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Thomas Manns "Zauberberg": Hundert Jahre alt – und topaktuell


Meinung
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Tagesanbruch
Eine düstere Vorahnung

MeinungVon Florian Harms

19.11.2024 - 02:44 UhrLesedauer: 6 Min.
Szene aus der "Zauberberg"-Verfilmung von Hans W. Geißendörfer (1982).Vergrößern des Bildes
Szene aus der "Zauberberg"-Verfilmung von Hans W. Geißendörfer (1982). (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Zeiten sind wild: Tag und Nacht flackern Nachrichten über die Bildschirme, viele beunruhigend, einige alarmierend. Mächtige Menschen sagen dies und tun jenes, oft auch gleichzeitig. Während sich in Berlin Politiker streiten, in Washington Revolutionäre die Chefbüros beziehen und auf den ukrainischen Schlachtfeldern Tausende sterben, empfinden zwischen Flensburg und Füssen, Dresden und Duisburg viele Bürger eine wachsende Beunruhigung. "Hast du gesehen, wie viele Obdachlose nun auf den Straßen sind?", raunte mir ein Freund kürzlich zu, um dann von der Anspannung an seinem Arbeitsplatz zu berichten: wieder ein Auftrag geplatzt, was soll nur werden?

Die Zeiten werden kälter, und das liegt nicht allein am nahenden Winter. Die Preise sind hoch, Geschäfte laufen schlecht, ganze Branchen trudeln in die Krise. Wenn die Leute von VW und Mercedes in China kaum noch Autos verkaufen, verlieren hierzulande Hunderte Zuliefererbetriebe Aufträge, droht Zehntausenden Angestellten der Jobverlust. Zugleich geht in Banken, Kanzleien und Verlagen die Angst vor den künstlichen Intelligenzalgorithmen um: Was, wenn Maschinen meine Aufgaben übernehmen? Ganz zu schweigen von der Not der Freiberufler: Erst traf sie die Arbeitssperre während der Pandemie, nun gibt ihnen die Inflation den Rest, weil Auftraggeber ihre Etats zusammenstreichen. Ungezählte Bühnenkünstler, Fotografen, Autoren bangen um ihre Berufsexistenz.

Die Zeiten sind hart für viele Menschen, und sie werden täglich härter. Viele ahnen, dass die Talsohle noch nicht erreicht ist: Was kommt noch auf uns zu in dieser krisengeschüttelten Welt?

In einer derart prekären Lage ist es selten eine gute Idee, sich dem Schicksal zu ergeben. Schließlich lässt sich selbst in tiefen Tälern das Material zum Bau von Flügeln finden, nennen wir es Engagement, Kreativität, Solidarität. Allerdings findet dieses Material leichter, wer die Schluchten des Daseins mit einem wegweisenden Licht ausleuchtet, und damit sind wir nach 2.000 Zeichen Vorrede endlich beim Thema des heutigen Tagesanbruchs.

Dieses Thema ist ein Buch. Morgen vor hundert Jahren, am 20. November 1924, jährt sich sein Ersterscheinungstag. Es zählt zu den größten Werken der Weltliteratur, bis heute sagt es uns mehr als abertausende Nachrichtenartikel, Politikersätze und Fernsehaufgeregtheiten.

Dabei war es gar nicht bedeutungsschwer geplant. "Bequem, lustig und auf begrenztem Raum": So plante Thomas Mann seinen Roman "Der Zauberberg", als er mit dem Schreiben begann. Was er dann auf mehr als tausend Seiten ablieferte, war jedoch etwas ganz anderes: ein intellektuelles Sittengemälde der Moderne, eine humanistische Sinnsuche und urkomische Charakterstudie, ein literarisches Ringen zwischen ironischer Aufklärung und radikaler Ideologie, ein Bildungs-, Abenteuer- und subtiler Erotikroman und zwischen den Zeilen auch eine prophetische Vorahnung der nahenden Weltkatastrophe.

Die Geschichte des jugendlichen Ingenieurs Hans Castorp während eines Kuraufenthalts in einem Lungensanatorium in Davos, sein Sehnen und Suchen, Lieben und Leiden, die Begegnungen mit mehr oder minder skurrilen Patienten, ihre Dispute über Politik, Philosophie, Krankheit und Tod spiegeln die Umbrüche, die Europa für immer verändert haben. Die Handlung beginnt im Jahr 1907 mit Castorps Absicht, sich drei Wochen lang in der Bergluft zu kurieren. Sieben Jahre später ist er immer noch dort, vom "philosophischen Taugenichts" zum ernüchterten Seelenbetrachter gereift, dann verliert sich seine Spur auf den Schlachtfeldern Flanderns.

So wie sein Held in der entrückten Bergwelt die Realität aus den Augen verliert, so versank der Autor in seinem Text. Zwölf Jahre strickte der große deutsche Schriftsteller an seiner Story, am Ende hatte er 260.000 Wörter zu Papier gebracht. Jedes sitzt. Vier Jahre nach Erscheinen schon die 100. Auflage! Das Buch seiner Zeit. Der Erste Weltkrieg lag noch kein Jahrzehnt zurück, die Nazi-Herrschaft sollte in weniger als einem Jahrzehnt folgen, die Zerstörung Europas, der Holocaust, der schlimmste Krieg der Menschheit.

Können Bücher Geschichte machen? Natürlich können sie das. Sie verbinden Leser über ein ganzes Jahrhundert hinweg, öffnen Türen zum Erfahren, Erspüren, Begreifen. Und weil Geschichte sich zwar nicht wiederholt, aber Menschen ohne Kenntnis der Geschichte immer wieder dieselben Fehler begehen, wünscht man sich, dass der "Zauberberg" in diesem schrillen Krisenjahr 2024 möglichst viele Leser findet. Wieder tobt ein furchtbarer Krieg in Europa, der global zu wuchern beginnt. Wieder erringen Hassprediger vielerorts die Macht. Wieder schrumpft der Wohlstand, schwanken die Gewissheiten, keifen die Gemeinen von den Kanzeln ihrer Hybris. Daraus kann abgrundtief Böses erwachsen – oder neue Hoffnung. Letzteres mag gelingen, wenn empathische und konstruktive Menschen ihre Stimmen lauter erheben als die Ichlinge.

Das nämlich ist heute nicht weniger wichtig als vor hundert Jahren. Der letzte Satz im "Zauberberg" lautet: "Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?"


Tausend Tage Krieg

Die Zahlen sind monströs: Mehr als 12.000 getötete Zivilisten, Zehntausende gefallene Soldaten und mindestens 300.000 Kriegsversehrte allein auf ukrainischer Seite sind am eintausendsten Tag der russischen Vollinvasion zu bilanzieren. Die Verluste, die Kremlherrscher Wladimir Putin für das langsame, aber stetige Vorrücken seiner Truppen in Kauf nimmt, belaufen sich westlichen Schätzungen zufolge auf mehr als 115.000 gefallene russische Soldaten und mehr als eine halbe Million Verwundete.

Anlässlich der düsteren Wegmarke hält das EU-Parlament in Brüssel heute eine Sondersitzung ab, zu der sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aus Kiew zuschalten lässt. Zeitgleich kommen in der belgischen Hauptstadt die EU-Verteidigungsminister zusammen. Während es als wahrscheinlich gilt, dass Frankreich (wie auch Großbritannien) dem amerikanischen Beispiel folgen und der Ukraine den Einsatz weitreichender Waffen gegen russisches Territorium erlauben wird, hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius die Lieferung von 4.000 KI-gesteuerten Drohnen angekündigt.

Putin schlägt derweil an allen Fronten zu: Mit Kanonen und Soldaten aus Nordkorea rücken seine Todesschwadronen an der nördlichen Front vor, Raketen und Drohnen terrorisieren die ukrainische Bevölkerung, russische Handlanger verüben Anschläge auf Firmen in Deutschland, Polen, England. In den vergangenen Stunden wurden auch noch zwei wichtige Internet-Unterseekabel in der Ostsee gekappt. Außenministerin Annalena Baerbock spricht von "hybrider Kriegsführung" gegen Deutschland; der Zivilschutz in Schweden und Finnland bereitet die Bevölkerungen auf einen Krieg vor. Angesichts dieser Eskalation erscheint verständlich, dass Kanzler Olaf Scholz die Lieferung von weitreichenden "Taurus"-Geschossen weiterhin ausschließt.

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Schwach trifft Stark

Es sind herausfordernde Tage für Olaf Scholz: Während daheim in seiner SPD die Debatte über die Kanzlerkandidatenfrage hochkocht, erlebt er beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro die globale Machtverschiebung: Die westlichen Regierungschefs Biden (abgewählt), Macron (ohne Regierungsmehrheit) und er selbst (dito) sitzen kleinlaut dabei, während Brasiliens Lula, Indiens Modi und Chinas Xi den Kurs vorgeben.

Das dürfte sich heute am letzten Gipfeltag kaum ändern, wenn Scholz Herrn Xi zum Vieraugengespräch trifft. Zum einen wird der Kanzler nicht umhinkommen, die chinesischen Drohnenlieferungen an Russland anzusprechen, die Beteiligung nordkoreanischer Truppen am russischen Angriffskrieg zu verurteilen und Xi dazu aufzufordern, mäßigend auf seinen Vasallen in Pjöngjang einzuwirken. Zum anderen ist da der Streit zwischen der EU und China über E-Auto-Subventionen und Strafzölle, der die deutschen Autobauer lähmt. Viel bewirken kann der geschwächte Kanzler aber weder im einen noch im anderen Fall.


Straflos trotz Verurteilung?

Ende Mai wurde Donald Trump im Prozess um die illegale Verschleierung von Schweigegeldzahlungen an eine Pornodarstellerin schuldig gesprochen. Anfang Juli gewährte der rechtskonservative Supreme Court dem ehemaligen und nun auch künftigen US-Präsidenten weitgehende Immunität. Ob dieses Urteil auf den Schweigegeldprozess anzuwenden ist, muss heute der New Yorker Richter Juan Merchan entscheiden. Sollte er dem Antrag von Trumps Verteidigern stattgeben, wäre der Schuldspruch vom Mai wohl gekippt. Sollte er den Antrag ablehnen, bliebe die Frage, ob die für Ende November geplante Verkündung des Strafmaßes Bestand hat. Schließlich drohen Trump theoretisch mehrere Jahre Haft – ein nach seiner Wiederwahl (leider) unwahrscheinliches Szenario.


Lesetipps

Aus Aserbaidschan werden Sie in den nächsten Tagen Dramatisches hören: Die Klimakonferenz droht zu scheitern. Das wichtigste Ergebnis steht aber schon fest, schreibt unser Kolumnist Uwe Vorkötter.




Ohrenschmaus

Puh, so viel Düsternis. Höchste Zeit für einen Lichtblick!


Zum Schluss

Der CDU-Chef hat im Rennen ums Kanzleramt einen Vorteil.

Ich wünsche Ihnen trotz echter und metaphorischer Wolken einen zauberhaften Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Annika Leister, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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