Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Kanzlerdämmerung
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
ich hätte Ihnen heute lieber eine andere Geschichte erzählt. Eine von gelebter Verantwortung, der Überwindung des eigenen Egos, vom Zurückstellen parteipolitischer Interessen zum Wohle des Landes.
In dieser Geschichte treten ein Kanzler, sein Wirtschaftsminister und sein Finanzminister nach einem Verhandlungsmarathon vor die Presse und verkünden müde, aber erleichtert, eine Einigung. Man sieht ihnen an, wie sie gerungen haben, aber ihr Ziel nie aus den Augen verloren haben: einen Kompromiss, der Deutschland nach vorne bringt, so schmerzhaft er auch sein mag.
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Ziemlich kitschige Geschichte, oder? In jedem Fall eine, die ins Reich der Fantasie gehört. Denn in der Realität ist gestern Abend die gewählte Regierung Deutschlands vor aller Augen kollabiert. Sie hat sich selbst zertrümmert. Politiker aller drei Regierungsparteien haben so lange Kerben und Löcher ins Ampelfundament geschlagen, bis am Ende das gesamte Konstrukt zerbrach. Der Tod der Koalition war bedingter Vorsatz.
Mindestens. Denn seit Mittwochnacht wissen wir: In den letzten Stunden der Ampel hatten mindestens zwei Akteure den Bruch plan- und absichtsvoll vorangetrieben: Zuvorderst Finanzminister Christian Lindner (FDP), der mit seinem Wirtschaftswende-Papier schon vergangenen Freitag die Axt an die Ampel angelegt hatte; und Kanzler Olaf Scholz (SPD), der von Lindner verlangte, die Schuldenbremse auszusetzen, um mehr Investitionen und Ukraine-Hilfen zu ermöglichen. Bekanntermaßen die rote Linie der Liberalen.
Damit war klar: Scholz hatte Lindners Rauswurf bereits einkalkuliert. Eine geleakte Meldung beschleunigte nur das Unausweichliche. Die Verhandlungen am Mittwochabend waren ab diesem Moment eher eine Farce, um Zeit zu gewinnen und im zu erwartenden Blame Game die Deutungshoheit zu erringen. Dafür spricht auch, wie durchdacht und gut vorbereitet Scholz' Rede wirkte, wie kraftvoll er sie vortrug. Auch die gezielten und heftigen Angriffe gegen Lindner ("Egoismus", "kleinkariert", "verantwortungslos") schienen das Produkt reiflicher Überlegung gewesen zu sein.
Lindners Rede wenige Minuten später wirkte dagegen schwach und improvisiert. Scholz hat Lindner auflaufen lassen. Die späte Rache eines Kanzlers, der Lindners Faxen dicke hatte.
Es ist das würdelose Ende einer Regierung, die so unbeliebt war wie keine andere in der Geschichte der Bundesrepublik. Woran sie am Ende scheiterte, wird in den kommenden Tagen noch genau seziert, analysiert und kommentiert werden. War es die Sturheit von Christian Lindner, der zuletzt den Koalitionsvertrag mit dem FDP-Wahlprogramm verwechselte? Das Führungsversagen von Kanzler Olaf Scholz, der die unterschiedlichen Positionen nicht zusammenbinden konnte? Oder waren es die Zumutungen durch Robert Habecks Klimatransformation, für die viele Deutsche noch nicht bereit schienen? Wahrscheinlich alles drei und noch vieles mehr.
Klar ist: Olaf Scholz ist als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland krachend gescheitert. Er hat in der Kernkompetenz eines Bundeskanzlers versagt: die Regierung zusammenzuhalten. Ja, Lindner und Habeck haben es ihm nicht leicht gemacht, und die Zeiten sind – im wahrlich historischen Ausmaße – kompliziert. Aber Strukturprobleme entlassen einen nicht aus der Verantwortung, insbesondere nicht als Regierungschef. Das Versagen der Ampel ist das Versagen von Olaf Scholz. Hier gibt es nichts schönzureden.
Und jetzt? Der Chef des Scherbenhaufens will Herr des Verfahrens bleiben: Scholz kündigte die Vertrauensfrage und Neuwahlen zunächst erst für Anfang 2025 an, bis dahin will er weiterregieren. Scholz erweckte bei seiner Rede den Eindruck, als sei der Ampelbruch keine Niederlage, sondern ein Befreiungsschlag: Steuerentlastung für die Bürger, Sofortmaßnahmen für die Industrie, stabile Renten, mehr Ukraine-Unterstützung, die Reform des Asylsystems – all das sei jetzt möglich ohne die Blockierer von der FDP. Eine Finte, auf die man nicht hereinfallen sollte.
Die Wahrheit ist: Scholz kann nichts davon alleine umsetzen. Er ist ein Miniaturkanzler ohne Mehrheit im Parlament, und plötzlich abhängig von einem Mann, mit dem er sich nicht sonderlich gut versteht: CDU-Chef Friedrich Merz. Ausgerechnet der Oppositionsführer soll Scholz nun aus der Patsche helfen und ihm die Stimmen liefern, um dessen letzte Projekte umzusetzen. Merz wird sich jetzt genau überlegen, ob er Scholz' Kanzlerschaft künstlich am Leben hält und ihm ein solches Wahlkampfgeschenk macht.
Merz könnte Scholz retten und ihn zugleich am langen Arm verhungern lassen: Mal unterstützt er ihn, mal lässt er ihn fallen – eine Schrumpfregierung von Merz' Gnaden. Aber attraktiv ist das nur auf den ersten Blick, auf den zweiten wertet er damit einen geschlagenen Kanzler zum ebenbürtigen Gegner auf. Ein monatelanger Zweikampf Merz versus Scholz mit ungewissem Ausgang wäre die Folge.
Ein solcher Deal wäre auch für Scholz nicht ideal, aber seine politische Lebensversicherung. Denn im Moment scheint nichts ausgeschlossen, auch nicht, dass der Kanzler im Frühjahr 2025 einen zweiten Versuch wagen könnte. Die Verve, mit der Scholz seine Rede am Mittwochabend hielt, legte zumindest den Schluss nahe, dass er bei Neuwahlen erneut als SPD-Kanzlerkandidat ins Rennen ziehen könnte – oder sich zumindest als den geeigneten Kandidaten sieht.
Die SPD sollte sich gut überlegen, ob sie Scholz den Gefallen tut und mit einem gescheiterten Kanzler in den Wahlkampf ziehen will. Das wäre keinem Wähler glaubhaft zu vermitteln, vor allem nicht, da die Sozialdemokraten Deutschlands beliebtesten Politiker, Verteidigungsminister Boris Pistorius, in der Reserve haben.
Trauen sich die Genossen, sich endlich von ihrem unbeliebten Kanzler zu lösen?
Was steht an?
Tapetenwechsel: Während in Berlin die eigene Regierung zerfällt, fliegt Kanzler Scholz am Donnerstag nach Budapest zum Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Zwei Tage nach der US-Wahl treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in der ungarischen Hauptstadt, um über aktuelle sicherheitspolitische Themen wie den Ukraine-Krieg und die Lage in Nahost zu sprechen. Auch Vertreter der Ukraine, Großbritanniens, Georgiens und der Nato sind geladen.
Sinkt der Leitzins nach der Trump-Wahl? Die Inflation in den USA war eines der großen Themen im Wahlkampf. Viele gaben den Demokraten unter Joe Biden die Schuld an den hohen Preisen und machten bei Donald Trump ihr Kreuz. Doch ob unter dem Republikaner die noch immer hohe Kerninflation sinken wird, ist von vielen Faktoren abhängig – unter anderem, wie die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) an diesem Donnerstag entscheiden wird: Senkt sie erneut den Leitzins um 0,25 Prozent, wie Analysten erwarten?
Was lesen?
Die Ampelkoalition ist gescheitert, Olaf Scholz hat sich den Bruch seiner Regierung selbst zuzuschreiben. Zu lange hat er es versäumt, eine Linie vorzugeben, seinen Kurs zu erklären, klare Kante zu zeigen. Die Kanzlerschuhe sind zu groß für ihn, kommentiert Florian Harms.
Am Ende reicht es ihm: Olaf Scholz wirft Christian Lindner raus. Protokoll eines historischen Mittwochs. Von meinen Kollegen Sara Sievert und Johannes Bebermeier.
Donald Trump hat das Weiße Haus zurückerobert. Was bedeutet das für die USA und den Rest der Welt? Historiker Volker Depkat ist höchst besorgt, im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke analysiert er die Lage.
Zum Schluss
Die Leiden des Captain Haddock aus "Tim und Struppi", Symbol der schlimmen Mittwoche. Selten so angebracht wie heute (gilt ausnahmsweise auch am Donnerstag).
Morgen schreibt Ihnen wieder Florian Harms.
Kommen Sie gut durch den Tag,
Ihr Daniel Mützel
Politischer Reporter im Hauptstadtbüro
Twitter: @DanielMuetzel
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Mit Material von dpa.
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