Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das scheint die Regierung zu vergessen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
da haben Sie aber Glück, dass Sie bei t-online heute noch Artikel lesen können. Würden wir es so halten wie die meisten Kindertagesstätten, wäre die Redaktion im Sommer einfach drei Wochen dicht. Nachrichten? Ach, wird schon nichts groß passieren. Soll sich die Welt mit ihren Ereignissen einfach mal zurückhalten.
Klingt absurd, oder? Dass Kitas mehrere Wochen im Jahr schließen, ist hingegen völlig normal. Müssen die Eltern eben Urlaub nehmen, um die Zeit zu überbrücken. Ach, nee, Moment, so viel Urlaub hat ja kein Mensch. Hm. Dann halt ab zu Oma und Opa. Die helfen doch auch immer so gut aus, wenn die Betreuungszeit endet, Mama und Papa aber Spätdienst haben. Ach so, die Großeltern gehen selbst noch arbeiten? Dann, äh, haben wir jetzt ein Problem.
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Meine Mutter löst dieses Problem seit heute so: Sie als Großmutter nimmt Urlaub, um die zwei Enkeltöchter zu betreuen. Dieses Kinderferienprogramm läuft so lange, bis der Teilzeitjob meiner Schwester am frühen Nachmittag endet und sie ihre Töchter wieder übernehmen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch: Meine Mutter verbringt sehr gerne Zeit mit ihren Enkelinnen und es gibt gute Gründe, warum das überarbeitete Kita-Personal den Laden nicht rund um die Uhr am Laufen hält. Trotzdem zeigt das Beispiel, dass die Politik zu kurz denkt, wenn sie fordert, den Arbeitskräftemangel mit mehr Leistungsbereitschaft zu bekämpfen.
Steueranreize für Überstunden
"Damit sich Mehrarbeit auszahlt, werden Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuer- und beitragsfrei gestellt", heißt es im Papier der Bundesregierung zur Wachstumsinitiative. Wer ohne Tarifvertrag arbeitet, soll ab der 41. Wochenarbeitsstunde belohnt werden. Mit anderen Worten: Überstunden sollen für Vollzeitkräfte attraktiver werden und damit nach dem Willen der Ampel künftig öfter vorkommen. Auch für Beschäftigte in Teilzeit plant die Ampelkoalition ein Goodie: Zahlt der Arbeitgeber eine Prämie, wenn sie ihre Arbeitszeit ausweiten, soll auch das steuerlich begünstigt werden. Doch so einfach funktioniert es nicht.
Denn was die Bundesregierung bei ihren Anreizen zu vergessen scheint: Das größte Potenzial schlummert in der Erwerbstätigkeit von Frauen. Und denen wird es noch immer systematisch schwer gemacht, mehr Stunden zu arbeiten. Dabei ist es sogar genau das, was viele von ihnen wollen. "Frauen mit Kindern unter zwölf Jahren wünschen sich eine durchschnittliche Arbeitszeit von 20 bis 30 Stunden pro Woche, Frauen mit Kindern über zwölf Jahre rund 36 Stunden, also nahezu eine Vollzeitbeschäftigung", schreibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Gleichzeitig wollten viele Männer in Vollzeit weniger Stunden arbeiten oder gar auf eine Viertagewoche umsteigen. Passt doch eigentlich perfekt zusammen.
Trotzdem leben die meisten Deutschen ein Familienmodell, das sie gar nicht wollen. Der Mann bringt als Hauptverdiener das Geld nach Hause, die Frau verdient hinzu, erledigt dafür aber deutlich mehr Arbeit im Haushalt. Nur 40 Prozent finden diese Aufteilung laut einer aktuellen DIW-Studie ideal, 60 Prozent der westdeutschen Familien mit kleinen Kindern leben sie aber. Ein Missverhältnis, durch das dem Staat ebenjenes wirtschaftliche Potenzial entgeht, das er mit seiner Wachstumsinitiative heben will.
An der Wurzel ansetzen
Etwa neun Millionen Frauen arbeiten aktuell in Teilzeit. Würden die künftig nur zwei Stunden mehr pro Woche arbeiten, so rechnet es die Jobplattform Indeed vor, kämen für ganz Deutschland jeden Monat 72 Millionen zusätzliche Arbeitsstunden zusammen. Hier sollte die Ampelkoalition ansetzen, statt sich mit steuerfreien Zuschlägen auf Überstunden und einer staatlich subventionierten Prämie für Teilzeitkräfte neue Probleme selbst zu schaffen.
- Neues Problem Nummer eins: Arbeiten Männer in ihren Vollzeitjobs demnächst noch länger, kommen Frauen erst recht nicht aus der Teilzeitfalle heraus. Denn dann bleibt noch mehr der sogenannten Care-Arbeit, also etwa Kinderbetreuung und Aufgaben im Haushalt, an den Frauen hängen. Ihr Spielraum für mehr Erwerbsarbeit wird kleiner.
- Neues Problem Nummer zwei: Sollten es Frauen doch irgendwie schaffen, ihre Stunden im Job auszuweiten und dafür die geplante Prämie zu kassieren, verschenkt der Staat doppelt Geld. Denn mit dem sogenannten Ehegattensplitting hat er bereits steuerlich gefördert, dass Frauen in Teilzeit verharren, nun will er dieses hausgemachte Problem lösen, indem er steuerlich fördert, dass Frauen mehr arbeiten.
Womit wir auch schon bei einer der echten Lösungen wären, mit denen Deutschland sein Arbeitskräfteproblem besser in den Griff bekommen könnte: der Reform des Ehegattensplittings.
Altes Rollenmodell wird gefördert
Zwar trägt die Ampelkoalition mit der Abschaffung der Steuerklassen 3 und 5 dazu bei, dass sich die Steuerlast in einer Partnerschaft künftig gerechter verteilt und Frauen daher monatlich deutlich mehr netto bleibt, wenn sie ihre Arbeitszeit erhöhen. Warum das so ist, können Sie hier nachlesen. Diese Steuerklassen-Reform ist gut und richtig. Trotzdem bleibt es dabei, dass jene Paare am stärksten Steuern sparen, in denen ein Partner – in der Regel der Mann – besonders viel verdient und der andere – in der Regel die Frau – besonders wenig.
"Das ist nicht nur ungerecht, sondern führt dazu, dass viele Frauen sagen: Mehr arbeiten lohnt sich nicht, dann bleibe ich lieber in Teilzeit oder ganz zu Hause. Genau das aber können wir uns als Volkswirtschaft nicht leisten", sagte die Ökonomin und Vorsitzende des "Rats der Wirtschaftsweisen", Monika Schnitzer, erst vor wenigen Tagen im Interview mit t-online. Ganz abschaffen lässt sich das Ehegattensplitting zwar nicht, das wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, es spricht jedoch rein rechtlich nichts dagegen, es auf ein Minimum zu beschränken.
Reform brächte dem Staat höhere Einnahmen
Wie das aussehen könnte, haben wiederum die Wirtschaftsweisen schon 2021 in einem Arbeitspapier gezeigt: Wie beim sogenannten Realsplitting, das für Geschiedene gedacht ist, um den Unterhalt von der Steuer absetzen zu können, könnten auch Verheiratete im Prinzip getrennt voneinander besteuert werden. Dabei dürfte der besserverdienende Partner aber maximal 13.805 Euro pro Jahr auf den anderen übertragen. Sein zu versteuerndes Einkommen sinkt also um diesen Betrag, während das des anderen in gleicher Höhe steigt. Das wäre allerdings nur so weit möglich, bis beide – wie beim bisherigen Ehegattensplitting – fiktiv die Hälfte des gemeinsamen Einkommens beisteuern. Es gäbe also weiter Steuervorteile für Paare, aber diese wären der Höhe nach begrenzt. Anders gesagt: Vor allem Menschen mit höheren Einkommen müssten mehr Steuern zahlen.
Da schrillen natürlich die Alarmglocken bei allen Liberalen. Steuererhöhungen wird es mit der FDP nicht geben, das hat Finanzminister Christian Lindner gerade erst wieder betont. Besser wäre es in diesem Fall dennoch.
Bündel an Maßnahmen nötig
Aber eine Reform des Ehegattensplittings ist ohnehin nicht die einzige Maßnahme, die es braucht, damit Frauen häufiger und länger arbeiten können. Nötig sind außerdem:
- mehr Kindergartenplätze und längere Betreuungszeiten,
- eine Reform des Elterngelds, bei der beide Eltern den gleichen Anspruch von jeweils sechs Monaten Elternzeit haben und diesen nur in begrenztem Umfang auf den Partner übertragen können,
- eine Reform der Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenkasse,
- eine Reform der Minijobs,
- geringere Kürzungen, wenn Teilzeitkräfte, die staatliche Leistungen erhalten, ihre Arbeit ausweiten,
- und bessere Möglichkeiten, auch in Teilzeit Karriere zu machen, sodass mehr Männer diesen Weg einschlagen und Frauen im Gegenzug ihre Stunden stärker erhöhen können.
Es gäbe also genug Baustellen, um die sich die Politik zuerst kümmern sollte, bevor sie mit Steuerbefreiungen flickschustert. Doch wie immer gilt wohl: Die umfassende Reform würde zwar mehr bringen, ist politisch jedoch nur schwer umzusetzen.
Was steht an?
Bewerbungsfrist endet: Nach der historischen Schlappe bei den britischen Parlamentswahlen suchen die Tories des bisherigen Premierministers Rishi Sunak einen neuen Chef. Bis heute können sich Kandidatinnen und Kandidaten dafür melden. Fünf haben sich bereits gefunden, darunter eine Frau: die frühere Innenministerin Priti Patel, der ehemalige Innenminister James Cleverly, die Ex-Staatssekretäre Tom Tugendhat und Robert Jenrick sowie der ehemalige Arbeitsminister Mel Stride.
Bekommen Doch-Nicht-Urlauber Geld zurück? Der Europäische Gerichtshof entscheidet heute darüber, ob der Insolvenzschutz bei Pauschalreisen auch dann greift, wenn Reisende vor der Pleite eines Reiseveranstalters wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände vom Vertrag zurückgetreten sind. So hatten es viele Verbraucher während der Corona-Pandemie getan, nach den Rücktritten wurden die Reiseveranstalter insolvent. Die Kläger wollen nun, dass ihnen die Insolvenzversicherer der Unternehmen den Reisepreis erstatten.
Auch im Sommer dringend nötig: Blutspenden ist zu jeder Jahreszeit lebenswichtig, bei Hitze scheuen aber viele davor zurück. Das Deutsche Rote Kreuz will dem begegnen und startet heute die nach eigenen Angaben größte Blutspendeaktion Deutschlands im Erlebnispark Tripsdrill in Baden-Württemberg. Auch prominente Unterstützung ist dabei: Schlagersängerin Andrea Berg wird mit ihrem Mann Blut spenden.
Ohrenschmaus
Keine Sorge, hier geht es nicht mit Andrea Berg weiter. Stattdessen blicke ich schon mal freudig auf das kommende Wochenende: Da werde ich mich nämlich auf dem "Green Juice"-Festival in Bonn bestens von diesen Herren unterhalten lassen.
Das historische Bild
Ein besonderes Ziel hatten sich die Bomber im Zweiten Weltkrieg ausgesucht, ihre Waffen waren speziell dafür entwickelt worden. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Kaum Zeit durchzuatmen: Für deutsche Polizisten steht nach der EM die nächste große Einsatzlage an. Olympia im Nachbarland. Es gibt jedoch auch Hindernisse, berichtet mein Kollege Julian Fischer.
Die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr sind 2027 aufgebraucht. Und dann? Der Ökonom Moritz Schularick plädiert für ein erheblich größeres Sondervermögen – und erklärt im Interview mit meinen Kollegen Frederike Holewik und Florian Schmidt, warum wir uns das nicht nur leisten müssen, sondern auch können.
Wird für Rentner bei der Steuer bald vieles leichter? Eine Expertenkommission schlägt vor, Rentenzahlungen direkt mit einer Steuer zu belegen. Was das für Sie bedeuten würde, habe ich hier zusammengefasst.
Zum Schluss
Manchmal ist es besser, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren.
Ich wünsche Ihnen einen fokussierten Start in die neue Woche!
Herzliche Grüße
Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
X: @c_holthoff
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Mit Material von dpa.
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