe derzeit wohl in der Region Murmansk. Dort soll eine Bildungsbehörde Wagner-Mitarbeiter in Berufsberatungsangebote für Schüler einbezogen haben, wie das unabhängige Medienprojekt "Sota" berichtet. Diese Mitarbeiter sollen den Kindern "Heldengeschichten" über Wagner erzählt und für ein Sommercamp auf der Krim geworben haben. Die Behörde wies das als Falschinformationen zurück.
- twitter.com: Thread von Ministry of Defence (englisch)
- theguardian.com: "'He's really dangerous': fear as Wagner convict soldiers return from Ukraine" (englisch)
- kyivindependent.com: "Podolyak: Nearly 80% of Russian prisoners recruited by Wagner Group killed, injured, captured by Ukraine" (englisch)
- unterstandingwar.org: "RUSSIAN OFFENSIVE CAMPAIGN ASSESSMENT, MARCH 11, 2023" (englisch)
- Telegram: Kanal von SOTA (russisch)