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Ex-Ukraine-Botschafter Melnyk: "Deutschland lässt mich nicht los"


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Ex-Botschafter Melnyk
"Habe hoffentlich nichts mehr mit Deutschland zu tun"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 10.11.2022Lesedauer: 10 Min.
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t-online in Kiew: Im Gespräch hat der ehemalige Ukraine-Botschafter eine klare Meinung zum Umgang des Westens mit Putin. (Quelle: t-online)
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Er legte sich mit der Kanzlerpartei an und erhitzte regelmäßig die Gemüter der Deutschen: Nun ist der frühere ukrainische Botschafter Andrij Melnyk in seine Heimat zurückgekehrt. t-online traf ihn für einen Spaziergang durch Kiew.

t-online: Herr Melnyk, hatten Sie heute Strom?

Andrij Melnyk: Ich hatte heute Glück in meinem Viertel. Aber die Gesamtlage in Kiew ist sehr schwierig. Täglich gibt es – planmäßig – stundenlang keinen Strom, mal fällt das Wasser aus, mal die Heizung.

Laut der ukrainischen Regierung hat die russische Armee rund 40 Prozent der Energieversorgung zerstört. Wie gehen die Menschen im Alltag damit um?

Die Menschen nehmen diesen Zustand erstaunlich gelassen zur Kenntnis. Die Energieversorger korrigieren immer wieder ihre Pläne, wann wer mit Strom versorgt wird, um das Netz zu stabilisieren. Wenn man sich darauf einstellen kann, ist es leichter. Aber man bereitet sich auf noch Schlimmeres vor.

Droht Kiew ein kompletter Blackout?

Es kann niemand sagen, wie schlimm es wird. Hoffentlich wird es keinen Blackout geben. Die perfide Kriegsstrategie der Russen, die auf dem Schlachtfeld geschlagen werden, besteht ja vor allem darin, unsere Energieinfrastruktur im gesamten Land mit Raketen und Drohnen zu zerstören. Laut Völkerrecht sind das klare Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Doch welche Wahl hat man als Kiewer? Keine. Es wird weiter gebombt werden. Man muss damit klarkommen. Dieser Winter wird hart, aber wir werden ihn durchstehen. Aus Berlin erwarten wir, dass die Ampel uns neue Luftabwehrsysteme zügig liefert.

Nächste Woche treffen sich die G20-Staaten auf Bali, nun hat Russlands Präsident seine Teilnahme offenbar abgesagt. Wie stehen die Chancen auf Verhandlungen?

Es war falsch, ihn überhaupt einzuladen. Die ukrainische Position ist klipp und klar: Isoliert den Kriegsverbrecher Putin und den Terrorstaat Russland auf der Weltbühne. Dann merken alle Russen, dass ihr Zar, wie im Märchen, nackt dasteht, dass man ihn wie einen Aussätzigen behandelt. Ich weiß, dass vor allem in Deutschland die Stimmen lauter werden, man dürfe gerade jetzt den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen.

Können Sie dem etwas abgewinnen?

Das ist das übliche Gerede, das wir noch aus der Merkel- und Steinmeier-Ära kennen. Wir haben gesehen, wohin uns dieser Appeasement-Kurs gegenüber Moskau gebracht hat: in das heutige Desaster.

Was ist daran falsch, Verhandlungsmöglichkeiten auszuloten?

Ich hätte mir einfach nicht vorstellen können, wie Putin mit Scholz, Biden und anderen an einem Tisch sitzt, man gemeinsam redet und vielleicht sogar Scherze macht. Das verfehlt das Ziel. Putin soll merken, dass Russland ein Paria-Staat geworden ist und ihm keiner mehr die Hand reicht. Der Kreml ist im Moment nicht bereit für Verhandlungen. Das wissen alle, auch die Deutschen. Das ganze Gequatsche über Friedensgespräche sind nur Nebelkerzen Putins, nichts weiter als Altweibergeschwätz.

Wenn der Kremlchef gar nicht verhandeln will, warum hatte er dann zwischenzeitlich überhaupt eine Gipfelteilnahme erwogen?

Wegen der Bilder. Fotos von Putin, Schulter an Schulter mit Biden, Scholz und dem Rest der zivilisierten Welt – das würde reichen, um sich in Russland und Europa als 'großer Friedensstifter' zu inszenieren. Der Kremlchef stünde wieder im Fokus der Weltaufmerksamkeit: Viele wollen mit ihm reden, jeder will derjenige sein, der Putin etwas abringt. Aber das ist eine Falle: Putin erzeugt nur den Anschein, er wolle verhandeln. In dieselbe Falle ist Olaf Scholz schon einmal getreten, bei seinem Moskau-Besuch am 15. Februar 2022, wo die Ampel ernsthaft glaubte, Putin vom mörderischen Überfall abgebracht zu haben. Neun Tage später hat dieser einen Vernichtungskrieg gegen die Ukrainer vom Zaun gebrochen.

Hat Scholz bei seiner jüngsten China-Reise nicht zu Putins Isolation beigetragen? Chinas Staatschef Xi Jinping hat sich mit deutlichen Worten gegen einen Atomkrieg ausgesprochen – mit klarem Wink nach Moskau.

Das wird jetzt im deutschen Mainstream so verbreitet, dass Olaf Scholz hier den Riesenerfolg hatte. Als sei das ein Beispiel für die hohe Kunst der Diplomatie. Tja, in der Ukraine können wir nach dem Besuch des Kanzlers in China jedenfalls nicht ruhiger schlafen.

Noch nie hat China sich öffentlich so deutlich gegen die russischen Nukleardrohungen gestellt. Ist das nichts?

Ich bin mir nicht sicher, ob sich Putin davon beeindrucken lässt, dass Xi sich gegen einen Atomschlag ausspricht. Wer würde schon einen Nuklearangriff gutheißen? Ein Ultimatum wäre hier viel wichtiger gewesen: Wenn die Chinesen gemeinsam mit den Deutschen, den Amerikanern und anderen Atommächten den Russen klar signalisiert hätten: Schließt ihr das nicht sofort aus, wird das verheerende Konsequenzen haben. Dann hätte ich gesagt: Bravo, Kanzler Scholz. Aber sich zu freuen, dass die Chinesen das gesagt haben? Sorry, das Prinzip Hoffnung ist nicht seriös.

Wie könnte ein solches Atom-Ultimatum aussehen?

Entscheidend ist, dass man klar benennt, welche desaströsen Folgen ein russischer Atomschlag in der Ukraine für Putin hätte. Nicht wie in den Wochen vor dem großen Krieg am 24. Februar, als der Westen gepredigt hat: Wir verraten Putin unsere Reaktion nicht, wenn er angreift. Das galt als angeblicher Trumpf, um ihn vom Einmarsch abzuhalten. Was hat es gebracht? Nichts! Putin beherrscht dieses Pokerspiel besser.

Womit sollte die Nato Ihrer Meinung nach konkret drohen?

Worte reichen nicht. Der Westen muss glasklar formulieren, welche gravierenden Konsequenzen ein nuklearer Angriff nach sich ziehen würde: für Putin persönlich, sein Regime, für Russland als Staat. Die Nato ist die größte Atommacht und ich glaube, dass man diese präventive Drohung auch in den Raum stellen sollte: Der Westen muss sehr deutlich machen, dass er vor einem nuklearen Zweitschlag nicht zurückschrecken würde, wenn Putin zur Bombe greift.

Eine Atombombe auf russischem Gebiet? Dann hätten wir einen Atomkrieg.

Es geht um die Aufrechterhaltung einer glaubwürdigen Drohkulisse als Reaktion auf einen möglichen russischen Nuklearschlag, der hoffentlich nie geschieht. Im Kalten Krieg hat diese Abschreckungslogik perfekt funktioniert, allen war klar: Ein Atomschlag kommt einem Selbstmord gleich, weil die andere Atommacht adäquat reagieren würde. Nur so wurde die Welt von einem nuklearen Inferno bewahrt.

Verstehen Sie Menschen in Deutschland, die sich vor genau diesem Szenario fürchten und daher fordern, auf Russland zuzugehen?

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Ich kann die Angst verstehen. "Keiner will sterben, das ist doch klar", singt Udo Lindenberg, einer meiner Lieblingssänger. Die Bundesrepublik liegt geografisch vor der Haustür der Ukraine. Die Tschernobyl-Katastrophe hat auch Deutschland betroffen, noch heute, 36 Jahre danach, sind Gebiete in Bayern verseucht. Ein Atomkrieg in Europa hieße auch für Deutschland nichts Gutes, das wäre ein Armageddon für uns alle. Der Westen hat sämtliche Mittel in der Hand, um Putin von diesem wahnsinnigen Schritt abzubringen, aber nicht durch falsches Einlenken, sondern nur aus einer Position der Stärke heraus.

Präsident Selenskyj hat im Oktober ein Dekret unterschrieben, das Verhandlungen mit Putin verbietet. War das im Nachhinein ein Fehler?

Für deutsche Ohren mag das überraschend klingen, aber dahinter verbirgt sich eine klare Logik. Momentan will ja Putin selbst nicht verhandeln. Alles Kreml-Gequatsche darüber ist nichts anderes als ein Täuschungsmanöver. Mit diesem Dekret signalisierte Präsident Selenskyj den russischen Eliten, dass sie ihren Präsidenten unter Druck setzen müssen, wenn sie ihren Staat und ihr Leben nicht verlieren wollen. Es würde reichen, ihn abzusetzen, etwa mit dem Verweis auf gesundheitliche Gründe, oder in den Ruhestand zu schicken. Dann werden wir schauen, ob sein Nachfolger ein echtes Interesse an Verhandlungen hat.

Und wenn der Nachfolger noch brutaler als Putin ist? Entsprechende Kandidaten gibt es genug.

Das ist ein Schreckgespenst, das schon nach der Krim-Annexion 2014 in Berlin heraufbeschworen wurde. Nach dem Motto: Es könnte der Fall eintreten, dass wir Putin noch vermissen werden. Das ist reine Spekulation, die Putin letztlich im Amt gehalten und ihm den Rücken gestärkt hat.

Selenskyj hat zuletzt mehrere Vorbedingungen für Verhandlungen mit Russland formuliert. Darunter: die Bestrafung von Kriegsverbrechern, eine Kompensation für Kriegsschäden und die Achtung der territorialen Integrität der Ukraine. Sind das realistische Forderungen?

Ich glaube schon. Zumindest ist es ein guter Wegweiser für unseren Feind, um zu erkennen, welche Voraussetzungen zu erfüllen sind, um eine Einigung zu erzielen.

Laut einem US-Medienbericht drängen die USA die ukrainische Regierung dazu, sich zumindest verhandlungsbereit zu zeigen. Kurz darauf hörte man Selenskyj plötzlich sagen, der Westen müsse Russland zu Verhandlungen "zwingen". Von seinem Dekret hört man dagegen nichts mehr. Ändert er seine Strategie?

Ich denke, er präzisiert sie nur. Das Dekret gilt weiterhin, aber der Präsident sagt nun viel deutlicher: Wenn es echte Verhandlungen geben sollte, stellen wir sie uns so vor. Und nur unter diesen Bedingungen tun wir das. Ich sehe da keinen Zusammenhang mit dem Bericht.

Aber spüren Sie nicht einen wachsenden Druck aus westlichen Hauptstädten, auf Russland zuzugehen?

Nicht auf Regierungsebene, Gott sei Dank. Aber wir beobachten natürlich all die gesellschaftlichen Debatten, auch in Deutschland, mit Sorge. Es ist doch absurd zu unterstellen, wir Ukrainer wollten unendlich Krieg führen, wenn wir doch am meisten darunter leiden. Die Schlacht tobt auf unserem Boden, nicht in Russland, alles wird bei uns buchstäblich in Schutt und Asche gelegt. Die Zivilisten sind am meisten betroffen. Wir Ukrainer sehnen uns nach Frieden. Doch solange Putin nur taktiert und sich als 'Friedensstifter' inszeniert, haben Verhandlungen keinen Sinn.

Aus den Reihen der US-Republikaner, die gerade bei den Midterms den Kongress erobern könnten, wurde offen gedroht, die Ukraine-Hilfen zu streichen. Wie abhängig ist Ihr Land vom Westen?

Unser Verteidigungskampf hängt zum großen Teil von unseren westlichen Verbündeten ab. Sollten sie morgen Waffenlieferungen einstellen, würde es eng werden. Die westlichen Staaten, vor allem die Deutschen, wissen ganz genau, dass sie dadurch eine verstärkte Verantwortung für unser Überleben als Staat tragen und ihr gerecht werden müssen.

Haben Sie Sorge, dass man die Ukraine militärisch im Stich lässt?

Nein. Aber durch die heutige Salamitaktik könnten uns moderne schwere Waffen vorenthalten werden, die wir gerade jetzt, vor dem Wintereinbruch, am meisten benötigen. Aus Deutschland wären das zum Beispiel die Leopard-Kampfpanzer oder Marder-Schützenpanzer. Diese "Waffen-Diät" ist falsch, denn damit würde man den Krieg nur unnötig verlängern. Das muss aufhören.

Sie haben sich vergangene Woche mit Präsident Selenskyj getroffen. Haben Sie auch über Deutschland gesprochen?

Zu meiner Überraschung gar nicht. Auch nicht über meine Abberufung. Aber mein Präsident hat sich eine Stunde und 15 Minuten Zeit genommen für mich. Das ist sehr ungewöhnlich. Und wir haben vor allem über die Zukunft gesprochen. Ich habe mich bei Wolodymyr Selenskyj ausdrücklich bedankt für sein ungebrochenes Vertrauen und seine Geduld mit meinem – nicht immer orthodoxen – Stil der Diplomatie.

Sie waren als Botschafter in Deutschland umstritten: Die einen nannten Sie Undiplomat, die anderen effektiv. In welchem Lager verorten Sie Selenskyj?

Ich glaube, mein Präsident war selbst nicht immer happy mit meinen kreativen Methoden, aber er hat mich tief in seinem Herzen verstanden und mich immer moralisch stark unterstützt. Ich hatte eine gewisse Carte blanche von ihm und spürte seine volle Rückendeckung. Ohne seine ständige Unterstützung hätte ich in Berlin gar nichts bewirken können. Aber ich war nicht nur vielen Politikern in Deutschland ein Dorn im Auge. Auch zu Hause musste ich oft beweisen, dass meine offensive Art von Diplomatie richtig war.

Erhitzten Sie die Gemüter dort auch so sehr wie in Deutschland?

Ich muss gestehen, dass ich die schlimmsten Shitstorms in der Ukraine erleben musste, nicht in Deutschland. Das war ganz furchtbar. Mir wurde von manchen Politikern und Medien vorgeworfen, ich würde unsere deutschen Freunde vergraulen. Soweit ich weiß, wurde es dem Präsidenten von vielen Seiten nahegelegt, dass ich eine Fehlbesetzung wäre und abberufen werden müsste. Diese interne Front war für mich eine schmerzhafte Erfahrung.

Ein Beispiel?

Wladimir Klitschko, den ich übrigens sehr schätze als einen Top-Sportler und sehr mutigen Menschen, hat mich öffentlich für meine "undiplomatischen Äußerungen" in Richtung Olaf Scholz kritisiert. Ich war geschockt. Normalerweise sagt man dem eigenen Botschafter auf diese Weise nicht, was er zu tun hat. Ich würde Herrn Klitschko auch keine Ratschläge erteilen, wie man besser boxt. Damit wurde die Position der Ukraine geschwächt. Wladimir Klitschko war noch am 1. April in Berlin zu Besuch, um mit seiner "good cop"-Methode schwere Waffen zu holen. Der Kanzler posierte für Fotos mit ihm, er wurde von vielen Ministern hofiert. Nach ein paar Wochen habe ich ihn dann gefragt: "Na, wo sind die Leoparden?"

Sie haben die Höhen und Tiefen der deutschen Waffendiskussionen hautnah miterlebt, haben Gespräche geführt, Wunschlisten erstellt, Scholz beobachtet. Was ist Ihre Bilanz: Welche Methode wirkt beim Kanzler?

Mein Verständnis ist, dass bei Kanzler Scholz – leider – nur öffentlicher Druck wirkt, obwohl auch das keine Erfolgsgarantie ist. Olaf Scholz ist für mich ein Enigma, bis zuletzt blieb er mir ein Rätsel. Ich weiß, dass auch seine Koalitionspartner, die Grünen und die FDP, ähnliche Erfahrungen fast täglich machen müssen.

Hat Sie die massive Kritik nie zum Umdenken gebracht?

Nein. Ich bin meiner harten Linie immer treu geblieben, obwohl ich wusste, dass ich mich auf sehr dünnem Eis bewegte. Aber ich sagte mir: Scheißegal, wenn ich abberufen werde, dann ist das so. Die Welt wird nicht untergehen. Ich habe trotzdem viel länger durchgehalten, als ich dachte. Ich habe nie eigene Interessen verfolgt, ganz im Gegenteil, habe sogar meine Karriere als Diplomat aufs Spiel gesetzt.

Hat Ihnen Selenskyj bei Ihrem Treffen auch gesagt, wo er Sie künftig einsetzen wird?

Darüber darf ich noch nicht sprechen. Wir haben viele Optionen sehr detailliert besprochen. Der Ball liegt nun beim Präsidenten.

Auch eine mit Deutschland-Bezug?

Nein, mit Deutschland werde ich hoffentlich nichts mehr direkt zu tun haben.

Erleichtert Sie das?

Ja. Mental bin ich immer noch dort, die Umstellung fällt mir schwer. Ich war viel zu lange in dieser deutschen Matrix. Die Amtszeit in Berlin war kein Beruf, das war mein ganzes Leben. Ich schlafe nicht gut, ehrlich gesagt, vieles beschäftigt mich noch. Ich will einen Cut machen, aber das ist mir noch nicht gelungen.

Haben Sie noch nicht abgeschlossen damit, dass Sie jetzt einen Nachfolger haben?

Doch, habe ich. Es ist einerseits ein befreiendes Gefühl, dass ich nicht mehr verantwortlich dafür bin, was mit Deutschlands Ukraine-Politik passiert. Aber andererseits ist die Bundesrepublik ein zu wichtiges Land für Kiew. Ich betrachte es nach wie vor als meine Aufgabe, mich als Bürger zu Wort zu melden. Ich will loslassen, aber Deutschland lässt mich nicht los. Man fragt sich, ob man wirklich alles getan hat, was man hätte tun können.

Haben Sie Schuldgefühle?

Ja, auf jeden Fall, für mich als Christ ist das selbstverständlich, dass man sich am Abend fragt: Hast du alles gegeben? Was hättest du besser machen können? Was hast du unterlassen? Im Kriegszustand ist das noch dramatischer, weil so viel für mein Land davon abhängt, was ich in Berlin erreiche oder halt nicht. Ich werfe mir manchmal vor, dass ich viel früher undiplomatisch hätte werden müssen, nicht erst seit dem russischen Überfall am 24. Februar.

Und darüber hinaus?

Vielleicht hätte ich auch beim Thema Nato-Mitgliedschaft stärker durchdringen können. Der Nato-Beitritt der Ukraine ist für Deutschland immer noch ein Tabuthema. Das ist sehr schade, denn ich bin mir sicher, dass nur unsere Mitgliedschaft in dem Verteidigungsbündnis einen neuen Krieg in Europa verhindern kann. Mein wichtigstes Anliegen all die Jahre war es, die Bundesregierung davon zu überzeugen, dass eine ukrainische EU- und Nato-Mitgliedschaft im ureigenen Interesse Deutschlands liegt.

Für Ersteres setzt sich mittlerweile auch Kanzler Scholz ein.

Ja, die Ukraine hat endlich den EU-Kandidatenstatus erworben. Darauf bin ich sehr stolz. Aber die Nato-Mitgliedschaft habe ich leider nicht geschafft, obwohl ich mich bemüht habe.

Herr Melnyk, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Spaziergang mit Andrij Melnyk am 8. November in Kiew
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