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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Putins vergiftetes Angebot
Fast vier Stunden poltert der russische Präsident in Moskau gegen den Westen. Dabei macht Putin im Ukraine-Konflikt zwar ein Gesprächsangebot, aber das ist vergiftet.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Westen vor einer weiteren Zuspitzung der Lage in der Ukraine gewarnt. Der Westen spiele ein "gefährliches, blutiges und schmutziges" Spiel, sagte Putin am Donnerstag bei einem fast vierstündigen Auftritt bei einer Diskussionsveranstaltung in Moskau.
"Wir stehen an einer historischen Schwelle: Vor uns liegt das wahrscheinlich gefährlichste, unberechenbarste und zugleich wichtigste Jahrzehnt seit Ende des Zweiten Weltkriegs." Früher oder später werde der Westen mit Russland aber über eine gemeinsame Zukunft sprechen müssen. Russland sei bereit zum Dialog mit der Ukraine zur Beendigung des Konflikts, Kiew wolle aber nicht an den Verhandlungstisch. Dabei könnte das Problem einfach gelöst werden, sagte Putin: die USA müssten die Ukraine zu Friedensgesprächen drängen.
Der Kreml möchte den Anschein erwecken, dass die Ukraine und die USA einem Frieden entgegenstehen. Das stimmt nicht. Nur er hat den Angriffskrieg in der Ukraine begonnen, nur er könnte den Konflikt schon morgen beenden, indem er die russischen Truppen vom Staatsgebiet der Ukraine abziehen lässt. Bislang kam aus Moskau kein Angebot für einen Waffenstillstand, das Kiew annehmen konnte. Bei Putins Ausführungen wird daher vor allem eine Sache deutlich: Das russische Gesprächsangebot ist vergiftet, denn es soll den Westen spalten und keinen Frieden bringen.
Putin hat in Moskau erneut die Gelegenheit genutzt, um seine bekannten Kriegslügen zu verbreiten. Er hat sich mit dem Überfall auf die Ukraine verrechnet und scheint nun Geschichtsklitterung betreiben zu wollen. Das wird bei seinem Auftritt in Moskau immer wieder deutlich.
Putin löste Eskalation aus
Auch die USA gehen nicht davon aus, dass Russland wirklich gesprächsbereit ist. Ein Sprecher der US-Regierung erklärte, die Ausführungen Putins enthielten wenig Neues und deuteten nicht darauf hin, dass das Land seine strategischen Ziele verändert habe.
Die jüngsten Entwicklungen seien unvermeidlich gewesen, sagte Putin. Er denke zwar ständig an die Verluste, die Russland in der Ukraine erlitten habe; aber Russland habe seine Souveränität gestärkt und die Wirtschaft habe sich besser gehalten als gedacht. Es gebe nichts in diesem Jahr, worauf er mit Enttäuschung zurückblicke. Bei dem seit Februar laufenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind zehntausende Menschen getötet worden, darunter zahlreiche russische Soldaten. Der Westen hat wegen des russischen Vorgehens scharfe Sanktionen gegen das Land verhängt.
Klar ist: Der Kremlchef baut stetig an dem Narrativ, dass der Westen Russland die Kämpfe in der Ukraine aufgezwungen habe. Das stimmt nicht, denn die Nato hatte zum Beispiel nie vor, die Ukraine in das Militärbündnis aufzunehmen. Außerdem war es der Kreml, der 2014 Separatisten im Donbass unterstützte, die Krim annektierte und so das Fundament für die gegenwärtigen Spannungen legte. Putin wollte nicht zulassen, dass die Ukraine – die seiner Auffassung nach ohnehin keine historische Existenzberechtigung als Staat hat – sich in Richtung Westen orientiert.
Russischer Energiekrieg
Vielen europäischen Ländern wiederum machen stark gestiegene Energiekosten zu schaffen, da kaum noch russisches Gas nach Europa strömt. Dabei funktioniere eine Röhre von Nord Stream 2 noch, sagte Putin. Aber Europa wolle sie nicht nutzen. Russland sei nicht für die Krise in Europa verantwortlich, sondern die Staats- und Regierungschefs der europäischen Länder. Russland sei auch nicht Europas Feind und habe niemals böswillige Absichten gegenüber Europa gehabt.
Auch das ist eine Lüge. Immerhin hat Putin einen Krieg in Europa begonnen. Es ist Russland, das versucht, mit Gewalt Grenzen zu verschieben. Das löste eine Energiekrise aus und die kostet viele Menschen Wohlstand, in Russland, und im Rest Europas. Aber dafür ist nur einer verantwortlich: Und das ist Wladimir Putin.
Die Debatte um Atomwaffen habe an Schärfe zugenommen, so Putin. Das liege an der britischen Ex-Premierministerin Liz Truss, die erklärt habe, ihr Land sei zum Einsatz von Atomwaffen bereit, wenn es die Umstände erforderten. Russland habe nie über die Nutzung von Atomwaffen gesprochen. Tatsächlich aber hatten sich Putin und andere ranghohe Politiker sehr wohl dazu geäußert. Ex-Präsident Dmitri Medwedew etwa hatte Ende September erklärt, Russland habe das Recht zum Einsatz von Atomwaffen, "wenn es nötig ist". Dies sei "sicher kein Bluff". Putin sagte am Donnerstag, Russland habe zwar eine Militärdoktrin, die auch den Atomwaffeneinsatz vorsehe. Dies sei aber nur für den Verteidigungsfall gedacht.
"Schmutzige Bombe": Vorwürfe gegen Kiew
Zu Russlands Vorwurf, die Ukraine plane den Einsatz einer "schmutzigen Bombe", bekräftigte Putin, Kiew habe die Technologie, um eine solche Bombe zu bauen. Er habe deshalb seinen Verteidigungsminister aufgefordert, den Westen über das Risiko einer solchen Bombe zu informieren. Als "schmutzige Bombe" wird ein mit radioaktivem Material versetzter Sprengsatz bezeichnet, der zwar schwere Verwüstungen anrichten kann, in seiner Kraft aber nicht mit einer Atombombe vergleichbar ist.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Ukraine ihre eigene Bevölkerung und ihr Staatsgebiet verseuchen würde. Das macht militärisch auch keinen Sinn, immerhin gewinnt die ukrainische Armee an Boden. Im Westen wächst die Sorge, dass der Kreml im Angesicht der ukrainischen Gegenoffensive den Einsatz einer "schmutzigen Bombe" oder gar einer taktischen Nuklearwaffe in Betracht zieht.
Putin bekräftigte frühere Aussagen, Russland habe versucht, eine freundschaftliche Beziehung zum Westen und zur Nato aufzubauen. Man habe darauf aber negative Antworten bekommen. Der Westen versuche, Russland verwundbar zu machen und überziehe alle mit Sanktionen, die sich ihm nicht beugen wollten. Dabei fordere Russland den Westen nicht heraus, sondern wolle sich das Recht zu einer eigenen Entwicklung erhalten.
Warme Worte für China und die Türkei
Die Sanktionen des Westens gegen Moskau gibt es allerdings nur, weil Russland seit 2014 Landraub von ukrainischem Staatsgebiet begeht. Diese haben nichts mit der Unterdrückung der Russischen Föderation zu tun, sondern es sind die Folgen von Putins Aggressionen. Immerhin haben viele westliche Länder enge wirtschaftliche Verbindungen mit Russland geknüpft, haben sich in große Abhängigkeit von russischen Rohstoffen gebracht und viele Warnzeichen für diesen Krieg ignoriert. Die freundschaftlichen Beziehungen hat Putin demoliert.
Der russische Präsident hob zudem das Nato-Mitglied Türkei und China positiv hervor. Die Türkei sei ein zuverlässiger Partner und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein starker Führer. Es gebe viele gemeinsame Interessen beider Länder. Die Beziehungen Russlands zu China seien sehr offen und effektiv. Der Handel zwischen beiden Ländern nehme zu. Den chinesischen Präsidenten Xi Jinping bezeichnet Putin als Freund. Auch die Rolle Indiens in internationalen Beziehungen werde wachsen. Zudem müsse dem zuletzt von den USA kritisierten saudischen Kronprinzen Respekt gezollt werden.
Putin hebt demnach vor allem die Staaten hervor, die den russischen Angriffskrieg auf der internationalen Bühne aus Eigeninteresse nicht geißeln. Die Türkei und Indien verhalten sich vor allem aus wirtschaftlichen Interessen neutral, wogegen China wie Putin eine multipolare Welt anstrebt und sich in einem geopolitischen Konflikt mit den USA sieht. Putin weiß, dass er sich mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine abhängig von der Volksrepublik gemacht hat, denn eines weiß auch der russische Präsident: Viele Freunde und strategischen Partner hat seine Regierung international nicht mehr.
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters