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Ukraine-Krieg: Kämpfe um Cherson werden immer heftiger – steht ein Entscheidung bevor?


Steht Entscheidung bevor?
Kämpfe um Cherson werden immer heftiger

Von t-online, dpa, wan

Aktualisiert am 06.11.2022Lesedauer: 4 Min.
Ukrainische Soldaten laden eine deutsche Haubitze mit Munition: Um Cherson toben schwere Kämpfe.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Soldaten laden eine deutsche Haubitze mit Munition: Um Cherson toben schwere Kämpfe. (Quelle: IMAGO/Dmytro Smolienko)

In der Region Cherson haben die Kämpfe zugenommen. Es ist von schwerem Artilleriebeschuss die Rede – von beiden Seiten.

Rund um die südukrainische Stadt Cherson haben sich ukrainische Truppen und russische Besatzer am Samstag schwere Kämpfe geliefert. Nach russischer Darstellung gerieten verschiedene Frontabschnitte in der Region unter schwersten Artilleriebeschuss. An einigen Stellen seien größere Truppenverlegungen und Bewegungen ukrainischer Panzerverbände registriert worden. "Offenbar bereiten die ukrainischen Truppen einen neuen Angriff vor", spekulierte der von Russland eingesetzte Vize-Verwaltungschef der besetzten Region, Kirill Stremoussow.

Auch das ukrainische Militär hatte zuvor von schweren Kämpfen und Artillerieduellen in der Umgebung von Cherson berichtet. Die ukrainische Führung will die Region im Süden des Landes nach ersten Erfolgen noch komplett befreien.

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Strategische und symbolische Bedeutung für Russland

Cherson ist die bislang einzige Gebietshauptstadt, über die Kiew nach dem russischen Einmarsch schon Ende März die Kontrolle verloren hatte. Die Stadt hat aber nicht nur eine symbolische Bedeutung, sondern auch eine strategische. Denn noch hat Russland westlich des Dnepr die Kontrolle, auch in einigen Dörfern. Das Problem für Moskau: Viele Brücken über den Fluss sind zerstört, die russischen Truppen können schweres Gerät, wenn überhaupt nur mit großem Aufwand, aus der Region zurückholen.

Und: Ist Cherson erst einmal wieder in ukrainischer Hand, wird es schwerer, erneut über den Fluss Angriffe zu starten. Hatten die Russen lange Zeit die Oberhand bei der Artillerie, kommen jetzt die Himars-Raketenwerfer aus dem Westen zum Einsatz. Und diese können sehr präzise russische Stellungen und Einrichtungen treffen.

Lage vor Ort noch verworren

Auch wenn unklar ist, wie viele russische Soldaten sich noch in der Region befinden, eine Niederlage würde nicht nur große personelle Verluste bedeuten, sondern auch von militärischem Gerät. Schon jetzt schlägt die Ukraine mit eroberten Waffen zurück.

Trotz der Meldungen schwerer Kämpfe ist die Situation in Cherson aber schwer einzuschätzen, und dazu gehören auch Berichte, die offenbar Teil eines Propagandakriegs sind. So wurden Bilder der Stadtverwaltung in sozialen Medien gestreut, auf denen die russische Flagge nicht mehr weht. Wladimir Putin kündigte eine Evakuierung der Bevölkerung an.

Es gab auch Hinweise auf den Rückzug von Truppenteilen. Das könnte aber genauso eine Finte sein. Denn noch haben die russischen Besetzer Durchhaltewillen und auch Ausrüstung. "Ihre Versorgungswege sind zwar stark ramponiert, aber offenbar nicht abgeschnitten: Er sei überrascht gewesen von der Feuerkraft, über die die Russen noch immer verfügen, sagt ein ukrainischer Späher nach jüngsten Gefechten", schreibt der "Spiegel" über die Lage in der Region.

An einen heimlichen Rückzug der Russen aus der strategisch wichtigen Stadt will die ukrainische Führung nicht glauben. "Die Russen haben ihre besten Truppen in Stellung gebracht, niemand ist abgezogen", sagte jetzt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj der italienischen Zeitung "Corriere della Sera". Der britische "Observer" zitiert die ehemalige Cherson-Einwohnerin Alyona Lapchuk: "Die Russen verkleiden sich als Zivilisten." Sie fürchte, dass Moskau auf einen Straßenkampf setze, der sich lange hinziehen kann. Sollte dieser verloren werden, würden die Truppen die Stadt zerstören.

Berichte über Plünderungen und Zerstörungen

Das amerikanische "Institute for the study of war", das täglich die Lage im Krieg analysiert, sieht erhebliche Probleme auf das russische Militär zukommen. "Russische Streitkräfte schaffen Bedingungen für einen kontrollierten Rückzug aus dem nordwestlichen Gebiet Cherson, um wahrscheinlich eine ungeordnete Flucht vom rechten (westlichen) Ufer des Flusses Dnipro zu vermeiden. Die russischen Streitkräfte werden wahrscheinlich einen Rückzug im Kampf durchführen müssen, um zu verhindern, dass die ukrainischen Streitkräfte sie auf das linke (östliche) Ufer verfolgen."

Russland scheint der Armee der Ukraine noch viele Verluste zuzufügen, bevor man abzieht. Ob dabei auch wichtige Einrichtungen zerstört werden, bleibt abzuwarten. So gab es Gerüchte um das Dnipro-Stauwerk in Nowa Kachowka, etwa 80 Kilometer flussaufwärts des Stadtzentrums von Cherson. Der Kreml warf Kiew zuletzt vor, den Damm sprengen zu wollen – und löste damit die Furcht aus, dass Russland eben das plant.

"Wir bekommen widersprüchliche Informationen. Es gibt eine Bewegung vom rechten Ufer zum linken Ufer. Es ist schwer zu verstehen, was genau die russische Absicht ist", sagte Serhii Khlan, der stellvertretende Leiter des Regionalrats von Cherson, gegenüber dem "Guardian". Es habe glaubwürdige Berichte gegeben, dass russische Soldaten von Pier zu Pier am Flussufer gegangen seien und einige Boote gestohlen und andere versenkt hätten. "Gute Boote werden abgeschleppt und weggebracht. Was ihnen nicht gefällt, hacken sie mit einer Axt", sagte laut Bericht ein Einheimischer.

Am 18. Oktober hatten die Besatzer angesichts massiven Beschusses von ukrainischer Seite zur Evakuierung der Stadt aufgerufen. Nach offiziellen Angaben sollen bereits 80.000 Menschen das Gebiet Cherson verlassen haben. Die Ukraine spricht von Verschleppung der Menschen.

In den umkämpften Teilen der Region sollen weiter 170.000 Menschen ausharren, die bisher nicht fliehen wollten oder konnten. Nach nicht überprüfbaren Angaben des russischen Verteidigungsministeriums werden weiter rund 5.000 Menschen täglich über den Fluss Dnipro in Booten und über eine Pontonbrücke in Sicherheit gebracht.

Der britische "Guardian" berichtet derweil, dass russische Einheiten Cherson nach Belieben plündern. Russische Truppen schleppten Krankenwagen, Traktoren und gestohlene Privatautos ab. Auch vor Kulturgut machten sie nicht halt: Archive, Gemälde und Skulpturen aus den Kunst- und Heimatmuseen. Sogar die Gebeine des Freundes und Liebhabers von Katharina der Großen, Grigory Potemkin, seien aus einer Krypta in der St.-Katharinen-Kathedrale ausgegraben worden.

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